Der Spruch ‚Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten’ wird üblicherweise in moralischem Sinne gebraucht. Doch eigentlich bezieht er sich auf eine völlig natürliche Angelegenheit, und so wollen wir ihn hier auch verstehen. Sergiu Celibidache war eine so überragende Musikerpersönlichkeit, dass es für diejenigen Schüler, die ihn jahrelang begleiteten, so gut wie aussichtslos erscheinen musste, dem sich daraus ergebenden Anspruch jemals gerecht werden zu können. Und so ist es kein Wunder, wenn sie sich eigentlich alle noch auf viele Jahre hinaus nach seinem Tod nicht aus seinem Schatten lösen konnten. Allmählich setzte bei manchen die Erkenntnis ein, was es wirklich bedeutete, wenn er sagte: ‚Du musst es dir zu eigen machen.’
Einer der engsten und leidenschaftlichsten Schüler Celibidaches bis in die achtziger Jahre war der Katalane Jordi Mora. Als er mit dem Dirigieren begann, dauerte es nur noch wenige Jahre, bis er von seinem Mentor Abschied nahm und auf sich alleine gestellt seinen Weg suchte. Freilich blieb er den erlernten Prinzipien innerlich treu, wenngleich es einer langen Zeit des Reifens – und auch leidvoller Erfahrungen – bedurfte, um tatsächlich in die Lage zu kommen, allmählich all das umzusetzen, was eben weit über gewöhnliches Dirigentenhandwerk (das es ebenso braucht) hinausreicht.
Mora gründete vor zwanzig Jahren mit den verbliebenen – und mittlerweile nicht mehr so jungen – Mitgliedern seines Münchner Jugendorchesters die Bruckner Akademie München, mit denen er alljährlich eine ‚Osterakademie’ veranstaltete – eine intensive Probenphase mit abschließenden Konzerten. Die Gründung erfolgte nach einem tragischen Ereignis, als fünf der besten jungen Musiker seines Umfelds bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben kamen. Inzwischen trifft sich das Orchester zu zwei Arbeitsphasen pro Jahr, und das erarbeitete Repertoire umfasst u.a. Bruckners Symphonien Nr. 1-9 und eine Vielzahl großer symphonischer Werke von Bach, Haydn, Mozart, Schubert, Schumann, Wagner, Franck, Brahms, Bizet, Dvorák, Richard Strauss, Sibelius, Ravel, Strawinsky, Hindemith, Prokofieff, Schostakowitsch, Arvo Pärt und vielen anderen.
Das zwanzigjährige Bestehen des Orchesters fiel in diesem Jahr zusammen mit dem 100. Geburtstag von Sergiu Celibidache, und so war es für Mora und seine Mitstreiter, die heute zu 50 Prozent aus passionierten Amateuren und zu 50 Prozent aus Profis, darunter einer beträchtlichen Zahl Spanier, bestehen, eine Ehrensache, das Jubiläumskonzert seinem Andenken zu widmen, und dafür wählte man die Bruckner-Symphonie aus, die Celibidache als die ‚Krone der Symphonik’ bezeichnet hat: die Achte, die aufgrund des architektonischen Spannungsverhältnisses zwischen dem unerlösten Schluss des Kopfsatzes und der Auferstehung des Hauptthemas (als katastrophische Apotheose) unmittelbar vor der Coda des Finales als Ganzes einen bezwingenden energetischen Zusammenhang bildet wie kein anderes Großwerk der gesamten symphonischen Literatur.
Eine sehr ambitionierte Angelegenheit also, die dem Publikum im Herkulessaal der Residenz – dem trotz einer gewissen Überakustik für die klangliche Mannigfaltigkeit und Geschlossenheit des großen Orchesters nach wie vor geeignetsten Münchner Konzertsaal – vorgestellt wurde. Natürlich kann ein Orchester mit so vielen – zweifelsohne sehr guten – Laienmusikern, so intensiv sie auch geprobt haben mögen, hinsichtlich relativer Makellosigkeit der Klangerzeugung und besonders in den Momenten massiver Kraftentfaltung den renommierten Profi-Orchestern nicht das Wasser reichen. Doch dafür werden gewisse Schwächen an der Basis teilweise mehr als aufgewogen mit einer Aufmerksamkeit, gemeinschaftlichen Intensität und Hingabe, wie sie viele hartgesottenen Berufsmusiker nur noch schwerlich aufbringen wollen.
Die Musik war in den verschachtelten Details, der kontrapunktischen Auffächerung und Prioritätenverteilung, der suggestiven Realisierung des harmonischen Spannungsverlaufs, der Kantabilität der Phrasierung, der orchestralen Transparenz, der Verschmelzung innerhalb der opponierenden Gruppen, der delikaten Ausbalancierung von Holz, Streichern und Blech, der sinnfälligen Gegenüberstellung und Durchführung der kontrastierenden Charaktere, in der Verwirklichung der großen Form bestechend substanziell einstudiert. Darüber hinaus entfacht Mora in den rechten Momenten ein ekstatisches Feuer und versteht es, lange angelegte Steigerungen atmend und ohne Absackungen aufzubauen und ebenso die Phasen der Entspannung so zu strukturieren, dass keine Spur von Erschlaffen eintritt.
Alles Geschehen ist bei ihm von einer meist untrüglichen Phrasierung der Basslinie aus gelenkt. Und überdies, ein älterer Herr hat es so treffend formuliert, dass ich es gerne übernehme: „Das Orchester frisst ihm aus der Hand wie die Vögel dem heiligen Franz.“ Hinzu kamen Ausnahmeerscheinungen wie eine erst 17-jährige Paukistin, die mit einer Kraft, einem mitreißenden Schwung, einer feinabstimmenden Vollendung und einer Bewusstheit des Phrasierens spielte, wie wir das sonst allenfalls von Peter Sadlo gehört haben. Ungern hebe ich einen einzelnen Satz heraus, doch das Adagio war ganz besonders gelungen. Und wer beim Eintritt des ‚Todesthemas’ kurz vor dem Schluss der Symphonie nicht zutiefst ergriffen war, dürfte auch andernorts schwerlich aufzurütteln sein.
Mora hat in seinem Dirigat nichts unternommen, um sich äußerlich von dem, was wir von Celibidache gehört haben, zu unterscheiden. Er hat es zu seinem gemacht, was bedeutet, das er mit einer bewundernswerten Freiheit der Geste und des Ausdrucks eine Authentizität vermittelte, wie dies nur in seltenen Sternstunden des Konzertlebens geschieht und noch weit seltener in solch bewusster Strukturation einer so kolossal aufgipfelnden symphonischen Kathedrale. Es war sozusagen wie bei einem Low-Budget-Film, der es zum Blockbuster bringt. Indem der Dirigent aus dem übermächtigen Schatten seines Meisters heraus getreten ist, ging eine Maxime auf, die im Islam den Ausdruck in folgendem Satz findet: ‚Binde dein Kamel – und vertraue auf Gott.’ Womit, wenn einer, dann der Katholik Bruckner gewiss einverstanden gewesen wäre.