In unserer Zeit der Gärung ist die Kunstbetrachtung der Menschen so wenig einheitlich wie kaum je zuvor. Die einen, deren wichtigste Lebensepochen sich im I9. Jahrhundert abspielten, sind ganz in diesem verankert und können weder neuen Grundsätzen ein inneres Verhältnis finden, noch, da sie selbst rückblickend sind, den Zeiten, die weit vor ihrem Leben liegen, inneren Anteil widmen. Die anderen, Heutigen, sehen auf das, was sich im letzten Jahrhundert als große, evolutionäre Entwicklung begeben hat, verachtungsvoll herab. Sie verstehen diese Zeit nicht, weil ihnen die gefühlsmäßge Einstellung hierzu fehlt. Da aber jeder, gleichgültig welcher Gesinnung er sei, aus inneren Entwicklungsgründen heraus Anschluß an Gewesenes sucht, so haben auch sie das Gleiche getan. So ist es gekommen, daß ihnen das 17. und 18. Jahrhundert, ja sogar noch frühere Zeiträume, näher rückten als die erst kürzlich entschwundene Zeit.
Neue Musik-Zeitung – Vor 100 Jahren
Vor 100 Jahren Eugenie Schumanns „Erinnerungen“
Man spricht deshalb häufig gerade in Kreisen neuzeitlich eingestellter Musiker von der Zeit der Romantik als einer abgetanen und vergißt dabei nur, daß große Bewegungen immer wieder von neuem geboren werden, vergißt auch, daß die ablehnende Haltung gegenüber der Romantik auch unter den heute Lebenden keineswegs als einheitlich zu gelten hat. Ist doch das deutschen Gefühlsleben des Volkes in seiner Mehrheit. trotz Jazzband und ähnlichem Kunstimport, nach wie vor romantisch eingestellt. Mag dieses Gefühl auch oft arg verbildet sein, wie die auf die Tränendrüsen wirkende Kinoromantik beweist, so lebt es doch noch echt und wahr in der großen Menge derjenigen, welche an einer Wiedergabe romantischer Musik nach wie vor innere Erhebung und Freude finden.
So lebt auch Robert Schumann und sein Kreis für uns Heutige, ungeachtet aller kritischen Einstellung, von den wenigen Ultraradikalen abgesehen, noch in alter Weise fort, und es muß besonders Anteilnahme erwecken, wenn Erinnerungen aus seiner Familie erstmalig an die Oeffentlichkeit dringen. Von den acht Kindern Robert Schumanns sind noch drei Töchter am Leben und die jüngste derselben, Eugenie Schumann, hat soeben im Verlage J. Engelhorns Nachf., Stuttgart, unter dem Titel „Erinnerungen der Mitwelt ein künstlerisch hochinteressantes, dabei lebenswarmes, gefühlstiefes und von edler Altersweisheit erfülltes Buch geschenkt.
Scheinbar wahllos fließen diese Erinnerungen und sind doch durch einen starken Grundgedanken gegliedert. Sie bewegen sich weniger um Robert Schumanns Gestalt, da sich seiner die jüngste, spätgeborene Tochter kaum zu erinnern vermag, als um die verehrungswürdige Gestalt Klara Schumanns.
Ihr Leben wies zwei gleich starke Pole auf, die im Gegensatz zu der polaren Strömung im Innern der meisten Menschen einander nie entgegenwirkten. Die Künstlerin und das Weib, die Mutter, waren beide gleich stark in ihr, wie sich in ihrem innern Geist und Gemüt in gleicher Stärke paarten. Was diese Frau im Leben geleistet hat, grenzt schier an das Unglaubliche. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch ihres Gatten fand sie die Kraft, die ganze Sorgenlast auf sich zu nehmen. Konzertierend zog sie durch die Lande, mußte ihre Kinder fremden Menschen anvertrauen und begnügte sich dabei nicht damit, Nahrung und Kleidung für dieselben herbeizuschaffen, sondern war unermüdlich tätig für ihre geistige und vor allem seelische Erziehung. Freilich ward ihr reicher Dank zuteil: ihre Kinder hingen mit begeisterter Liebe an ihr und die älteste Tochter Marie opferte ihr Leben der Mutter, die sie auf ihren Konzertreisen begleitete, geradezu auf. Die Kenntnis von dem stillen Heldentum dieser feinen Frauengestalt Marie Schumann allein lohnt schon die Lektüre des neuen Buches.
Robert Hernried, Neue Musik-Zeitung, 47. Jg., 2. Dezember-Heft 1925
Aber es gibt mehr, viel mehr. Vor allem zeichnet es das Bild von Robert und Klara Schumanns Kindern. Die Anteilnahme an dem Hausmütterchen Marie, der originellen Schweigerin Elise, der reizvollen Gestalt Juliens wird vertieft durch das tragische Geschick des ältesten Sohnes Ludwig, der, erblindet und von der Welt abgeschlossen, sein Leben enden mußte. Und die Tragik verfolgte alle Söhne Schumanns. Denn auch Ferdinand, der zweitgeborene Sohn, starb an einer im deutsch-französischen Kriege erworbenen Krankheit im jugendlichen Alter von 24 Jahren. Die Briefe dieses im wahrsten Sinne hoffnungsvollen Jünglings an seine Mutter, welche Eugenie Schumann erstmalig veröffentlicht, wirken in ihrer geistigen Reife verblüffend, in ihrer inneren Tragik erschütternd, und seine Gedichte, deren einige seine Schwester wiedergibt, verraten so großes Talent, daß man die Trauer um den früh Dahingegangenen teilen muß.
Aus der Fülle der Gestalten, die Eugenie Schumanns Erinnerungen vor uns erstehen lassen, ragen Klara Schumann und Johannes Brahms hervor und es sind keineswegs nur Erinnerungen familiärer oder freundschaftlicher Natur, die unsere Anteilnahme erwecken, sondern eine Charakterisierung der beiden als Menschen und Künstler, wie sie ursprünglicher noch nicht gezeichnet wurde. Als Eugenie einmal ihrer Mutter einige Sätze aus Hiltys „Glück“
vorlas, sagte Klara: „Davon verstehe ich kein Wort, aber ich meine, es sei eine ganz einfache Sache um das Glück; man muß ja nur unter allen Umständen seine Pflicht tun.“ Klara Schumanns, von ihrer Tochter geschilderte Selbstbeherrschung charakterisieren die Frau, Klaras Erklärung mancher Stücke ihres Gatten, die Schilderung ihrer Art, Klavier zu spielen und zu unterrichten, die Künstlerin auf treffendste. Wie sehr ihre Liebe zu Robert Schumann und seiner Kunst ihr Wesen zeitlebens beherrschte, beweist eine Episode: Die Familie Schumann wohnte jahrelang in einem kleinen, bescheidenen, aber reizend gelegenen Häuschen, das Klara Schumann in Lichtenthal bei Baden-Baden gekauft hatte. Eines Morgens wurde die älteste Tochter Marie durch ein sonderbares Rauschen geweckt. Sie lief ins Erdgeschoß und sah, daß von allen Seiten Wasser ins Haus stürzte, denn die Oos war übergetreten. Das Haus wurde alarmiert und die Hausbewohner rüsteten sich zur Flucht. Als Eugenie die Treppe hinauflief, um zu ihrer Mutter zu gelangen, fand sie diese in Hut und Mantel. Unter dem Arm aber trug sie drei schwere Notenbände, die erste Gesamtausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns, die kurz vorher in Rußland erschienen war. Es war das einzige Besitztum, das sie den Fluten entreißen wollte.
Besonders interessant ist das Buch in bezug auf die Klaviertechnik und die pädagogischen Anschauungen Klara Schumanns und Brahms’, die sich oft durchaus nicht deckten. Die Verfasserin hat selbst einen Sommer lang Brahms’ Unterricht genossen und weiß seine Lehren anregend wiederzugeben. Aus ihren Schilderungen erweist sich, daß Brahms den Klavierunterricht so betrieb, wie er leider nur selten betrieben wird: Durch Vereinigung von rein musikalischen mit technischen Anweisungen, wobei die letzteren bei aller Strenge ihrer Handhabung durchaus als Mittel zum Zweck aufgefaßt erscheinen. Charakteristisch, daß er melodische Figurationen legatissimo, harmonische Akkordzerlegungen molto leggiero spielen ließ, die Markierung technischer Akzente zugunsten genauer Bezeichnung der Phrasierung unterließ und daß er auf das dissonierende Durchklingen der Synkopen den größten Wert legte. „Meine Mutter regte vor allem Phantasie und Gemüt, Brahms vor allem die Denktätigkeit an“, schreibt Eugenie Schumann in gerechter Würdigung ihrer beiden berühmten Lehrer.
Die Jahre rauschen an der Rückblickenden vorüber und mit ihnen zieht eine Reihe feiner Künstlergestalten vorbei: Joseph Joachim, das Ehepaar Herzogenberg, der Maler Anselm Feuerbach, Pauline Viardot-Garcia und viele, viele andere. Und sie alle werden uns in dem Buche menschlich nahe gerückt. Klara Schumanns Ablehnung Richard Wagners und Brahms Aeußerungen hierzu, des letzteren knorriges, auch gegen Klara und Billroth oft launenhaftes Wesen, seine Art, Klavier zu üben und vieles andere wird anschaulich geschildert. Den Reiz von Klara Schumanns Klavierspiel lernt man auch als Nachgeborener begreifen, wenn man liest, daß Brahms ihr als Widmung in eines seiner Liederhefte die Worte schrieb: „Frau Klara Schumann, der besten Sängerin.“
Eugenie Schumann und ihre Geschwister haben die ganze innere Not der Kinder genialer Eltern durchgekostet. Die Liebe aber hob sie über alles hinweg. „Das Leben ist ein Erhärtungsvorgang, es erhärten sich mit den guten auch die weniger guten Eigenschaften, je nachdem Erfahrungen und Bestrebungen darauf einwirken“, schreibt die greise Dame, indem sie Brahms’ Schroffheiten gütig entschuldigt. Sie aber hat das Leben scheinbar nur im Ertragen „erhärtet“, denn ihr Gemüt blieb liebevoll. Darum auch kommt sie dem Leser menschlich nahe.
Robert Hernried, Neue Musik-Zeitung, 47. Jg., 2. Dezember-Heft 1925
- Share by mail
Share on