Jahrelang hat man beim Jazzfestival Saalfelden mit Welt- und Europapremieren geradezu geprotzt. Schon der seltenere Zusatz „Österreichpremiere“ in den Programmankündigungen nahm sich da fast verschämt aus. Es war nicht zuletzt das ambitionierte Bemühen um Exklusivität, das Saalfelden in über drei Jahrzehnten den Status des Referenzfestivals beschert hat – und dem treuen Stammpublikum einen reichhaltigen akustischen Souvenir-Fundus an einzigartigen, unwiederhobaren „Ich war damals dabei, als...“-Erinnerungen. Dass zahlreichen improvisatorischen Höhenflügen zwangsläufig auch der ein oder andere Absturz aus großer Fallhöhe gegenüberstand, nahm man dafür gerne in Kauf.
Für die 33. Ausgabe hatte man nun stärker als sonst auf Working Bands gesetzt und mehrheitlich Ensembles verpflichtet, die ihre Selbstfindungsphase bereits hinter sich und ein tragfähiges Konzept bereits gefunden (und in einigen Fällen über Jahre verfeinert) haben. Die Besinnung darauf, dass Bewährtes weder gleichbedeutend mit routiniertem Leerlauf sein noch mit dem in Saalfelden seit jeher ostentativ betonten Anspruch des „Unbotmäßigen“, der gezielten Normverletzung, kollidieren muss, sollte sich bezahlt machen.
Der hochtalentierte italienische Pianist Giovanni Guidi etwa bewies mit seinem klanglich wunderbar austarierten Quintett, dass ein lyrischer Grundgestus nicht ins Seichte abdriften muss. Kompositorischer Strukturwillen, der genügend Raum für überraschende Wendungen und Perspektivwechsel lässt, machte auch die Quintette der GitarristInnen Mary Halvorson und Hasse Poulsen zu nuancierten Hörerlebnissen.
Henri Texier formte aus Inspirationsquellen, die vom Maghreb bis zu den Ureinwohnern Nordamerikas reichten, sinnliche Ohrenschmeichler. Jenny Scheinman fiedelte sich mit Verve und wohlplatzierten Widerhaken durch von Country und Rock abgeleitete Songstrukturen, während das Trio Side A um den unermüdlichen Ken Vandermark liedhafte Motive und freie Improvisation zu stimmigen Gesamteindrücken ausbalancierte.
Den Titel des „hardest working man in Saalfelden“ verdiente sich Tim Berne. Im Duo mit dem phänomenalen Bassisten Bruno Chevillon eher feinsinnig, ließ er es im Trio BB&C (mit Gitarrist Nels Cline und Drummer Jim Black) ordentlich rummsen. These Arches, das Quintett des jungen Schlagzeugers Ches Smith, lag mit seinem souveränen Verschnitt von Schroffem und Subtilem irgendwo in der Mitte.
Einen Programmpunkt hatte Saalfelden 2012 dann doch weltexklusiv. Muhal Richard Abrams hatte dem Festival angeboten, nach mehr als 25 Jahren noch einmal seine Experimental Band zusammenzutrommeln und für die Keimzelle des 1965 von ihm gegründeten legendären Musikerkollektivs AACM ganz neue Kompositionen zu schreiben. Wer wollte es den künstlerischen Leitern Michaela Mayer und Mario Steidle verdenken, dass sie bei dieser historischen Offerte begeistert zugriffen?
Das mit dem Komponieren musste der 81-jährige Abrams aber zwischenzeitlich vergessen haben. Das Nonett zerfaserte in eine zusammenhanglose Reihung von Solo und Duo-Improvisationen, ohne dass sich je so etwas wie ein Spannungsbogen aufgebaut hätte. Zusammengerechnet fast 600 Jahre Jazz-Geschichte (darunter Granden wie Henry Threadgill und Roscoe Mitchell) saßen die meiste Zeit beschäftigungslos nebeneinander. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen harrte man über eine Stunde darauf, dass sich aus dieser Karikatur einer Band doch noch ein Ensemble formen und Abrams‘ hinlänglich belegten Sinn für orchestrale Jazzformen beweisen möge – vergeblich. Ein historischer Flop, der aber nicht darüber hinwegtäuschte, dass im Jahrgang 2012 wieder überwiegend spannende und überzeugende Antworten auf die unergründliche Frage formuliert wurden, was Jazz denn heute eigentlich sei.