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Historische Dokumente werden hier wie schwer Kranke versorgt. Foto: Stadt Köln
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Unter Archivisten

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Erstversorgung am Kölner Stadtarchiv
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Der Empfang ist rau, aber herzlich. „Feuerwehr? THW? Archivisten?“ Im Sicher­heits­gürtel um den Trümmerberg herrschen klare Regeln. Man möchte wissen, zu wem ich will. Also gut. „Zu den Archivisten! Freiwilliger Helfer!“ Keine messbare Reaktion. Ob ich einen Ausweis habe? Nein, noch nicht. Ist mein erster Tag! Ach so. Routinemäßig greift Herr Wachmann mit dem grünen Leibchen zum Diensthandy. Es knackt in der Leitung. Schließlich eine Antwort. Ich werde abgeholt, heißt es. Solange warten.

Na schön. Bevor das Abendland gerettet werden kann, steht die Warteschleife an. Verhalte mich also situationsangemessen wie Fontanes John Maynard. Schau nach vorn, schau in die Rund: Graue Wolken hängen über Köln. Nichts Besonderes. Anders als die Affenliebe der Kölner zu ihrer Stadt es wahr haben will (ein Eingeborener darf dies sagen), ist besagte Himmelsfärbung tatsächlich die Grundtönung in einer verkorksten, die Schönheit rigoros ignorierenden Stadtlandschaft. Gedanken, die die enttäuschte Kölner Liebe natürlich immer denkt, wenn sie das Auge einmal allzu sorglos schweifen lässt und nirgends Halt findet. Wie hier, wo aus dem Parkplatzpflaster hinter dem verlassenen Kölner Polizeipräsidium Am Waidmarkt (noch so eine Ruine) das Unkraut wächst. Et hät noch immer jot jejange, dichtet der hiesige Volksmund.

Endlich, ein Viertelstündchen weiter, naht die Security. Unter Begleitung betrete ich das rückwärtig gelegene Schulgebäude, das altehrwürdige Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, dessen Schicksal nach dem Einsturz des Stadtarchivs ebenfalls besiegelt scheint. Hartnäckig hält sich das Gerücht: Wird abgerissen. Einstweilen aber hat in der außer Dienst gestellten Kölner Traditionsschule noch die koordinierende Einsatzleitung der Feuerwehr ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Kontrolle ist gut – beinahe halbstündlich prüft das städtische Vermessungsamt aktuelle „Verschiebungen“ – ohne Vertrauen aber läuft nun einmal auch nichts. Immerhin müssen, wenn ganze Archive in sich zusammenstürzen, einige Fäden zusammenlaufen können. In diesem Fall in einem Klassenraum eines Barackenanbaus, kurzerhand umfunktioniert zur Befehlszentrale einer zivilen Katastrophenhilfsmaßnahme. Allerdings – auch hier keine Spur von den Archivisten, recte: den Mitarbeitern des Historischen Archivs der Stadt Köln. „Wohin willste?“ Endlich erfahre ich, wo „dat Arschiv“ Quartier gemacht hat. Zurück, quer über den Hof, zwei Mal links. Auch hier, wo auch sonst, in einem zweckentfremdeten Klassenzimmer. An der Tafel Handynummern. Irgendwo blubbert eine Kaffeemaschine. Es ist 7 Uhr morgens. Zu früh, wie ich erfahre. Ob ich einen Kaffee will? Bis die erste Schicht der Feuerwehr loslegt, ist noch Zeit. Zeit für Gisela Fleckenstein, mir die obligatorische Sicherheitsbelehrung zu verabreichen.

Bis zum Tag des Einsturzes des größten Kommunalarchivs nördlich der Alpen war die freundlich lächelnde Archivista Leiterin der Abteilung Nachlässe und Sammlungen. Sie überrascht mich mit außerplanmäßigen, meinen Helferstolz irritierenden Fragen. Wer mich denn geschickt hat? Immerhin, nach Unterschrifts­leistung, nach Ausgabe von Helm, Atemmaske, Handschuhen steht meinem ersten Bergungstag nichts mehr im Weg.

Vor allem letztere, meine Handschuhe, weiß ich bald zu schätzen. Sehr sogar. Denn der Arbeitsplatz der Erstversorgungshelfer im FWG-Pausenhof hat es in sich. Auf den ersten Blick unscheinbar. Eine Schulbank hinter anderen Schulbänken. Doch exakt hier wird visitiert, was den Supergau überstanden hat. Schon rollen vom straßenseitig gelegenen Trümmerberg – mittlerweile, zu Frühjahrsbeginn, vertieft zur Trümmerkuhle – die ersten Container heran. Randvoll mit Kartons.

Aufgabe: Inhalt auf Feuchtigkeit prüfen! Nasses Material weiterreichen zur Schimmelstelle, Trockenes zurück in den Karton, Karton auf die Palette, volle Paletten ab zur Weiterversorgung nach Porz. „Darum geht’s?“, frage ich, während sich meine heimlich gehegte romantische Erwartung verflüchtigt, dem Trümmerhaufen direkt und höchstselbst die Schätze entreißen zu dürfen. Prompt das Echo. „Darum geht’s! Alles andere viel zu gefährlich! Sache der Feuerwehr!“ Ich nicke verständig. Später wird tatsächlich klar, warum dies so und nicht anders ist. Eine kurzzeitige Container-Nachschubflaute eröffnet die Möglichkeit, mir ein Bild von der Lage zu machen. Unter dem mit schweren Holzbohlen abgestützten Schul-Eingangsportal betrachte ich die in Staubschwaden gehüllte Szenerie: Feuerwehrleute in schwerer Montur kramen in der Kuhle herum, ziehen da und dort demolierte Archivkartons, nicht selten freiliegende Mappen, ja, einzelne Blätter aus dem Dreck und stopfen sie in die schachteln. Ist der Wagen voll, greift sich ein Bagger den Container und hebt ihn nach oben. So also geht es zu, denke ich mir, wenn das untergegangene Abendland doch noch gerettet wird.

Also, schnell zurück an meinen Verbandsplatz! Frisch heran! Karton um Karton landet jetzt auf meinem Operationstisch. Bald habe ich ein Gefühl für meine Pappenheimer. Oft genügt ein Blick. In Zweifelsfällen streife ich einen Handschuh ab und befühle das Zeug, wie es unsere Manglerin mit der eingebrachten Wäsche auch macht. Feucht? Nein, in diesem Fall nicht. Dafür staubig. Staubig? Das Wort reicht nicht hin. Reihenweise kommen jetzt Akten, aus denen sich regelrechte Stein-Staub-Fontänen ergießen. Es rieselt und perlt nur so. Keine Frage: Was den Sturz in die Grube überstanden hat, ist kontaminiert. Und doch: Froh zu sein bedarf es wenig! Wer hier rettet, bei dem stellt sich bald das erhabene Gefühl ein, überhaupt etwas in den Händen zu haben, und sei es auch noch so zerstoßen, zerkratzt, demoliert, derangiert und was der Ausdrücke für den Zustand des postapokalyptischen Angegriffenseins noch sein mögen.

Andererseits – als Restakten-Erstversorger sollte man sich dem inneren Jubel nicht zu früh hingeben. Jedenfalls nicht, bevor man nicht mit dem wahren Schocker dieser Maßnahme konfrontiert worden ist, kommt doch nicht selten der frühere Stolz des Kölner Stadtarchivs als bloßer Schnipselsalat daher. Kartonweise abgerissene, briefmarkengroße Teilstücke von irgendwas. Anderntags im Radio die Meldung, dass mittlerweile 250 solcher Behältnisse mit Archivkonfetti aufgelaufen seien.

Dabei wird es nicht bleiben, folgere ich, Kenner, der ich geworden bin. Nur, wer wohl mit solchem Geschnetzelten noch etwas anfangen kann? Der Hinweis auf Karneval verbietet sich. Comedy ist später. Das Stadtarchiv ist eingestürzt, aber – dies die Entdeckung – nicht das Ethos seiner Betreiber. Geschnetzeltes soll und muss wieder ganz werden!, lautet die Parole. Meine Mitretterin am Nebentisch ist optimistisch. Schon von Berufs wegen. Immerhin, wenn es jemand wissen muss, dann Gisela Fleckenstein. Irgendwann gehen die Schnipsel, sagt sie, ans Frauenhofer-Institut. Man sei „im Gespräch“ wegen einer speziellen Software. Schwierig sei „nur“, dass das Kölner „Material“ erstens keine scharfen Schnittkanten aufweise und zweitens alles hat, nur keine DIN-Formate.

Trotzdem. Gefahr war gestern. Jetzt wächst das Rettende! Tatsächlich sind es die Archivisten, die im Staubgrauen den sprichwörtlichen Silberstreifen am Horizont freilegen. Mit einem Mal klingt, mitten im größten Desaster, doch alles irgendwie wieder hoffnungsvoll. Ich möge, so die Archivista, doch mal an die erst geschredderten, dann wieder zusammengeflickten Stasiakten denken. Irgendwie, so die Vision, die hier unter den Erstversorgern aufkeimt, muss es möglich sein, selbst das Zermahlene wieder zusammenzusetzen. Merke: Wer das Abendland retten will, muss viel hoffen können.

Dann, unvermutet, ereilt die Hoffnung auch mich. Die Kartons werden schwerer. Auf meinem Verbandsplatz befühle, respektive bemitleide ich mit einem Mal keine Schnipsel mehr, keine zerfledderten, in Steinmehl getauchten Altakten. Von jetzt auf gleich erscheinen Mappen in erstaunlich properem Zustand. Da und dort ragen sogar noch die Reiter, die Beschriftungs­zettelchen heraus. Vor allem aber kommen jetzt Bücher in tadellosem Zustand ans Tageslicht. Zwei Tische hinter mir offenbar der nämliche Fund. Dann, lauffeuergleich, von Rettungstisch zu Rettungstisch: „Hans Mayer!“ Tatsächlich wird uns der vor ein paar Jahren ins Stadtarchiv gelangte Nachlass des verstorbenen Gelehrten serviert, zumindest ein erklecklicher Teil desselben. Ein Gefühl wie Weihnachten macht sich breit. So muss das früher gewesen sein, denke ich mir, als man noch gebibbert hat beim Schleifchen­aufmachen. Wie von Zauberhand liegen auf meiner Bank auf einmal lauter Geschenkkartons. Handle with care!, sage ich mir, um dann, wie zur Belohnung, diesen elektrisierenden Titel zu lesen: „Moments Musicaux“. Ergriffen streife ich meine Handschuhe ab und blättere in den ersten Seiten. Ja, keine Frage, hier ist es, das Hans Mayer zugedachte Widmungsexemplar des Autors Theodor Wiesengrund-Adorno. Gewiss, eine Schwalbe nur, doch die kommt ja selten allein, wenn, wie jetzt, der Sommer ins Haus steht. Und also geschieht es. Handgriff um Handgriff begrüßen wir Erstversorger nun wunderbar Erhaltenes, herrlich krakelig Gewidmetes. Retten kann schön sein.

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