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Die Vernichtung. v.l.n.r.: Deleila Piasko, Lukas Hupfeld, Sebastian Schneider, Jonas Grundner-Culemann. Foto: © Birgit Hupfeld
Die Vernichtung. v.l.n.r.: Deleila Piasko, Lukas Hupfeld, Sebastian Schneider, Jonas Grundner-Culemann. Foto: © Birgit Hupfeld
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Von Loops und musikalischer Körperverletzung – Tendenzen szenischer Musik beim jüngsten Berliner Theatertreffen

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Den von einer Jury ausgewählten Produktionen für das diesjährige Berliner Theatertreffen ist eine Befreiung von den Texten vorgegebener Spielvorlagen gemeinsam – so etwa dem Verzicht auf Tschechows originale Dialoge bei den gleichwohl als Tschechow-Stück angekündigten „Drei Schwestern“ –, kombiniert mit musikalischen Loops und einer die Grenze der Körperverletzung wiederholt überschreitenden Lautstärke live erzeugter oder vornehmlich aus Konserve eingespielter Musikstücke.

„Die Borderline Prozession“

Als Versuch einer Ersatzreligion mit dröhnender Musik von Mozart bis Mahler erwies sich das Stück „Die Borderline Prozession“, mit dem Untertitel „Ein Loop um das, was uns trennt“ von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin: eine Wiederkehr des Gleichen als artifizielles Rundumtheater. Mit einer Prozession aller Beteiligten mit rockigem Gesang („In A Manner of Speaking“ der Gruppe Tuxedomoon), begleitet von zwei Trompeten, begann jeder der drei Teile des gut dreistündigen Abends. Jenes Allerheiligste, dem diese Prozession folgt, ist ein golden gewandeter, auf einem Wagen gezogener Kameramann (Jonas Schmieta). Gottes Kameraauge sieht Alles. Und daher müssen die 23 Darsteller, um bei den permanenten Rundfahrten des Kameramanns überhaupt gesehen zu werden, immer wieder dasselbe tun – die permanente Wiederkehr ist ein Mittel des frühen Tanztheaters. In Michael Sieberock-Serafimowitschs Szenerie im Retro-Look wird nur selten gesprochen (wenn, dann mit Mikroport), dafür wird das Publikum permanent bedröhnt mit Texten und einer zu lauten Musik, teilweise live produziert von T.D. Finck von Finckenstein – um von der intendierten Weihe des Regisseurs Kay Voges unterdrückt werden zu können. 

Drei große Screens auf beiden Seiten der Raumanordnung zeigen dem Zuschauer – wie aus den Theaterarbeiten Frank Castorfs bekannt – auch das, was auf der ihm jeweils unsichtbaren Seite, also gegenüber und auf den Querseiten der Versuchsanordnung gerade passiert. Teilweise werden die live rezitierten Texte ebenfalls die Screens projiziert, die ersten Tage der Genesis, Dante, Nietzsche, Deleuze, Roosevelt und Hannah Arendt. Auch der Fußboden in der Halle vibriert unter den Bässen der Musik von Bach, Mozart, Brahms, Adams, Bowie, Talking Heads und insbesondere von Mahlers Zweiter.

Im zweiten Teil sind fast alle Darsteller_innen als Lolitas kostümiert, die sich zu Textbrocken von Jonathan Meese betont dümmlich gerieren. Das göttliche Kameraauge wird im Laufschritt um die Szenerie gefahren. Ein Korpulenter und seine Frau in einem Bushaltestellenhäuschen stimmen mit ein in den Schluss von Mahlers überlaut dröhnender Auferstehungssymphonie, während die Lolitas bei der Trauerprozession immer wieder mit der Leiche Napoleons an Ecken und Wände der Innenräume rempeln.

„Real Magic“

Auch beim britischen Theaterkollektiv Forced Entertainment, einer der international gefragtesten freien Gruppen, liegt der theatrale Hauptreiz in der Wiederkehr des Gleichen. Die gesprochenen Texte füllen kaum eine DIN A 4-Seite, bei der Spielbehauptung einer TV-Show mit eingeblendeten Lachern und Applaus eines fiktiven Studio-Publikums. Anderthalb Stunden lang versuchen die drei Darsteller_innen in stetem Rollenwechsel zwischen Talkmaster und Kandidaten jenen Begriff zu erraten, den der Dritte gerade denkt. Diese gesteigerten Übungen für Schauspieler lassen an Samuel Becketts Satz vom „Immer wieder scheitern, immer besser scheitern“ denken.

Die zur Truppe gehörende Geigerin Aisha Orazbayeva mit ihren ungewöhnlichen Spieltechniken tritt in diesem Stück nicht in Persona auf; aber das Programmblatt benennt das Grave aus Georg Philipp Telemanns „Fantasia Nr. 1 in B-Dur“ in Orazbayevas Interpretation als Musik des Abends: drei Personen über dem eigenen Abgrund, deren Tristesse vergeblicher Versuche, sich aus bewährten Mustern zu lösen, in der Traurigkeit eines kontrarhythmischen Hühnertanzes kulminiert.

„Traurige Zauberer“

Die Genrebezeichnung von Thom Luz’ Stück ist eine bewusste Irreführung: in der „stumme[n] Komödie mit Musik" über berühmte Zauberer der Vergangenheit wird gesprochen und gesungen, auf Deutsch, Französisch und Englisch.

Aufgrund von permanenten Loops, inklusive zugespielten Publikums-Lachern und Zwischenapplaus, war nicht auszumachen, was von den Musiken auf den sechs Tasteninstrumenten an den vier Seiten des Hauptbühnenraumes live gespielt wurde und was nicht. Immerhin exerzierten zwei veritable Pianisten die Kompositionen – vornehmlich Charles Ives, aber auch Johann Sebastian Bach, Claude Debussy, Ernesto Nazareth und Rodion Schtschedrin – hier zur „Hintergrundmusik“ erklärt und als eine Art Rummelplatzmusik eingesetzt. Dabei beruft sich der Aufführungstext auf Karlheinz Stockhausen, der in seiner frühen Zusammenarbeit mit einem Zauberer eine derartige Bühnenzauberer-Musik als ein Synchron-Gemisch von Blues und Boogie-Woogie zu produzieren versucht haben soll. Im zweiten Teil des pausenlosen, anderthalbstündigen Abends, wenn sich der vordem fast leere Bühnenraum immer mehr mit Gassen und Garderobetischen angefüllt hat, ist die Luft raus, nicht nur die aus den zuvor „zauberisch“ eingesetzten Nebelkanonen. Trauer macht sich breit – vielleicht auch dies als ein Hinweis auf Christoph Marthaler, an dessen Stil sich die Produktion des Schweizer Regisseurs Thom Luz auch im Einsatz von Musik deutlich orientiert.

Vielleicht funktionierte diese Produktion auf der Bühne des Mainzer Staatstheaters besser als auf der Bühne des Hauses der Berliner Festspiele; trefflicher ist sie, mit vielen Schnitten und Nahaufnahmen, in der 3sat – Aufzeichnung zu erleben (noch in der 3sat-Mediathek).

„Die Vernichtung“

Ein Foto der Uraufführungsproduktion der Berner Konzert Theaters von Olga Bachs „Die Vernichtung“ ist Titelbild des Gesamtprogramms beim Theatertreffen. Aber die neoparadiesische Idylle trügt ebenso, wie der Name des Theaters in die Irre führt. Übersteuerte Textübertragung und dröhnender Lärm aus der Konserve machen die knapp 90-minütige Aufführung zu einer Zumutung.

Es beginnt ebenso unfair wie abgedroschen: eine Scheinwerferbatterie, direkt auf Augenhöhe der Besucher, blendet in der Dunkelheit auf und löst erstes Schmerzempfinden der Zuschauer aus. Sogleich danach erfolgt die Attacke auf die Ohren: zunächst noch Brahms’ „Ein deutsches Requiem“, dann ein immer ohrenbetäubenderer Lärm als Technobeat. Beim Einlass wurden zwar optional Ohrenstöpsel ausgegeben, aber selbst damit und mit nachgedrückten Zeigefingern, ist die schmerzhafte Erschütterung des Körpers nicht zu verhindern.

Olga Bachs Dramentext, eigentlich für eine Gruppe am Küchentisch gedacht, verweist auf die Unmöglichkeit, in unserer Gesellschaft etwas verändern zu können. Er zielt auf das Bewusstwerden der Gefährdung Aller angesichts globaler Terror-Anschläge, jenseits des Glaubens, unter einer Kristallkuppel geschützt zu sein. Dafür hat Ersan Mondtag als Ausstatter und Regisseur in Personalunion einen neoparadiesischen Raum mit Birke und Sträuchern, Teich und drei Statuen, sowie zwei ausgestopften Wildsäuen geschaffen, zunächst hinter einem dichten Paraffin-Nebel verhüllt. Darin eine Frau und drei Männer, in farblich von einander abgestuften Nacktkostümen mit großen, baumelnden Genitalien. Unter Drogengenuss ist diese Nachachtundsechziger-Generations-Gruppe gelangweilt und debattiert Nonsens. Ein junger Hund wird im Wasser erstickt – doch die Handelnden agieren nicht. Zu ringsum, auch im Zuschauerraum, eingespielten Urwald-Tierlauten (Florian Mönks’ „Wald Soundscape“), deklamieren Deleila Piasko, Jonas Grundner-Culemann, Lukas Hupfeld und Sebastian Schneider als eine (so die Ankündigung) „Gemeinschaft unterbeschäftigter Gutmenschen“. „Urbanen Stress verursachen“ sie hier in erster Linie mikroportverstärkt.

Die bisweilen an Kroetz und Fassbinder gemahnenden Texte, inklusive totalitärer Tendenzen, sind aufgrund der Übersteuerung kaum zu verstehen, aber nachzulesen und im Kopf rückzuübersetzen durch die links und rechts von der Bühne projizierte englische Übersetzung. Die Darsteller bewegen sich, wenn überhaupt, in sprunghaften Handlungsmustern und betreiben endlose, technisierte Dauerficks in ungewöhnlichen Positionen. Schließlich tanzt ein „echter“ Nackter durch das Kunstparadies, baumelt mit seinem Gemächt vor den Nasen der ersten Reihe, stürzt sich in den Wassertümpel und besteigt eine der Wildsäue. Inzwischen ist es so laut geworden, dass die ersten jener Besucher, die den Stücktitel „Die Vernichtung“ beim Kauf der Karte nur metaphorisch verstanden hatten, fluchtartig den Zuschauerraum verließen.

Genau so laut wie zuvor der Technobeat von Jonas Grundner-Culeman ertönte am Ende dann nochmals Klassik: mit dem Marcia Funebre aus Beethovens Dritter kehrte Herbert von Karajan erneut zurück nach Westberlin. Trotz der Bezeichnung „Konzert Theater“, enthält die Aufführung keinerlei Live-Konzert-Elemente. Für Brahms und Beethoven wird auf Schallplatteneinspielungen mit den Berliner Philharmonikern zurückgegriffen.  Dann ein Buhsturm des musikalisch körperverletzten Publikums, wie er beim Theatertreffen unüblich ist.

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