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Vormittägliches Sinfoniekonzert im Berliner Theater Karlshorst. „Sonntagskonzert für die ganze Familie“ in einem Saal, wo sich Sowjetstern und Lyra über dem Bühnenportal verbünden. Dies war, bis zum Abzug der Truppen das Haus der sowjetischen, dann der russischen Offiziere der Berliner Garnison, heute betrieben von einem ABM-unterstützten Verein. Auf den Notenpulten Schuberts Ouvertüre zur „Zauberharfe“ zwischen Ernst und Heiterkeit, geradezu strahlend endend, dann als Rarität Luigi Giannellas Concerto lugubre für Flöte und Orchester mit poetischem und rasch voranstürmendem Solo (Gabor Deak), Bizets 2. „Carmen“-Suite voller Kontraste und schließlich das Ebenmaß von Mozarts Jupitersinfonie. Das alles klingt ausdrucksvoll, homogen. Dabei ist der Klangkörper namens H.M.H. an diesem Tage erst 12 Tage alt und es ist schon der dritte Konzerttermin mit nahezu identischem Programm.
Es handelt sich um ein neues Orchester – erstaunlich in Berlin, wo es derer bereits acht gibt, die konzertieren, und von denen eines, die Berliner Symphoniker mit ihrem reichen Angebot für Jugend- und Familienpublikum, nur durch vielfältige Solidarität und Proteste an der Abwicklung vorbeiging.
Während leere Kassen Kulturabbau befördern beziehungsweise androhen, findet sich eine andere, ebenfalls öffentliche Hand, die ein neues Orchester aus dem Boden stampft. Eine Initiative der Senats-Arbeitsverwaltung, angeregt von der musisch aufgeschlossenen Bundesfrauen- und Familienministerin Christine Bergmann, und des Arbeitsamtes Berlin-Ost.
H.M.H. heißt Hohenschönhausen, Marzahn, Hellersdorf – drei einstige nach und nach eingemeindete Dörfer am Rande Berlins, die während der letzten DDR-Jahre zu großen Satellitenstädten wuchsen und heute 440.000 Einwohner zählen; eine Großstadt für sich. Da scheint ein eigener Klangkörper durchaus legitim. H.M.H. nennt sich zunächst einmal ein als Kuratorium eingetragener Verein, der schon ein Dutzend Schauspieler beschäftigt, die neben „Maria Stuart“ (nach Schiller) jüngst Goldonis „Impresario von Smyrna“ boten.
Und der Verein hat einen tüchtigen Impresario: Lutz Daberkow, Nachwende-Intendant von Halberstadt. Er strebt neben der Schauspieltruppe und dem H.M.H. Orchester außerdem ein kleines Sängerensemble an, um später die Aufführung von Musicals und Kammeropern zu ermöglichen. Vorsorglich hat er dafür bereits einen zweiten Dirigenten, Jens Hofreiter (Ex-Thomaner, dann Kapellmeister des Theaters der Stadt Brandenburg, dann arbeitslos) verpflichtet. Chefdirigent des 49 Musiker starken H.M.H. Orchesters ist Fred Buttkewitz (vormals Chefdirigent der Neubrandenburger Philharmonie, dann des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, Gastdirigent im Leipziger Gewandhaus und beim Kroatischen Rundfunk, dann arbeitslos). So wie den hervorragenden Flötisten Gabor Deak will Buttkewitz seine Solisten künftig aus den eigenen Reihen des Orchesters besetzen. Die Musiker sind motiviert und qualifiziert, waren sie doch vormals in anerkannten in- und ausländischen Orchestern tätig. Vorwiegend kommen die Musiker aus dem Berliner Raum, dem geschlossenen Metropoltheater, dem aufgelösten Rundfunkorchester, aus Senftenberg und Cottbus, aber auch aus München. Die ausländischen Orchestermitglieder musizierten zuvor in Orchestern in St. Petersburg, Budapest und Bukarest. Findet jemand ein festes Engagement, denn dies ist der „zweite Arbeitsmarkt“ mit Option der Verlängerung auf drei bis maximal fünf Jahre, gibt es hinreichend Neubewerber zum Nachrücken.
Die Finanzierung ist äußerst knapp. Neben der Bezahlung der Musiker sind aus Arbeitsfördermitteln die üblichen Sachausgaben in den verbliebenen Räumen des früheren „Erich-Weinert-Ensembles der Nationalen Volksarmee“, dem heutigen Biesdorfer Tal, zu bestreiten. Das Marzahner Bezirksamt und der soziokulturelle Tap-Trägerverein unterstützen das Orchester mit ihren bescheidenen Möglichkeiten. Tantiemen sollen aus Eintrittsgeldern – meist nur 15 Mark – bezahlt werden und das Orchestermaterial konnte von der Jenaer Philharmonie und den Theaterorchestern aus Erfurt und Jena geliehen werden.
So erfreulich die Sache für die Betroffenen und das potentielle Publikum ist, wirft sie doch einige Fragen auf: Ist dergleichen auch die Zukunft für andere Musiker? Welche Perspektive hat ein solches Orchester angesichts der Schließung zweier ABM-Orchester (Cottbus und Senftenberg) im Land Brandenburg? In Gefahr ist jetzt sogar die vom Land finanzierte Brandenburgische Philharmonie Potsdam, die erst durch Fusion des Theaterorchesters und des DEFA-Sinfonieorchesters entstand, und dann zur Fusion mit dem Philharmonischen Staatsorchester Frankfurt/Oder vorgesehen war. Der Zusammenschluß ist jedoch ad acta gelegt.
Aber: Derzeit darf H.M.H., trotz manchen möglichen Auftrittsorts, nicht im Brandenburgischen spielen, wo es besonders nötig und wünschenswert wäre. Und dies bei der übergreifenden Existenz eines (!) gemeinsamen Landesarbeitsamtes für Berlin und Brandenburg. Geldnot und Bürokratie kontra Musen! Vieles an kultureller Substanz ist, zumal in den neuen Bundesländern, in Gefahr.