Der Komponist und Dirigent Hans Zender, mit Bernd Alois Zimmermann in dessen letzten Lebensjahren eng befreundet und mit dessen Schaffen so vertraut wie kaum eine anderer, hat vor wenigen Jahren im Rahmen eines Portraitfilms über den 18 Jahre Älteren eine bedenkenswerte Einschätzung formuliert: Man könne, so Zender, erst jetzt allmählich die Bedeutung und den enormen Facettenreichtum von Zimmermanns Komponieren erkennen.
Für diese These spricht die im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich gewachsene Zahl an guten Aufführungen von Zimmermanns Werken. Und dies betrifft nicht allein die einst als „unrealisierbar“ etikettierte Oper „Die Soldaten“, die mittlerweile bereits bei fast allen führenden europäischen Opernhäusern inszeniert wurde, bis hin zur Mailänder Scala oder den Salzburger Festspielen, und die man mit Fug und Recht als eines der gewichtigsten Repertoirewerke des modernen Musiktheaters bezeichnen darf. Sondern Ähnliches gilt, trotz der ebenfalls fast durchgehend hohen aufführungstechnischen Anforderungen, auch für einen erheblichen Teil des sonstigen Schaffens. In deutlichem Widerspruch zur früher oft gehörten Behauptung einer strikten Reduzierung des Faktors Interpretation in Neuer Musik erlaubt dies den Blick auf ein fruchtbares Nebeneinander unterschiedlicher interpretatorischer Ansätze. Vor allem aber zeigt sich hierdurch etwas zu Zimmermanns Lebzeiten oft Übersehenes: wie sehr selbst die komplexesten Vokal- und Instrumentalstimmen in seinen Werken gerade dort, wo diese bewusst mit Momenten von Übertreibung agieren, von einem tiefen Ausdruckswillen motiviert sind. Zimmermann komponierte fast stets nach Maßgabe der von Heraklit formulierten Idee der „gegenstrebigen Fügung“. Dementsprechend sind viele seiner Werke nur im Spannungsfeld von starker Emotionalität einerseits und Zurückhaltung, Formstrenge oder gar Nüchternheit andererseits adäquat zu verstehen.
Wie aber wird man bei Aufführungen seiner Musik, die in wechselnden Mischungen Eingängiges und Enigmatisches enthält, am besten gerecht? Wenn der Komponist selbst den Ausführenden seiner Werke konkrete Hinweise gab, so bezogen sich diese interessanterweise vor allem auf die farbliche Seite sowie auf die oft ungewöhnliche Zeitgestaltung. So schrieb er an Hans Zender mit Blick auf sein Werk „Alagoana“: „So wäre ich Dir vor allem dafür dankbar, wenn Du das ganze Stück absolut unter den Gesichtspunkt der Farbe, Klangfarbe, stellst: Farbpunkte, Farbfäden, Farbklänge, Farbschichten, ja sogar ‚Farblinien‘. Mit anderen Worten: das ‚Melodische‘ ist völlig sekundär; es ist gewissermaßen ein in die einzelnen Linien sukzessiv aufgelöstes Klanggeflecht. […] Ab ‚con moto‘ werden verschiedene rhythmische Schichten (Zeitschichten) gleichzeitig ineinander geschachtelt: es soll damit der ‚Stillstand der Zeit‘ dargestellt werden.“ Mit diesen Worten ist Wichtiges gesagt, das für den interpretatorischen Umgang mit sehr vielen anderen Kompositionen Zimmermanns gelten kann – und einen Wegweiser auch für die hörende Auseinandersetzung mit ihnen.
Die seit etwa zwei Jahrzehnten Schritt für Schritt erfolgende Entdeckung des im März 1918 geborenen Komponisten, der sich im Jahre 1970, von psychischen wie gesundheitlichen Krisen gezeichnet, selbst das Leben nahm, hat außer mit der Aufführungspraxis jedoch auch mit Veränderungen im Musikdiskurs zu tun. Konkret gemeint sind hier die früher üblichen Verkürzungen und Einseitigkeiten des Schrifttums über Neue Musik. Dieses war jahrzehntelang in einem unguten, den Blick verstellenden Maße von jenen Abgrenzungsritualen zwischen verschiedensten ästhetischen Positionen beeinflusst, die seit den frühen 50er Jahren auch von vielen Komponisten gepflegt wurden. In manchen Teilen des Musikjournalismus, aber kaum minder in der Musikwissenschaft oder Musikpädagogik kam dabei jene prekäre Fixierung auf die Dichotomie zwischen Fortschritt und Restauration zum Zuge, die spätestens seit Theodor W. Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ salonfähig wurde. Solche oft von geschichtsphilosophischen Erwägungen grundierten Sichtweisen fehlt allzu oft der Sinn für die Vielfalt koexistierender künstlerischer Ansätze. Überdies sind sie immer wieder von einer kunstfremden Überschätzung der Bedeutung von Innovation oder gar des „Materialfortschritts“ gekennzeichnet. Erst in jüngerer Zeit machen sie mehr und mehr jener differenzierteren Sicht der neueren Musikgeschichte Platz, wie sie gerade Zimmermann, dem alle Lagerbildungen suspekt waren (und der wohl daher für sich selbst ausdrücklich eine Position „zwischen den Stühlen“ reklamierte), selbst stets forderte. Dadurch vermag die historische Bedeutung von Zimmermanns kompositorischem Schaffen – ähnlich wie auch die des Schaffens von Komponisten wie Olivier Messiaen oder Giacinto Scelsi – viel klarer hervorzutreten.
Aber das heißt auch, dass man heute längst nicht mehr wortreich erläutern muss, ob und inwiefern Zimmermann sich inmitten der manchmal von emphatischer Einseitigkeit geprägten Auseinandersetzungen, die bei den Ferienkursen in Darmstadt wie auch anderswo heftig geführt wurden, als Künstler mitunter unwohl fühlte. Zumal außer Frage steht, dass er der Erschließung neuer kompositorischer Möglichkeitsräume, die durch den künstlerischen Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte, grundsätzlich positiv gegenüberstand und ihr Wesentliches verdankt. Und zumal es ohnehin aus heutiger Sicht haltlos ist, von einer einheitlichen „Darmstädter Schule“ auszugehen.
Resonanzen aus anderen Kunstbereichen
Eine adäquate Beschreibung von Zimmermanns eigenen und oft eigenwilligen kompositorischen Ansätzen erfordert eine Weitung des Horizonts. Dazu gehört es, über die Grenzen des Musikbereichs und über das Materialimmanente hinaus auch auf Ereignisse und Entwicklungen in anderen Künsten zu blicken sowie auch verschiedenste kulturelle und geschichtliche Tendenzen oder Phänomene zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt grundsätzlich natürlich ebenso für viele andere wichtige Persönlichkeiten der neueren Musik: nicht bloß für John Cage oder Mauricio Kagel (bei denen nichtmusikalische Impulse längst geläufig sind), sondern sogar auch etwa für die Resonanzen aus anderen Kunstbereichen in der Musik von Pierre Boulez oder für die spirituelle Seite im Schaffen Stockhausens. Doch findet die oft diskutierte Erweiterung der Tradition absoluter Musik, die der Philosoph Harry Lehmann unlängst im Rekurs auch auf Zimmermann gar als „gehaltsästhetische Wende“ zu fassen suchte, in Zimmermanns Komponieren einen besonders vielfältigen und plastischen Ausdruck. Dies geschieht gerade dadurch, dass Zimmermann zwar am Werkcharakter festhielt, aber das Werkganze durch kühne Verschränkungen von Gattungen oder durch Elemente aus anderen Kunsttraditionen und Erfahrungszusammenhängen erheblich anreicherte oder gar aufsprengte.
Zu nennen sind hier die substanziellen Bezugnahmen zu künstlerischen Strategien und Denkweisen aus der Bildenden Kunst, aus verschiedensten Segmenten des experimentellen Theaters und aus dem Filmbereich, aber vor allem aus der modernen Literatur. Robert Schumanns erhellendes Diktum, er habe durch den Dichter Jean Paul mehr Kontrapunkt gelernt als durch Bach, ist auf den in mancher Hinsicht wesensverwandten Komponisten Bernd Alois Zimmermann und dessen moderne Auffassung von Polyphonie übertragbar: Die beiden Dichter James Joyce und Ezra Pound, berühmt für ihre höchst eigenwilligen Verknüpfungen widerstreitender Erfahrungen und Perspektiven, hat Zimmermann ausdrücklich seine „geistigen Väter“ genannt. Und in seinen Montagen, die auf höchst kreative Weise jenseits traditioneller Vorstellungen von Kohärenz und Logik operieren, werden die Joyce’sche Idee des „Bewusstseinsstroms“ und Pounds ebenso paradoxe wie erhellende „Zeitsprünge“ weitergedacht.
Vergleichbares lässt sich zudem auch über Impulse verschiedenster anderer Dichter sagen – wobei gerade das Thema „Zeit“, grundiert auch durch vielfältige philosophische Erkundungen, zu seinem zentralen wurde. Über diesen Aspekt von Zimmermanns Literaturbesessenheit schrieb der mit ihm befreundete Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll: „Ich glaube, […] dass er in der Literatur eine Entsprechung zu seiner […] Auseinandersetzung mit dem Problem Zeit als Element gefunden hat […] und dass er erreicht hat, dies in Musik auszudrücken, das, was […] in der Literatur auf verschiedene Weise verwirklicht war.“ Bölls Hinweis auf die Vielfalt künstlerischer Realisierungen der Zeit-Thematik trifft nicht allein auf die unmittelbar auf Literatur bezogenen Stellen von Zimmermanns Werken zu, sondern gilt für deren Perspektivenreichtum insgesamt. Es verweist zudem auf ihre gleichermaßen „philosophische“ wie elementare Seite.
Bernd Alois Zimmermanns selbst betonte in diesem Sinne sogar, dass er den Entwicklungen in Nachbarkünsten „stärkere Impulse als der zeitgenössischen Musik“ verdankte. Dies mag ein Stück weit auch Koketterie gewesen sein. Und dennoch ist dieser Satz überaus ernst zu nehmen. Denn seine Kernaussage – formuliert zu einer Zeit, in der das Reden über Musik meist viel zu immanent blieb – führt mitten ins Zentrum von Zimmermanns Ästhetik. Sein Interesse für die moderne Malerei etwa besitzt nicht bloß dann Relevanz, wenn seine Werke sich wie das auf Ives Klein verweisende Orchesterstück „Photoptosis“ – auf konkrete Bezüge zu bestimmten Arbeiten einlassen. Beispielsweise lässt sich Zimmermanns vielperspektivische Art des Umgangs mit Assoziationen, Anspielungen und Zitaten dann besser verstehen, wenn man sich grundlegende Einsichten der surrealistischen Kombinatorik des Malers Max Ernst bewusstmacht. Im Nachlass Zimmermanns findet sich ein Dokument dafür, eine Spur wie diese besonders ernst zu nehmen: ein großer, vom Komponisten mit vielen Notizen versehener Ausstellungskatalog zu Max Ernst. Gerade das Denken von Max Ernst steht, wie es der Kunsthis-toriker Werner Spies formulierte, „für eine zweite Form von Avantgarde, […] die durch den Rückgriff auf historisch bereits verfügbare Formen und Inhalte“ gekennzeichnet ist. Diese Einsicht, die ja auch für einen angemessenen Umgang mit Komponisten wie Igor Strawinsky, Alban Berg, Charles Ives und sogar auch Arnold Schönberg hilfreich ist, entspricht dem Selbstverständnis Bernd Alois Zimmermanns. Durch die Auseinandersetzung mit einem Künstler wie Max Ernst – wie auch mit verschiedensten anderen Persönlichkeiten aus diesem Bereich ist es erkennbar beflügelt worden.
Orientierung an den modernen Medien
Geschult wurde die kreative Einbindung von künstlerischem Fremdmaterial, die als eine Art „Markenzeichen“ Zimmermanns gilt, freilich auch durch seine im Vergleich zu allen genannten anderen Komponisten weitaus größere Orientierung an den modernen Medien. Zu nennen ist hier insbesondere seine jahrelange intensive Arbeit für die Kunstform des Hörspiels. Gewiss sollte man nicht unterschlagen, dass seine radiophonen Arbeiten im Wesentlichen in einer Zeit entstanden, in der die ARD-Rundfunkstationen manchen experimentellen Arten des künstlerischen Zugriffs auf Worte und Klänge noch eher skeptisch gegenüberstanden (worunter Zimmermann zunehmend litt). Trotzdem sind seine beiden groß dimensionierten Hauptwerke, die Oper „Die Soldaten“ und das „Requiem für einen jungen Dichter“, nicht zuletzt darin faszinierend eigenwillig, dass sie traditionelle Gattungen – Oper beziehungsweise Oratorium – mit der jeweils denkbar weit entfernten Kunstform des Hörspiels verschränken. Für Zimmermanns einzige fertiggestellte Oper heißt dies, was zuweilen übersehen wurde, dass für eine adäquate Realisierung auch die Tonbandmontagen an deren Schluss unverzichtbar sind.
Gemeint ist mit alledem die von Zimmermann selbst „pluralistisch“ genannte Art des Komponierens. Diese bezeichnet die Schichtung bestimmter Abläufe ebenso wie die Integration musikalischer oder außermusikalischer Elemente. Doch meint sie in vielen Werken zudem eine eigenwillige Kombinatorik semantischen Materials, die ebenso auf pointierten, nicht selten überraschenden Verknüpfungen sowie auf tief verrätselten Akzenten basiert. Solche Verknüpfungen erstrecken sich freilich nicht allein auf Textbezogenes, sondern auch auf die von höchst unterschiedlichen Sinnsetzungen durchzogenen rein instrumentalen Arbeiten.
Noch ein weiterer Aspekt ist für Zimmermanns Musikdenken wichtig: Mit erkennbaren Parallelen zur filmischen Ästhetik etwa Jean-Luc Godards, für die sich Zimmermann ebenfalls interessierte, sind die von tiefen Widersprüchen sowie semantischen Überschüssen geprägten Konstellationen seiner Werke immer wieder dazu angetan, auf die eigene Zeit zu reagieren. In einzelnen Werken schließt dies sogar politische Akzente ein – bis zur Reflexion über das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Unbekümmertheit und Geschichtsbewusstsein, das die Zeit um 1968 prägte. Das gilt namentlich für das „Requiem“, das auch in heutigen Aufführungen wie kaum ein anderes Musikwerk dazu geeignet ist, die Heterogenität und Abgründigkeit der kulturellen Gesamtsituation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen. Dies freilich hat damit zu tun, dass die darin entfaltete komplexe Mischung unterschiedlicher klanglicher und semantischer Elemente nicht bloß zur hörenden Entzifferung einlädt, sondern immer wieder auch hochexpressiv ist. Diese Seite von Zimmermanns Schaffen, die beim Hören gerade der groß besetzten Werke besonders deutlich hervortritt, ist vielleicht am besten mit jener Idee einer erhellenden Erschütterung zu fassen, die durch den Philosophen Jan Patoč-ka und teilweise auch bei Adorno formuliert ist. Dies schließt Irritationen durch den Gehalt der Werke ebenso ein wie nicht integrierbare Elemente in der Formgestaltung, die man als bewusst auskomponierte Unvereinbarkeiten bezeichnen kann. Und auch dies deutet auf einen der durchaus zahlreichen Grundzüge von Zimmermanns Musik, die fraglos auf Komponistinnen und Komponisten der nachfolgenden Generationen Einfluss ausübten.
Im Sommer erscheint eine Monographie des Autors über Bernd Alois Zimmermann in der Reihe „Große Komponisten und ihre Zeit“ im Laaber Verlag.
Lesen Sie zum Zimmermann-Jubiläum auch die Buchrezension auf Seite 14 und die Kolumne „Uraufführungen“ auf Seite 44.