Die Empörung von Herrn Seiffert als Henle-Verlagsleiter ist nachvollziehbar. Da eine Kritik fast immer mit weniger Raum auskommen muss, als zur ausführlichen Begründung notwendig wäre, kann man es, wenn man will, verstehen wie er. Doch wozu soviel scharfes ideologisches Geschütz? Weder geht es um die „Denunziation von Generationen von Philologen“ noch um eine „Verhöhnung“ der Musikwissenschaft von seiten der musikalischen Praxis. Wir brauchen überall bestmögliche Urtextausgaben. Allerdings dürfte beispielsweise aufgefallen sein, wie brillant Jonathan Del Mars Beethoven-Edition die Henle-Konkurrenz überflügelt hat.
Das ist nicht nur Produkt massiver Werbung, sondern vor allem einer Herangehensweise, die immer die Stimmigkeit der Aufführung im Auge hat. Dementsprechend werden die Quellen nach praktischen Maßgaben ausgewertet, ohne dass ein seriöser Gutachter behaupten könnte, die philologische Korrektheit hätte gelitten – im Gegenteil. Um die Quellenlage und die damit verbundenen Fragen und Widersprüche exakt erkunden zu können, gibt es den kritischen Bericht.
Es ist eine für den letztlichen Erfolg der Ausgabe maßgebliche Frage, welche Entscheidungen in der Partitur verewigt werden und was dazu an Hintergrundinformation bereitgestellt wird für den, der es genauer wissen möchte. Die musikalische (und das ist nicht 1:1 philologische) Kompetenz des Herausgebers erweist sich daran, wie er im Zweifelsfall vorgeht. Viele Abweichungen und Ungereimtheiten im Detail sind auf Mängel und Ungenauigkeiten in den Quellen zurückzuführen. An diesem Punkt herrschen in verschiedenen Verlagshäusern traditionell unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Prioritäten. Natürlich erkauft man sich übrigens den extrem günstigen Preis der Doblinger-Ausgabe mit Haydns Quartetten leider auch mit dem Fehlen jeglichen Kommentars zu Entstehung und Edition.
Christoph Schlüren