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„Ausschaltung“ der wirklich neuen Musik?

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Offener Brief an ”Jugend musiziert“
Publikationsdatum
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Sehr geehrter Herr von Gutzeit,

mit einem gewissen Entsetzen habe ich bei der Ausschreibung für den Wettbewerb 2008 festgestellt, dass die bisher geltenden Bedingungen (Vorspiel von Originalwerken und einem Werk aus dem 20./21. Jahrhundert) aufgeweicht beziehungsweise gestrichen wurden. Damit wird von den Funktionären – gewissermaßen mit einem Federstrich – die jahrzehntelange Arbeit von Komponisten, Interpreten und Pädagogen zunichte gemacht!

Aus meiner über 30-jährigen Tätigkeit als Juror auf den verschiedenen Ebenen des Wettbewerbs kann ich mir lebhaft vorstellen, was jetzt passiert: Pianisten und Streicher werden in Klassik und Romantik schwelgen und bei der Blockflöte (und anderen „Randinstrumenten“) wird ein Barockstück und dann noch eine der vielen zweifelhaften Bearbeitungen das Vorspielprogramm bilden.

Wenn ich dann noch lese, dass in Zukunft auch Keyboard, E-Gitarre und Pop-Gesang in das Wettbewerbsprogramm aufgenommen werden sollen, scheint mir der Weg in Richtung „Deutschland sucht den Superstar“ (unter Beteiligung der freien Sendeanstalten zur Volksverdummung) nicht mehr weit zu sein. Das wäre nun noch nicht so schlimm, wenn diese neue Regelung nicht auch enorme negative Auswirkungen auf die Unterrichtssituation an Musikschulen und im Privatunterricht hätte. Hier wird die „Ausschaltung“ der wirklichen Neuen Musik weitreichende Folgen für unsere gesamte Musikkultur haben. Viele Lehrer und Schüler werden es nun nicht mehr für notwendig erachten, sich mit der Kunst der Gegenwart auseinander zu setzen und lieber auf billige Surrogate ausweichen. Wozu haben wir uns eigentlich jahrelang bemüht, neue und aufregende Musik gerade auch für Schüler aller Alterstufen zu schreiben und so auch interpretatorisch neue Ansätze (neue Spieltechniken) zu schaffen?

Ich kann nur hoffen, dass Sie und die für die Ausschreibung Verantwortlichen die Situation nochmals überdenken und ab 2009 wieder zur alten Regelung zurückkehren werden.

Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Braun
ehem. Prof. für Quer- und Blockflöte an der Staatl. Hochschule für Musik Karlsruhe, Ehrenpräsident der ERTA


Entwicklung beobachten, bereit zur Korrektur ...

Eine Antwort von Prof. Reinhart von Gutzeit auf den Offenen Brief

Lieber Herr Braun!

Nachdem wir uns erst ein paar Jahrzehnte kennen, verwundert die Kommunikation über einen „offenen Briefwechsel“ im ersten Augenblick. Aber es hat ja auch sein Gutes, wenn die inhaltliche Debatte auf diese Weise mehr Verbreitung findet und die Redaktion freut sich immer über einen polemisch zugespitzten Briefwechsel!
Also wir haben mit einem Federstrich Ihre jahrzehntelange Arbeit ruiniert. Geht es denn wirklich nicht ein bisschen kleiner?

Und Sie sind die Komponisten, Interpreten und Pädagogen, und wir die Funktionäre? Das liest man immer gerne. Ich will Sie erinnern, dass die „Funktionäre“ von ”Jugend musiziert“ in ihr Amt berufen wurden, weil sie im Hauptberuf Hochschullehrer oder Musikschullehrer sind oder waren und Ihnen versichern, dass wir vor jeder Entscheidung gründlich über die vorhersehbaren künstlerischen und pädagogische Folgen nachdenken. Genau darin liegt die zentrale Aufgabe des Projektbeirats.

Der erweiterte Projektbeirat (diesem für Grundsatzfragen zuständigen Gremium gehören fast 40 Funktionäre (!) aus allen Bundesländern an) hat nun tatsächlich beschlossen, die seit Jahrzehnten bestehende Verpflichtung aufzuheben, in jedem Fall ein Werk der Neuen Musik im Programm der Teilnehmer/-innen zu verlangen.
Wir haben in den letzten Jahren immer mehr den Eindruck gewonnen, dass die jungen Leute sich inzwischen gerne und sehr erfolgreich mit der Neuen Musik beschäftigen und dass sie (die Neue Musik) diesen Schutzzaun, die Sonderstellung, als einzige Epoche mit einem „Muss“ belegt zu sein, nicht mehr benötigt.

Wir wollen stattdessen Anreize setzen und die Teilnehmer mit Sonderpreisen zu einer Beschäftigung mit sehr unterschiedlichen Aspekten der Moderne motivieren. Damit möchten wir zu einer vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung beitragen und dem entgegensteuern, was auch Sie beklagen: dass vielfach Alibiwerke gewählt wurden und die Pflicht zur Neuen Musik mit rumänischen Tänzen oder Musical-Songs umgangen wurde. Das Ziel bleibt also: die Neue Musik soll gefördert werden.
Die Methode wechselt jedoch: Anreiz statt Zwang.

Natürlich können wir nicht sicher sein, dass unser Konzept aufgeht. Darum haben wir zusätzlich beschlossen, die Entwicklung genau zu beobachten und zur Korrektur bereit zu sein, wenn der eingeschlagene Weg nicht zum gewünschten Erfolg führt.
Noch eins: die Integration von bestimmten „pop-affinen“ Instrumenten in den Wettbewerb ist ein schwieriges Thema, das in den Jumu-Gremien heiß diskutiert und im Herbst entschieden wird.

Viele Kollegen unterstützen diesen Wunsch – wohl wissend, dass er knifflige Fragen aufwirft. In der Zielsetzung, dass Jumu sich auch zukünftig von „Deutschland sucht den Superstar“ fundamental unterscheiden soll, sind sich alle mit Ihnen einig! Es hat auch noch niemand vorgeschlagen, Dieter Bohlen das Amt des Jumu-Vorsitzenden anzutragen.

Mit den besten Grüßen Ihr
Reinhart von Gutzeit

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