Hauptbild
Jürgen Oberschmidt, Linda Reisch und Elena Bashkirova. Foto: Laura Schulz
Jürgen Oberschmidt, Linda Reisch und Elena Bashkirova. Foto: Laura Schulz
Banner Full-Size

Auf den Spuren eines großen Reformers

Untertitel
Eindrücke von der BMU-Tagung in Potsdam mit Verleihung der Kestenberg-Medaille an den Musikkindergarten Berlin
Publikationsdatum
Body

Einen markanteren Tagungsort hätte man kaum wählen können. Fast im Herzen der preußischen Militärtradition, in den Nebengebäuden jenes Neuen Palais zu Potsdam, in dem Kaiser Wilhelm 1914 die Kriegserklärung unterzeichnete, besann sich der BMU (Bundesverband Musikunterricht) auf die preußische Bildungstradition. Den 100. Jahrestag des Erscheinens von Leo Kestenbergs wegweisender Denkschrift „Musikerziehung und Musikpflege“ würdigte der Verband mit einer Arbeitstagung und der Verleihung der Leo-Kestenberg-Medaille an den Musikkindergarten Berlin.

Carl Parma, Vorsitzender des Berliner BMU-Landesverbandes, blickte in seiner Laudatio auf die Entstehung des Musikkindergartens vor 16 Jahren zurück: „Die Tatsache, dass Berlin pleite war, und die Devise ‚Sparen bis es quietscht‘  – hinterließen einen veritablen Flurschaden im Bereich der Musikpädagogik, insbesondere da nach PISA alles in die MINT-Fächer ging. Musikpädagogische Impulse mussten demnach von außen kommen.“ Derjenige für den Musikkindergarten kam von Daniel Barenboim, Leiter von Staatsoper und Staatskapelle Berlin. Pamela Rosenberg, lange Zeit Vorsitzende des Trägervereins, verlas das Grußwort des Dirigenten, der sich zur Zeit der Preisverleihung mit seinem Orchester auf Europatournee befand.

„Es schließt sich ein Kreis“, begann Barenboim und berichtete, wie er 1952 mit seinen Eltern nach Tel Aviv kam und den 1938 dorthin emigrierten Kestenberg als freundlichen älteren Nachbarn kennenlernte. Dieser habe ihm viel über das Berlin der 1920er Jahre erzählt und ihm dabei beiläufig die Idee der „Erziehung durch Musik“ vermittelt – oder der „Erziehung zu Menschlichkeit mit und durch Musik“, wie es Kestenbergs Vorgesetzter, der langjährige preußische Kultusminister und Hochschulreformer Carl Heinrich Becker, formulierte. Mit der Gründung des Berliner Musikkindergartens folgten Barenboim und seine Mitstreiter der Devise, die in der Denkschrift das Kapitel „Musikalische Erziehung“ eröffnet: „Jedes Kind ist von seiner frühesten Jugend an musikalisch beeinflussbar. Schon der Kindergarten kann den Grundstein zu einer allgemeinen produktiven und rezeptiven Teilnahme am musikalischen Geschehen legen, die durch die häusliche Erziehung gefestigt werden sollte.“

Wie eine solche Erziehung aussehen kann, zeigte der beim Festakt eingespielte Kurzfilm über die Arbeit des Musikkindergartens: Neugierig und wach verfolgt da eine Kindergruppe die Vorführung der Klarinette durch einen Musiker der Staatskapelle. Ein kleiner Junge untersucht minutenlang und in größter Ruhe eine Rahmentrommel. Eine Schar von Kindern im Wald hält sich Äste wie ein Blasinstrument vor den Mund – darunter auch eine „Querflöte“, wie die Spielerin den anderen Kindern erklärt. Ausführlich und detailreich entfaltet ein Mädchen die Fantasievorstellung von einer Gruppe gefräßiger Hühnerküken auf einem Stück Baumrinde. „Ich bin der Dirigent,“ instruiert ein Steppke seine Kameraden. Eine zum Spiel benutzte Gitarre wird sorgfältigst wieder weggestellt.  In der Aufführung „Papagenos Glöckchen“ gelingt eine altersgemäße Annäherung an Mozarts „Zauberflöte“.

Linda Reisch ist die Geschäftsführerin des Berliner Musikkindergartens. In Frankfurt war sie als Kulturdezernentin Nachfolgerin des SPD-Kulturpolitikers Hilmar Hoffmann, dessen legendäres Credo „Kultur für alle“ sie in ihrer Dankesrede bildungspolitisch akzentuierte: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Überwindung unserer deutschen Chancenungerechtigkeit in der Bildung am besten und am erfolgreichsten durch eine frühe musikalische Bildung zu erreichen ist. Wir sehen es bei uns: Musik erreicht alle Kinder, völlig unabhängig von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund. Sie gibt ihnen die Basis für ihre Sprachentwicklung, für Bewegung, für räumliches Wahrnehmen, für mathematische Grundlagen, für soziales Miteinander, fürs Gestalten. Sie zeigt ihnen Wege zu den eigenen Emotionen und den Gefühlen anderer. Und sie macht Freude – eine der Grundbedingungen fürs Lernen-Können.“ Reisch nennt hier elementare Faktoren musikalisch-menschlichen Lernens und Lebens, die weit über das Kindergartenalter hinaus reichen. In welchem Maß sie der Bildungspolitik entfallen sind, klang auf der gesamten Tagung immer wieder durch. Im eingespielten Film äußerte Barenboim die Hoffnung, die aus dem Musik-Kindergarten hervorgegangenen Kinder würden später an der Grundschule „Revolution machen“ und den fehlenden Musikunterricht einfordern. Aber zu stark stehen wohl Trägheit und Beharrungsvermögen des Systems dem entgegen, und zu wenig scheint das Fach Musik sich selbst seiner Bedeutung bewusst.

Reisch würdigte ausführlich ehemalige und derzeitige Mitarbeiter des Projekts und erinnerte: „Kestenberg wollte Bildungsschranken überwinden, wollte den Klassencharakter musikalischer Bildung aufbrechen. Er hat groß gedacht, hat Traditionen und Ideen ineinandergreifen lassen, hat viele bunte Blumen dabei blühen lassen […] Qualitätsmaßstäbe waren ihm entscheidend. […] In der Frage, wie diese zu erreichen sind, war er offen.“ Für die Gegenwart fand sie harte Worte: „Heute haben wir stattdessen Verbände mit klaren Interessenvertretungen, die definieren, wie und vor allem durch wen die musikalische Bildung zu erreichen ist. Mit dem Ergebnis: Seit Jahrzehnten bewegt sich nichts. Man möchte schreien: Lest Kestenberg!“ Elena Bashkirova, aktuelle Vorsitzende des Trägervereins, hatte schon vorher den Stoßseufzer geäußert: „Ich hoffe, so ein Mensch kommt wieder.“

Der Beschworene, der 1932 nach dem Staatsstreich der rechtsorientierten Reichsregierung unter Franz von Papen aus dem Amt entlassen wurde, hatte als Musikreferent und Ministerialrat im preußischen Kultusministerium bis dahin viel erreicht – deutlich mehr jedenfalls, als man einem Nichtakademiker, Konzertpianisten und sozialistischen Kulturpolitiker jüdischer Herkunft mit böhmischem Migrationshintergrund im stark polarisierten Deutschland der 20er Jahre zugetraut hätte. Wilfried Gruhns Experten-Vortrag „Ein gefesselter Prometheus. Kestenberg, sein Bildungsplan und dessen bildungstheoretische Grundlagen“ zeigte eindrücklich, wie stark der Gewürdigte vernetzt war und welche Bandbreite an Anregungen, Erfahrungen und Überzeugen er in seinem pragmatisch gedachten Gesamtkonzept musikalischer Bildung zu verbinden wusste. Man muss sich die Situation von 1921 vorstellen: Deutschland hatte einen Weltkrieg verloren und eine Revolution hinter sich, die den einen zu weit ging, den anderen nicht weit genug; man hatte eine Wirtschaftskrise, Aufstände von rechts und von links und bürgerkriegsähnliche Unruhen. Und dennoch scheint es in der Politik genügend Übereinstimmung gegeben zu haben, dass Kunst und Kultur, wenn nicht Heilmittel, so doch wenigstens Hilfsmittel beim Weg aus der Krise sein könnten.

Friedhelm Brusniak, der über „Kes­ten­bergs Bedeutung für unser heutiges Musikleben“ sprach, konnte zu diesem Punkt aktuelle Gegenbeispiele aufführen. Laut BMU-Präsident Jürgen Oberschmidt hat die Corona-Pandemie gezeigt, „dass Musik in der Schule eben doch als ein schmückendes Lebensornament und ein nice-to-have angesehen wird, auf das wir über kurz oder lang auch mal verzichten können.“ Entsprechend prekär erscheint daher zur Zeit die Lage des Schulfaches, das seine Stellung ja gerade den Kestenbergschen Reformen verdankt. „Mit dem Spagat zwischen Künstler, Lehrer und Wissenschaftler begründete Kestenberg einerseits die permanente Überforderung des Schulmusikers, bot ihm andererseits die Chance für eine umfassende musikalische Bildung.“ So formulierte es Gruhn im Kommentar zur aktuell wieder aufgelegten Denkschrift von 1921. Die Überforderung ist seitdem noch gewachsen, denn im Grunde müssen Schulmusiker oder Schulmusikerin heute vermehrt auch Politiker(in) in eigener Sache sein. Ein einflussreicher Schutzpatron wie seinerzeit Kestenberg im damals größten und dominierenden deutschen Bundesland ist nicht in Sicht und in der zerklüfteten föderalen Bildungslandschaft auch kaum zu erwarten.

Auffällig sind die Aufrufe zur Selbstkritik innerhalb des Fachs. Carl Parma betonte: „Oberste Maxime ist nicht die Musikalisierung zum Zwecke früher instrumentaler Unterweisung, sondern die Einleitung musikalischer Bildungsprozesse, die die Beschäftigung mit Musik als ein Lebensmittel begründen.“ Und Jürgen Oberschmidt bedauert, „dass unser Musikunterricht häufig in einem Stadium steckenbleibt, bei dem uns die Auseinandersetzung mit Kunst vorenthalten bleibt und auf später verschoben wird. So wird Musikunterricht zu einem einzigen Warm-Up.“ Die Arbeitsgruppen am Folgetag widmeten sich folgenden Aspekten: 1. Gesamtkonzept musikalischer Bildung, 2. Schule im überfachlichen Bildungsverständnis, 3. Potenziale des Künstlerischen im Musikunterricht, 4. Aus- und Weiterbildung, 5. Stärkung des Individuums, 6. Schule als Lern- und/oder Lebensraum. Infolge der gedrängten Tagungsregie wurden Ergebnisse hier nur in Ansätzen sichtbar. Eine gute Botschaft konnte man aber bereits beim Festakt mitnehmen: Die Eröffnung der ersten musikalischen Grundschule in Berlin-Pankow (noch unter dem überkommenen Namen „48. Grundschule“) im September durch Bildungssenatorin Sandra Scheeres in Anwesenheit von Daniel Barenboim. „Es schien ihr ein echtes Anliegen zu sein,“ formulierte Carl Parma hoffnungsvoll.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!