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Am Ideal eines Universalpianisten orientiert

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Das Fach „Angewandtes Klavierspiel“ an der Musikhochschule Lübeck
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Sich spontan und flexibel auf Unterrichtssituationen einzustellen, ist eine Fähigkeit, die für angehende Musikpädagogen eine zentrale Funktion hat. Einmalig in Deutschland ist diesbezüglich das an der Musikhochschule Lübeck (MHL) von Professor Laurens Patzlaff entworfene Konzept „Angewandtes Klavierspiel“, das sich am Ideal eines Universalpianisten orientiert: Musiktheorie, Interpretation, Arrangement, Begleitung und Improvisation sollen keine getrennten Sphären, sondern ein ganzheitlich enges Netzwerk sein.

Somit stünde, erklärt Sophia Friedmann, Studentin Master of Education im dritten Semester, ein breiteres Spektrum an Repertoire zur Verfügung. Auch könne man  Lieder flexibel für die jeweiligen Stimmlagen einer Klasse arrangieren, sodass sie mitsingen kann. Sowohl die Einbeziehung der musikalischen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler als auch die eigene musikalische Aktivität als Lehrende, zum Beispiel durch die Klavierbegleitung, ermögliche einen direkteren Kontakt zu Schülerinnen und Schülern.
Im Bereich „Angewandtes Klavierspiel“ beschäftigen sich die Studierenden entsprechend des genannten Konzepts unter anderem mit Bach-Chorälen, weil ein Gang durch die Musikgeschichte zeigen kann, dass Kantionalsätze und bestimmte Choräle wie ein Pachelbel-Modell funktionieren, dessen Akkordprogressionen die gleichen wie bei vielen Popsongs sind. So entsteht ein synergetischer Effekt.

Auch wenn Studierende keine Affinität zur Barockmusik haben, ist Wissen darüber sinnvoll und sogar notwendig: etwa um Generalbass und im Jazz übliche Akkordsymbole lesen zu können. Über solche Zeitbrücken lassen sich elementare Akkordbegleitung und somit vielseitig anwendbare Muster vermitteln. Zugleich wird die Kompetenz zu stilistischem Umdenken gefördert. Allerdings beginnen Studierende im Fach „Angewandtes Klavierspiel“ mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Niveaus pianistischer Fertigkeiten. Wenn sie von der Kirchenmusik kommen, können sie gegebenenfalls keine Jazzakkorde lesen oder hören, weil die entsprechende Erfahrung fehlt, wie Maximilian Busch erzählt, Student Master of Education im ersten Semester: „Ich bin quasi vom Jazz infiziert worden, sobald ich an der MHL war. Jetzt kann ich unaufgelöste Major 7-Akkorde als Klangfarbe akzeptieren und bin so fasziniert davon, dass ich sie manchmal sogar in die Begleitung von Volksliedern einbaue.“

Dem Ausbildungskonzept entsprechend berücksichtigt die Hochschulperspektive ein umfassendes humanistisches Bildungsideal, das im Schulalltag nur bedingt verwirklicht werden kann. Dennoch: Je mehr man gelernt hat, desto besser und flexibler kann man auf heterogene Anforderungen im Unterricht reagieren.

Das Curriculum in Schleswig-Holstein hat für die Inhalte des Musikunterrichts keine strikten Vorschriften parat. Vielmehr hängt es von den Schulen ab, wie die jeweilige Fachschaft den Lehrplan umsetzt und gewichtet: „Wir haben als Lehrende gewisse Freiheiten“, bestätigt Christoph Gerl, Musiklehrer an der Theodor-Mommsen-Schule Bad Oldesloe und MHL-Dozent. Im Musikunterricht sollen Kompetenzen vermittelt werden. Aber anhand welcher Beispiele, ist nicht festgelegt. „Natürlich versuchen wir, musikgeschichtlich so viel wie möglich abzudecken und so viel wie möglich zu zeigen. Angewandtes Klavierspiel hilft dabei bestens.“ Aus eigener Erfahrung bestätigt Maximilian Busch, dass Schüler geradezu enthusiastisch reagieren, wenn Lehrende selbst am Klavier spielen, anstatt sich mit einer CD zu begnügen. Und dies nicht nur, um ein Lied zu begleiten, sondern auch, um klassisches Repertoire vorzustellen.

Um aber Schüler überhaupt an musikhistorische Themen heranführen zu können, sollte man sie bei ihren Hörgewohnheiten abholen, nämlich meistens bei der Popmusik. Offenbar ist es sinnvoll, an Bekanntem anzuknüpfen, um von dort rückwärts zu schauen. So lässt sich am ehesten begreifen, worauf ein Popsong historisch aufgebaut ist, sodass musikalische Strukturen bewusst werden. Aber es können auch andere Genres im Vordergrund stehen. Nicht alles, was das Studium vermittelt, braucht man später im Beruf. Man muss eigene Prioritäten finden und setzen. Diese Prioritäten ergeben sich einerseits durch die Realität der Schulpraxis, andererseits schon im Studium. Für „Angewandtes Klavierspiel“, das viele aufgrund eines Studiums generale (früher: Schulmusik) gewählt haben, sind vier Semester vorgesehen, eine relativ knappe Zeitspanne, bedenkt man das umfassende Spektrum des Faches. Durch Spezialisierung fallen angrenzende Fächer normalerweise weg, ein Manko, das Studierende hier kompensieren können. Denn in der Ausbildung sonst getrennte Fächer wie klassisches und schulpraktisches Klavierspiel sowie Jazzklavier und Improvisation sind hier vereint. Dabei Schwerpunkte zu bilden, ist unvermeidlich, weil das Tagespensum mit all seinen Aspekten wie Musiktheorie- und wissenschaft, Üben oder Gehörbildung sonst nicht zu leisten wäre. „Wie will ich Studierenden, die nicht vom Klavier kommen, erstmal die technischen Grundlagen beibringen, dann klassisches Repertoire, das braucht viel Zeit. Und dann soll er oder sie noch improvisieren können und alle anderen pädagogischen und organisatorischen Aufgaben lösen, die sich durch Schule und Unterricht definieren. Weil es eben sehr schwierig ist, dieses Spektrum zeitlich unterzubringen, ist der Grundgedanke an der MHL, einer gewissen Utopie zu folgen. Es ist ein Prozess, der über Jahre gesehen, sehr fruchtbar ist. Man lernt Einiges, ohne es zu merken. Das ist immer noch das beste Studium, auch wenn man gar nicht in den Schuldienst möchte“, sagt Laurens Patzlaff.

Der ganzheitliche Aspekt steht im Zentrum des „Angewandten Klavierspiels“, für den die Integration diverser Fertigkeiten und Fähigkeiten wesentlich ist. Die Entwicklung der letzten 100 Jahre gerade in Deutschland verlief nämlich zweigleisig: auf der einen Seite gab es die klassischen Pianisten, die Repertoire interpretieren, und auf der anderen Seite komponierende und improvisierende Jazzmusiker: „Historisch gesehen war das ursprünglich anders, denn im 18. und 19. Jahrhundert gab es diese Spezialisierung für Pianisten noch nicht. Improvisation und andere Elemente sind in den Jazz verdrängt und durch die Trennung von klassischer Komposition und Interpretation weitgehend ignoriert worden. Dieser Befund wirft die generelle Frage nach dem Inhalt von Musikunterricht auf: Sollen nur musikhis-
torische Fakten und Beispiele vermittelt werden, oder soll Lehre nicht gerade von Künstlerpersönlichkeiten gestaltet werden?

Wie wir von anderen und aus eigenen Erfahrungen wissen, ist das individuelle kreative Profil äußerst wichtig. Ich hatte damals einen Musiklehrer, der mich sehr inspiriert hat, insbesondere was die Improvisation betrifft“, erzählt Laurens Patzlaff. „Angewandtes Klavierspiel erscheint zwar oberflächlich als rein praktisches Werkzeug, kann aber den künstlerischen Prozess sehr unterstützen. Und warum sollte ich vor einer Klasse nicht meine Fähigkeiten als Pianist zur Geltung bringen? Nicht im Sinne einer One-man-Show, sondern im Sinne einer musizierenden Klasse. Wenn man das gut macht und es groovt, singen die Schülerinnen und Schüler gerne mit. Fehlen einem diese künstlerischen Kompetenzen und man lässt immer nur Playbacks laufen, bleibt man ein rezeptiver Akteur.“

Insofern kann „Angewandtes Klavierspiel“ als ganzheitliches Konzept sowohl Studierende als auch Schülerinnen und Schüler motivieren, sich Musik als kommunikativem Medium unbefangen von stilistischen und historischen Grenzen zu nähern und anzueignen.

Interpret und Improvisator: Laurens Patzlaff im Porträt

Die Improvisation ist der Schwerpunkt der künstlerischen und pädagogischen Tätigkeit von Laurens Patzlaff. Der 1981 in Stuttgart geborene Pianist begann im Alter von acht Jahren Klavier zu spielen. Schon bald begeisterte er sich für die fast grenzenlosen stilistischen Möglichkeiten des Klaviers und widmete sich, neben dem Erlernen des klassischen Repertoires, intensiv der Improvisation. Der „Bildungsmusiker“ Robert Schumann und der Jazzpianist Oscar Peterson gehören zu seinen wichtigsten Vorbildern, und sie sind als Persönlichkeiten und mit ihrer Stilistik für Laurens Patzlaff Repräsentanten einer ganzheitlichen Musikästhetik. Laurens Patzlaff studierte Schulmusik mit dem Verbreiterungsfach Jazz- und Popularmusik an der Musikhochschule Stuttgart. Darüber hinaus studierte er Klavier als künstlerisches Fach bei Prof. Friedemann Rieger in Stuttgart und bei Prof. Uta Weyand in Madrid. Neben seiner internationalen solistischen Tätigkeit spielt er in verschiedenen Jazz-Bands und ist auch als Kammermusiker aktiv.

Er arbeitete mit diversen Orchestern zusammen, und sein Schaffen ist mit zahlreichen Rundfunkaufnahmen dokumentiert. Im November 2012 veröffentlichte er sein viel beachtetes Debütalbum „Reflections on Debussy“, auf dem er Werke des Komponisten mit eigenen Improvisationen verknüpft. Er lehrt seit 2007 Klavier-Improvisation an der Musikhochschule Stuttgart und unterrichtet in Freiburg und Trossingen. Darüber hinaus gibt er regelmäßig Meisterkurse für Klavier und Improvisation, u.a. an den Musikhochschulen von Melbourne, Sydney, Hongkong, Peking und am Hunter College in New York City. Seine rege Konzerttätigkeit als Solist, Kammermusiker und Jazzpianist führte den mit vielen internationalen Preisen ausgezeichneten Pianisten durch verschiedene europäische Länder sowie nach Australien, Neuseeland, Ostasien, Lateinamerika sowie regelmäßig nach China und in die USA. Im Jahr 2013 wurde Laurens Patzlaff auf die deutschlandweit erste Professur für Angewandtes Klavierspiel an die Musikhochschule Lübeck berufen.

Pianist und Musiklehrer: Christoph Gerl im Porträt

Christoph Gerl begann im Alter von sechs Jahren zu musizieren und landete über elektronische Heimorgel, Akkordeon, Steirische Harmonika und Kirchenorgel schließlich beim Klavier. An der Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar studierte er Lehramt Gymnasium mit dem Schwerpunkt „Schulpraktisches Klavierspiel“. Anschließend studierte er Jazzpiano (bei Chris Beier) und Chorleitung (bei Jörg Straube) an der Musikhochschule in Würzburg. Das Spektrum seines musikalischen Wirkens und vor allem Begleitens (egal auf welchem Tasteninstrument) ist weit gefächert und reicht von Chanson und Musikkabarett über klassische Liederabende bis hin zum Pianist im Improtheater und zur musikalischen Leitung von Theaterproduktionen wie „Das Wirtshaus im Spessart“ oder „Die Sekretärinnen“.Beim Bundeswettbewerb Schulpraktisches Klavierspiel Grotrian Steinweg in Weimar gewann er 2000 den Gesamtpreis aller drei Runden, bestehend aus Liedbegleitung, Partiturspiel und Improvisation, Disziplinen, die es auch im Musikunterricht an Schulen zu meistern gilt. Seit 2006 arbeitet Christoph Gerl als Lehrer für Musik und Darstellendes Spiel an der Theodor-Mommsen-Schule in Bad Oldesloe und musiziert täglich vom Klavier aus mit seinen Lerngruppen Musik aus Vergangenheit und Gegenwart.

Daneben leitet er in Hamburg den Popchor Cantaloop, mit dem er 2013 den dritten Preis beim Festival in Aarhus und 2016 den ersten Preis beim Deutschen Chorfest in Stuttgart gewann. Seit 2013 betreut er zudem als einer von drei Hauptdozenten die Ausbildung Chorleitung Stufe B (Jazz/Pop) an der Bundesakademie in Wolfenbüttel und gibt regelmäßig Kurse (z.B. am Nordkolleg in Rendsburg) in den Themenfeldern Arrangieren, Klavierbegleitung sowie Chor- und Ensembleleitung. Als Dozent an der Musikhochschule Lübeck hat er seit Oktober 2017 die Mittelbaustelle im Fach Angewandtes Klavierspiel inne und verbindet somit Lehre und Praxis auf besondere Weise.

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