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Analoges Klavierspiel mit Computeranschluss

Untertitel
Pädagogische, künstlerische und wissenschaftliche Einsatzmöglichkeiten des Disklaviers
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Als 1905 die Freiburger Firma M. Welte & Söhne das „Welte-Mignon-Reproduktionsklavier“ auf den Markt brachte, wurden Camille Saint-Saëns, Raoul Pugno, Ferruccio Busoni und Xaver Scharwenka gebeten, Frédéric Chopins Nocturne Fis-Dur op. 15 Nr. 2 einzuspielen, um zu beweisen, dass deren künstlerische Einmaligkeit aufgezeichnet, auf Papierrollen vervielfältigt und mittels der Klaviere beziehungsweise Flügel wiedergegeben werden konnte.

Die Interpretationsunterschiede der vier Pianisten waren e­norm und geben interessante Anhaltspunkte zur Aufführungspraxis zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Hingewiesen sei auf die Veröffentlichung von Hermann Gottschewski („Die Interpretation als Kunstwerk“, Laaber: Laaber-Verlag, 1996). Diese historischen Klangbeispiele wurden im Abendkonzert am 10. April 2019 im Rahmen des Kongresses „Zwischen Elfenbeinturm und Employability – Wissenstransfer als Herausforderung musikbezogener Forschung“ des Forschungs- und Lehrzentrums Musik an der Hochschule für Musik Freiburg einer Liveaufführung gegenübergestellt.

Um diesen Fragestellungen zeitgemäß nachgehen zu können, setzen wir an der Musikhochschule Freiburg seit 2007 Disklaviere ein. Disklaviere sind von der Substanz her rein akustische Klaviere oder Flügel, die zusätzlich ein eingebautes Aufnahme- und Wiedergabesystem besitzen, das ein Computer steuert. 1987 von Yamaha auf den Markt gebracht, setzt sich die bis heute weltweit verwendete Bezeichnung aus (Floppy-)Disk und Klavier zusammen. Beim Spielen zeichnet ein kontaktfreies Sensorensystem (Graustufenauslösung per Lichtwellenleiter) die Hammer-, Tastenanschlags- und Tastenfreigabegeschwindigkeit jeder Taste mit bis zu 1024-facher Genauigkeit auf, achtmal genauer als es normale MIDI-Daten ermöglichen. Die Verwendung des Dämpfungsaufhebungspedals wird bis zu 256-fach differenziert aufgezeichnet, Una-Corda- und Tonhaltepedalbewegungen werden ebenfalls gespeichert.

Bei der Wiedergabe wird die Taste am hinteren Ende von servogesteuerten Hochleistungsmagneten (high-power servo-controlled solenoids with supersensitive magnetic sensor, key/hammer sensor feedback) nach oben beschleunigt, sodass die Tonerzeugung wie üblich über die Klaviermechanik durch den Anschlag des Hammers auf die Saite erfolgt. Entsprechend erfolgt die Pedalwiedergabe1.

Diese feine Differenzierung ist Voraussetzung, Klavierspiel praktisch originalgetreu aufzeichnen und wiedergeben zu können. Die weiteren Anwendungen basieren auf dieser Genauigkeit2.

Aufnehmen, Wiedergeben, Modifizieren

Per App oder Fernbedienung steuert man den Flügel. Nach erfolgter Aufnahme des eigenen Spiels kann man bei der Wiedergabe den Klang im Raum erleben, durch die realen Tas­tenbewegungen (der Flügel scheint von Geisterhand gespielt zu werden) sieht man aber auch zufällig berührte Tasten, die noch nicht zu einem „klingenden Fehler“ geführt haben. Zusätzliche Erkenntnisse bringt die Wiedergabe mit modifiziertem Tempo. Anschlagsqualität, rhythmische Genauigkeit, Zusammenspiel der Hände sind zum Beispiel in halbem Tempo frappierend klar zu hören. Eine Erhöhung des Tempos kann andererseits Übeziele veranschaulichen. Die Möglichkeit der Transposition ist besonders für Sängerinnen und Sänger interessant.

Didaktische Spielanalysen

Moderne Sequenzerprogramme stellen das Eingespielte in der Piano-Roll-Notation ganz ähnlich den ursprünglichen Klavierrollen dar. Grafisch anschaulich sieht man hier am Beispiel der Takte 258 bis 262 der Klavierstimme von Franz Schuberts „Der Hirt auf dem Felsen“ (Abb. 1), dass im oberen Beispiel (Abb. 2) noch am Tonleiterspiel gearbeitet werden muss (1), die eigentlich einfache Akkordbegleitung der linken Hand ungleichmäßig und mit Tonausfällen gespielt ist (2) sowie der Daumen der ersten Oktave zu früh weggenommen wird (3). Im unteren Beispiel (Abb. 3) erkennt man das Bestreben, durch gleichmäßige Tonüberlappungen das geforderte legato zu realisieren (4). Der qualitative Unterschied vom unteren zum oberen Beispiel kann mittels Disklavier hörbar vorgeführt und optisch anhand der Tastenbewegungen gesehen werden. Auch die dynamischen Parameter, der Pedaleinsatz oder die Zeitgestaltung lassen sich so hören oder am Computer verändern und dann vergleichend erleben. Ausgangspunkt ist immer das eigene Klavierspiel, die resultierende Motivation für Studierende ist enorm.

„Wii“ möchte ich spielen?

Neben der feindifferenzierten Spielanalyse und gegebenenfalls Nachjus­tierung lassen sich aber auch mittels einer Fernbedienung die beiden Hauptparameter Tempo und Dynamik in Echtzeit steuern. In Freiburg setzen wir hierfür eine Wii-Fernbedienung ein3 oder Hot Hand USB Wireless MIDI Controller. Intuitiv lässt sich so nur durch Drehen und Kippen der Fernbedienung die Interpretation verändern. Grenzen lassen sich ausloten, die Vorstellung kann frei entwickelt werden, bevor durch einen Übeprozess das klangliche Ziel erreicht wird. Sängerinnen und Sänger können das sie begleitende Disklavier „führen“4, über Notensatzprogramme und MIDI ausgegebene Kompositionen oder Begleitungen können dynamisch und agogisch flexibel wiedergegeben werden.

Künstliche Interpretationen, „unspielbare“ Kompositionen

Hypothesen zur Aufführungspraxis können mittels künstlich erzeugter Interpretations-Realisierungen ausprobiert und verglichen werden. Hermann Gottschewski hat so zum Beispiel eine Interpretation des Anfangs der Sonate op. 1 von Alban Berg programmiert5 und mit namhaften Interpreten verglichen.

Nicht erst seit Conlon Nancarrow üben selbstspielende Klaviere einen großen Reiz auf Komponisten aus. Welcher Pianist, welche Pianistin kann schon mit 140 Anschlägen pro Sekunde das Klavier fast transzendental zum Klingen bringen, wie es „Canon X“ am Ende benötigt? Ähnlich physisch überfordernd wäre „Orion“ von Otfried Büsing6. Aber auch rhythmisch komplexe Strukturen, die durch irrationale Tonlängenverhältnisse entstehen, lassen sich so erforschen und ausprobieren7, ebenso schnell wechselnde Resonanztöne, die durch stumm gedrückte Tas­ten erzeugt werden.

Vom-Blatt-Spiel

Gerade durch die Veränderungsmöglichkeiten hinsichtlich Tempo, Tonart/Transposition, die Möglichkeit, eine Stimme vorab aufzunehmen, zu der dann hinzugespielt werden kann und alles erneut aufzunehmen (re-record) ergeben sich vielfältige Einsatzmöglichkeiten des Disklaviers8.

Digitale Vernetzung

Bei der Koppelung mit einer Videokamera zeichnet diese die Steuerungssignale für den Flügel sowie das Video auf, was beim Abspielen synchron wiedergegeben wird. So kann beispielsweise bei einem vierhändigen Klavierstück eine Stimme akustisch und optisch wiedergegeben werden, während die andere live hinzuge­spielt wird9. Über das Internet lassen sich Disklaviere verbinden, sodass sogar über Kontinente hinweg musiziert oder unterrichtet werden kann10. Die Steuersignale des Primärinstruments lassen die anderen Klaviere mitspielen. Über eine zweite Verbindung kann das Video­signal übertragen werden11.

Forschung

Die Möglichkeit der digitalen Aufzeichnung des analogen Klavierklangs in Datensätzen erlaubt es, das Disklavier auch in der anwendungsbezogenen Forschung einzusetzen. Im Freiburger Forschungs- und Lehrzentrum Musik hat sich in Kooperation zwischen der Klavierabteilung (Christoph Sischka) und dem Freiburger Institut für Musikermedizin der Hochschule für Musik Freiburg (Claudia Spahn und Manfred Nusseck) eine Arbeitsgruppe gebildet, welche Fragen des differenziellen Übens sowie der Effekte pädagogischer Konzepte mittels des Disklaviers untersucht.

Anmerkungen

1 weitere Erläuterungen: https://youtu.be/dZymZcBKidE
2 Zum Überblick über die Einsatzmöglichkeiten des Disklaviers siehe Sischka, C. (2016) Von “Welte-Mignon” zu virtuellem Musizieren. Das Yamaha Disklavier in der Klavierdidaktik, bei der Interpretationsanalyse und als musikalisches Kommunikationsmedium. In: EPTA European Piano Teacher Association Sektion Deutschland (Hrsg.) Im Mittelpunkt: Das Instrument. Staccato Verlag, 70-78.
3https://youtu.be/lscz9q0jmOA  
4https://youtu.be/L1Ia6fpz4V8
5https://youtu.be/gEzeGRdp-5A  
6https://youtu.be/xGGUAOMBB8Q
7http://fusehime.c.u-tokyo.ac.jp/gottschewski/musica/2F/gottschewski-de…  
8 Sischka, Christoph/Nusseck, Manfred/Spahn, Claudia (2018) Analoge Digitalisierung – Zum praktischen Einsatz des Disklaviers in der klavierpädagogischen Ausbildung. In: üben & musizieren 3/2018, musikschule )) DIREKT. Schott Music Mainz, Seite 06-07.
9https://youtu.be/F07SgWpcZ_o  
10http://fudder.de/skype-wii-und-midi-wie-die-musikhochschule-freiburg-ne…  
11https://youtu.be/50p1unSO4z8

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