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Big Fish. Foto: Lioba Schoeneck
Big Fish. Foto: Lioba Schoeneck
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Vom Zauber allen Erzählens – Umjubelte Erstaufführung des Musicals „Big Fish“ in München

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Vater-Sohn-Probleme, Sterben des Vaters, späte Annäherung des Sohnes, Fortspinnen der Tradition in der typischen Kleinstadtfamilie des Mittleren Westens der USA – eher kein Musical-Stoff. Doch zum 20jährigen Bestehen der Musical-Ausbildung an der Theaterakademie August Everding wurde die europäische Erstaufführung dieses Stoffes zu einem fulminanten Theatererlebnis.

August Everding ging nach seinen Opernproben an der New Yorker Met liebend gerne in ein Broadway-Musical. Die Ausbildung des Darsteller-Typus, der Spiel-Gesang-Tanz vereint, auch in Deutschland war ihm ein Anliegen  - und so feierte der Studiengang Musical an der nach ihm benannten Theaterakademie nun sein 20jähriges Bestehen… und das auch noch auf der großen Bühne des von Everding „geretteten“ Prinzregententheaters.

Doch Everding durfte – neben National-, Gärtnerplatz- und Residenztheater - kein viertes Staatstheater in München etablieren: an der technischen Ausstattung musste deutlich gespart werden. Seither wurde zwar immer wieder nachgerüstet, aber die theatralischen Möglichkeiten bleiben begrenzt.

Nichts davon, vielmehr fulminanter Theaterwirbel durch das zum Jubiläum engagierte Profi-Team Andreas Gergen (Regie), Danny Costello (Choreografie), Sam Madwar (Bühne und Projektionen), Ulli Kremer (Kostüme) – und das „Big-Fish-Orchestra“ unter Tom Bitterlich. Speziell Regisseur Gergen und Ausstatter Madwar gelang es, Bühnenzauber zu entfachen. Der Weizenfeld-Zwischenvorhang mit dem großen Goldfisch öffnete sich mit einem fast bühnengroßen Hausausschnitt, eine Spielgasse dahinter stand die Hausfassade der Familie Bloom, die sich dann wieder zu einem Spielraum mit wechselnden Schauplätzen öffnete. Im als „hautnahe“ Spielfläche bis an die erste Parkettreihe überbauten Orchestergraben senkte sich vorne ein Ring als Fluss und mystischer Abgrund und am Ende auch als Grab. Bretterkisten bildeten Hindernisse, Grundstücksmauern, Veranstaltungspodien - und sie öffneten sich zauberhaft mit Spielzutaten. Doch den Hauptanteil der Bühnenverwandlung lieferten Madwars Projektionen: Waldromantik, Abflug nach New York, Naturidyll, Soldaten-Camp mit kesser Truppenbetreuung, Kleinstadtfest, Kranken-Intensivstation, Überschwemmung – alles in perfekten, schnellen Übergängen technisch erstklassig, dramaturgisch sinntragend, visuell reizvoll - Ergebnis: Nur erzählte Welten wurden „Bühnenrealität“.

Temporeich und genau getimt ließ Regisseur Gergen darin ein reines Studentenensemble wirbeln, wieder innehalten oder differenziert agieren und Choreograf Costello mal jugendlich tanzen, mal Cheer-Girls wuseln, mal Waldhexen drohen, mal Country-Dance stampfen, mal kess steppen – alles aber ohne Überforderung so gut einstudiert, dass nie ein Hauch von „Grenzen einer Studentenaufführung“ im Raum schwebte.

Wofür das alles? Sohn Will leidet unter den blühenden Erzählfantasie von Vater Edward Bloom: womöglich ein ausgewanderter Nachfahre von James Joyces Leon Bloom im alle Welten umfassenden Roman „Ulysses“. Nahezu jedes Stichwort greift Edward auf – und spinnt es zu einer fantastischen Geschichte aus, ob Hexenbegegnung, Jugendliebe, Freundschaft mit einem Riesen, Zirkuswunderwelt, Militärheldentat, Stadtrettung oder lebenslanges Liebesglück mit Ehefrau Sandra. Dramaturgisch reizvoll führt John Augusts Libretto dabei vor, wie sehr Sohn Will immer wieder in die Fantasiewelten des Vaters hineingezogen wird: er steht plötzlich als Junge mehrfach neben dem damals jungen Vater, erlebt als Kind Abenteuer mit ihm, wehrt sich als junger Rationalist gegen allzu wilde Erfindungen – und mehrfach steht der sterbens krebskranke Vater entzaubert da… bis Will dessen alle Kleinbürgerlichkeit überwindende Botschaft versteht: „Sei der Held deiner Geschichte“ – und dies nach der Beerdigung des Vaters prompt in der Schlussszene beim Familienpicknick mit seinem kleinen Sohn fortspinnt.

Diese mit Literaturanspielungen und Wortwitz turbulent zwischen realer und fiktiver Welt dahinsprudelnde Handlung ist gewürzt mit guten Songs und stilistisch mit den Bühnenwelten wechselnder Musik von Andrew Lippa – wohltuend, weil nicht dröhnend laut ausgesteuert – etwa gekonnt vom Band zugespielt? Nein, mal dezent, mal fetzig musiziert vom hinter der letzten Bühnenwand postierten „symphonischen Big-Band-Orchester“ unter Tom Bitterlich. Begeisternd souverän wechselte Benjamin Oeser wiederholt vom kranken Vater zum abenteuerlich optimistischen „Big Fish“ im Ozean aller Erzählungen. Matias Lavall gelang der anfangs leidend bodenständige, dann um Verständnis bemühte Sohn Will überzeugend. Und über Mutter Sandra (Theresa Weber) im Kontrast zur sexy Hexe und Jugendliebe Jenny (Julia-Elena Heinrich) und Wills vermittelnder Ehefrau Josephine (Wiebke Neulist) müssten auch die über zwanzig weiteren, durchweg gut gezeichneten Darsteller aufgeführt werden: kein Bruch zum einzigen Profi, dem Zirkus-Artisten und geheimnisvollen „Nixerich“ David Pereira. Szenenbeifall und frühe Bravo-Rufe, Staunen in den Pausengesprächen, am Schluss Jubel von Staatstheater-Format – die Musical-Szene kann sich auf diesen hochprofessionellen „Nachwuchs“ freuen.

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