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Aphorismen, neue Spieltechniken und vielerlei Lesarten

Untertitel
Neue Ausgaben: Konzerte, Kammermusik und Sololiteratur für das Violoncello · Zusammengestellt von Holger Best
Publikationsdatum
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Edouard Lalo: Cellokonzert d-Moll. Bärenreiter Urtext BA 6999) – Edward Elgar: Cellokonzert e-Moll op. 85. Bärenreiter Urtext BA 904

Früher war’s ganz einfach: bei der Suche nach einer zuverlässigen und gut lesbaren Urtext-Ausgabe griff man, wann immer möglich, auf die in zurückhaltendem Blau gestalteten Bände des Henle-Verlags zurück. Daran hat sich im Prinzip nichts geändert, außer dass dem Henle-Verlag Konkurrenz erwachsen ist – länger schon mit den Ausgaben der beiden originalen Brahms-Cellosonaten bei Schott/UE Urtext, in den letzten Jahren aber unter anderem auch mit Breitkopf & Härtel (Cellokonzerte von C.Ph.E. Bach, Boccherini und Schumann), der Edition Peters (Tschaikowsky-Variationen) und dem Bärenreiter-Verlag, der jetzt die Cellokonzerte von Lalo und Elgar als Urtext-Ausgaben herausgebracht hat. Erhältlich sind Cellostimme mit Klavierauszug, außerdem Partitur und Orchestermaterial. Das Lalo-Konzert hat Hugh Macdonald veröffentlicht und sich dabei auf den in der Nationalbibliothek Paris befindlichen autographen Klavierauszug gestützt. Macdonald konnte nachweisen, dass Lalo diesen als „Arbeitspartitur“ nutzte und am Konzert auch nach der Veröffentlichung Veränderungen vornahm. Die Edition bietet damit erstmals Lalos eigene Bogensetzung und Artikulation; abweichende Lesarten listen die Critical Notes (nur auf englisch) auf. Das Vorwort (englisch/französisch/deutsch) informiert über die Entstehung des Konzerts und zitiert interessante Passagen aus Lalos Korrespondenz und Notaten auf den Autographen. Die Cellostimme ist wegen besserer Blätterstellen mehrfach ausklappbar und enthält – wie bei solchen Ausgaben üblich – keinerlei Zusätze eines cellistischen Herausgebers.
Das Elgar-Konzert hat Jonathan Del Mar in gewohnt zuverlässiger Weise ediert und dabei wo immer möglich Elgars eigene Notationsweise im Einzelnen beibehalten. Eine signifikante Abweichung vom bekannten Text ist der hier als Cadenza bezeichnete Takt 12 des 2. Satzes, und die textkritisch problematischen Stellen (Orientierungsziffern 22 und 27) sind ausführlich anhand zweier historischer Aufnahmen unter Elgars Dirigat im Kritischen Bericht verhandelt. Der Critical Commentary (nur englisch) ist überhaupt eine prachtvolle Dreingabe: Er enthält das farbig abgelichtete Faksimile der gesamten Solostimme mit Eintragungen des Cellisten der UA, Felix Salmond, dazu Ausschnitte autographer Skizzen und die erste Seite der gedruckten Solostimme aus dem Besitz von Beatrice Harrison. Harrison war die Solistin der zwei von Elgar dirigierten Einspielungen und ihre Noten sind voller Eintragungen, die mutmaßlich auf einem intensiven Gedankenaustausch mit dem Komponisten beruhen. Der Commentary listet die-
se Einzeichnungen, sofern heute noch aufführungsrelevant, vollständig auf. Der 24-seitige Textteil des Critical Commentary enthält eine kritische Würdigung aller Quellen und informiert im Einzelnen über alle Lesarten. Die Cellostimme ist heutigen Usancen gemäß frei von jeglichen Einrichtungen sowie Fingersätzen. Beide Ausgaben beruhen auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, ihre Ausstattung und Lesefreundlichkeit sind auf allerhöchstem Niveau. Zu beneiden sind diejenigen, die erst in heutiger Zeit ihre Cello-Bibliothek zusammenstellen!

Carl Ph.E. Bach: Cellokonzert B-Dur Wq 171. Breitkopf Urtext EB 8783 und PB/OB 5509

Einen wesentlichen Zuwachs erhielten diese Erzeugnisse (d.h. Konzerte für das Violoncello) noch durch andere Tonsetzer, welche nicht Cellospieler waren. Vor allem sind hier an hervorragenden Größen Carl Ph. E. Bach und Joseph Haydn zu nennen. Der erstere komponierte ein Violoncellokonzert, der letztere mehrere derartige Stücke. Mittlerweile ist die Forschung doch ein bisschen weitergekommen seit 1911 und Wasielewskis Buch über das Cello: Der Werkkatalog des ersteren listet drei Konzerte, der des letzteren zwei nachweislich echte derartige Stücke auf. Allerdings ist nur ein Konzert C.Ph.E. Bachs im Autograph vorhanden (das in a-Moll Wq 170), die beiden anderen sind nur in Abschriften überliefert. Nachdem über 100 Jahre ins Land gegangen sind, seit Fr. Grützmacher das a-Moll-Konzert als „Hohe Schule des Violoncellspiels Nr. 4“ bei Breitkopf veröffentlicht hatte, wurde und wird es Zeit für eine kritische Neuedition. Diese hat nun Ulrich Leisinger – nach der ersten des a-Moll-Konzertes 2004 – auch für das Konzert B-Dur vorgelegt. Er hat damit einen unschätzbaren Beitrag zur Rezeption der weithin unbekannten Werke geleistet, die eine Generation vor und um Haydn (zu der auch Wagenseil, L. Hofmann, Cirri und Pleyel gehören) entstanden sind. Das Konzert voller Anmut und Grazie scheint nicht übermäßig schwer (der Tonumfang der Solostimme überschreitet mit einer Ausnahme nicht das b’), es sollte aber nicht unterschätzt werden. Speziell und voller Humor ist der 3. Satz, der so tut, als sei er von Vivaldi, dann aber mit typischen Figuren des musikalischen Sturm und Drang überrascht. Die Ausgabe fußt vornehmlich auf der Mitte der 1790er Jahre entstandenen Abschrift von Bachs Hauptkopist Johann Heinrich Michel, die heute in Brüssel lagert. Der Klavierauszug und die Partitur erscheinen mit einem informativen, die Quellen ausführlich würdigenden deutsch/englischen Vorwort. Den Klavierauszug erstellte – wie übrigens auch den Notensatz – der Herausgeber selbst. Die Hefte erscheinen im neuen Breitkopf-Urtext-Layout (mit dem „neuen Engel“ als Frontispiz) und werden auch äußerlich höchsten Ansprüchen gerecht.

Rainer Lischka: Vier Temperamente für Violoncello solo. Hofmeister FH 2662.

Leider schweigt sich die Ausgabe sowohl über den Komponisten als auch über das Umfeld des Stückes aus. Die 4 Sätze (Melancholisch – schwer, Sanguinisch – bewegt und leicht, Phlegmatisch – gemächlich schwingend, und Cholerisch – sehr erregt und schnell) sind kurz, zwischen 1,5 und 3,5 Minuten lang, und können damit den gewichtigen Titel nur aphoristisch andeuten. Sicher handelt es sich um eine Gelegenheitsarbeit, denn die Musik ist einfach und nicht zu schwer zu spielen. Tonalitäten sind eher gestreift als für die Faktur konstitutiv und manche nur schwer nachvollziehbare Notation dürfte dem Computerprogramm geschuldet sein. Über den Druckfehler im 2. Satz (arco fehlt) klärt das kleine Tondokument in der Homepage auf. Unterhaltsamkeit und Leichtigkeit, in der ernsten Musik oft als oberflächlich oder gar verlogen denunziert, sind für mich erstrebenswerte, wenn auch schwer herstellbare künstlerische Qualitäten. So ist es.

Elizabeth Austin: Circling – Kreisen für Violoncello und Klavier.

Die Komponistin schreibt zu ihrem Stück: Die geometrische Figuren andeutenden Kreise zu Beginn jedes der vier Sätze spiegeln die musikalische Beziehung zwischen den beiden Ausführenden und ihre zwischenmenschlichen Stimmungen. Das Fehlen von Gleichzeitigkeit im 1. Satz sucht eine gewisse Unnahbarkeit und das Gefühl von Isoliertheit darzustellen. Der ,Pas de deux’ des 2. Satzes setzt einen Dialog in Gang, woraufhin das ,Schießscheiben’-Spiel des 3. Satzes eine neckische Verabredung bedeutet. Die ineinandergreifende Quasi-Modalität des Schlusssatzes beschwört Entschlossenheit und Einigkeit. Austin wurde 1938 in den USA geboren, studierte dort und am Conservatoire Américaine in Fontainebleau bei Nadia Boulanger. Sie war Mitbegründerin des Program for Bilingual Careers in Mannheim und erhielt den Preis der Connecticut Commission on the Arts für 1996/97. Das 1982 geschriebene Stück fordert neue Spieltechniken vom Cellisten und Pianisten, der überdies ein Paar Fingerbecken benötigt. Im 1. Satz stehen sich mensurierte Musik (Klavier) und unmensurierte (Cello) gegenüber, der 4. Satz kann geradezu als homophon bezeichnet werden. Das Stück gilt eher nicht als wichtiger Neuzugang des Repertoires für Cello und Klavier. Die ziemlich handgestrickt wirkende Ausgabe ist wenig lesefreundlich; sie enthält zwei Spielpartituren.

Michael Gregor Scholl: Concert für Violoncello und Kammerorchester.

Der 42-jährige Scholl kann auf einige Erfolge als Komponist zurückblicken. Leider schweigt sich der Lebenslauf über die näheren Umstände dieser Komposition aus – man wüsste zum Beispiel gern, ob der Titel nur englisch oder doch antiquiert gemeint ist, wie der Geburtsort „Cöln am Rhein“ nahe legt? Oder ob der „Componist“ Scholl mit der attacca-Dreisätzigkeit und der Tempobezeichnung „Rasch, mit Feuer“ Schumann evoziert und dessen op. 73 fortschreibt? Oder ob die frühklassische Orchester-Besetzung (je zwei Oboen und Hörner, Streicher), die mit einigem Schlagzeug (ein Spieler) und einem cor anglais im langsamen Satz angereichert wird, Programm hat? Fragen, deren Beantwortung fürs erste offen bleibt. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass Scholl sich einen subtilen Witz leistet gleich G.B. Shaw, von dem die Legendesagt, dass er sich in musikalischen Kreisen in eine Partitur zu versenken beliebte, die er falsch herum las. Das Stück ist für Cello ziemlich unangenehm geschrieben, es liegt oft sehr hoch und ist mitunter unnötig kompliziert notiert. Der Orchestersatz ist trotz der fünf Schlaginstrumente fast immer leicht und luzide, die Streicher sind gelegentlich mehrfach geteilt. Ein ausgesprochenes Ärgernis ist die Ausgabe wegen der unmäßig vielen möglichen und tatsächlichen Druckfehler, derer ich beim ersten Lesen über 20 zählte. Ist es so dringlich, in der Hinsicht des schludrigen Korrekturlesens der Edition Kunzelmann Konkurrenz machen?

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