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Almut Kühne. Foto: Stefan Pieper
Almut Kühne. Foto: Stefan Pieper
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Auf der Suche nach gesellschaftlicher Relevanz

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Viele Fragen und einige Antworten auf der Messe jazzahead
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Drei Tage des kommunikativen Sich-treiben-Lassens auf der jazzahead machten einmal mehr klar, was Jazz heute vor allen ist: ein internationaler Markt – und der rotierte in den Bremer Messehallen. Musiker suchen Anschluss bei Plattenfirmen und Veranstaltern. Labels loten Vertriebswege aus. An den Länderständen wird erfahrbar, dass Jazz etwas Gewachsenes ist, das ohne eine Herkunftsregion, ohne einen regionalen Nährboden kaum funktionieren würde. Und beim Reden über Jazz überwogen einmal mehr die Fragen und nicht die Antworten.

Wie begegnet man den strukturellen Herausforderungen in diesem Kultursegment? Wie finden junge Musiker Anschluss an eine Hörerschaft? Wie können Musiker den Spagat zwischen den Überlebensgesetzen des Marktes mit der persönlichen künstlerischen Vision in Einklang bringen? Ist der Blick überhaupt noch frei für Visionen, wenn es vor allem um Existenzsicherung geht?

Zu solchen Fragen öffnet gerade die Union Deutscher Jazzmusiker den akademischen Werkzeugkasten, um im Herbst eine Studie über die berufliche Situation von Jazzmusikern in Deutschland vorzulegen. Ob die Fokussierung allein auf die Berufssituation der Musiker der Komplexität eines ganzen Kulturphänomens gerecht wird, das wird sich zeigen. Auf jeden Fall wurde in mehreren Podiumsdiskussionen schon mal ausgiebig über die Methoden und Wirklichkeiten diskutiert. Fazit vor allem: Einfache Erklärungen gibt es wohl kaum.

Wolf Kampmann ist auf der jazz­ahead mit dem Preis für Jazzjournalismus ausgezeichnet worden. Weil er – vorbildhaft für die schreibende Zunft – die „journalistische Arbeit in den Dienst des Lebens“ zu stellen weiß. Man müsse sich mal wieder den Zeitgeist vor Augen rufen, aus dem heraus Jazz einst mal  zur „Stimme einer Bürgerbewegung“ wurde, plädierte der Preisträger in einem spätabendlichen Gespräch mit Radio Bremen.

Viele gesellschaftspolitische Themen der 1960er-Jahre seien doch kaum noch von der heutigen Wirklichkeit entfernt – humanitäre Katastrophen, Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, Rassismus in Deutschland, in den USA und anderswo und immer krasser werdende Unterschiede zwischen arm und reich. Die Kultur müsse doch endlich wieder auf so etwas reagieren, um relevant zu bleiben: „Wenn wir beim Reden über Musik wieder zu aktuellen Themen finden, bestehe auch wieder die Chance, eine Massenbasis für das Hören von Jazz zu finden“, schloss Kampmann sein Plädoyer.

Die jazzahead ist eine Leistungsschau der Plattenlabels. Diese begegnen den aktuellen Absatzproblemen mit Marketingstrategien, die so individuell sind, wie die dahinter stehenden Philosophien. Jürgen Czisch setzt beispielsweise bei seinen verschiedenen Labels und Vertriebskanälen auf eine möglichst starke Ausdifferenzierung, um den vielen Untermilieus und Zielgruppen maßgeschneidert gerecht zu werden.

Das von Patrik Landolt kuratierte Schweizer Intakt-Label punktet mit einer stringenten, organisch gewachsenen corporate identity. Bei aller stilistischen Vielfalt der Produktionen ist die künstlerische Haltung kompromisslos – das alles wird zu einer Farbe, zu einem besonderen Erlebnis von Authentizität.

Ein Heimspiel auf der Messe hatte das junge Berthold-Label aus Bremen. Sie bauten mit Abstand den originellsten Messestand auf, konterkarierten also das nüchterne Messeambiente mit plüschigem Wohnzimmer-Flair. Bei sowas kann man ruhig mal auf die Popwelt schauen, die hier meist viel frecher und bunter zu Werke geht. Nicht minder lebendig spüren die Bremer spannende Nischen im Spannungsfeld zwischen Jazz und Kammermusik auf.

Die grenzenlose Freiheit der improvisierten Musik braucht neue Präsentationsformen, wenn sie wirken soll. Der erstarrte Rahmen der üblichen Frontalkonzerte funktioniert vielfach nicht mehr. Ganz besonders frisch wehte der Wind beim letzten Südtirol Jazzfestival Alto Adige. Dies machte in Bremen ein Dokumentarfilm hautnah erfahrbar: Da greifen improvisierende Musiker unmittelbar in die schwindelerregende Artistik von Freeclimbern ein. Unter den beängstigenden Überhängen der Langkofel-Wand tun sie dasselbe, was ein aufgeweckter Geist auf seinem Ins­trument schafft: Sich hellwach und in höchster Achtsamkeit unmittelbar auf den Moment zu fokussieren.

Wenn Formationen und Künstler in Bremen bei den Showcase-Konzerten aufspielen, wünschen sie sich, dass Veranstalter und Booker zugegen sind, damit neue Auftrittsmöglichkeiten herausspringen. Aber es wurden in den Messehallen und im Kulturzentrum Schlachthof auch sämtliche Auftritte vom Laufpublikum bestens gefeiert. Die Öffnung der jazzahead zu einem großen Publikumsfestival trägt in Bremen auf jeden Fall dazu bei, Jazz aus seiner elitären Aura weiter herauszulösen.

Das vorgegebene Dreißigminutenformat stachelte zahllose Formationen dazu an, ihr Bestes ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen: Etwa Gebhard Ullmann, der auf Bassklarinette und Saxophonen eine atemberaubende Konfrontation mit der Stimmakrobatik von Almut Kühne anzettelte. Pianist Omer Klein machte derweil im Trio sämtliche Argumente hörbar, die ihn zurzeit auf die Titelseiten der Magazine bringen.

Und wenn man von gesellschaftlicher Relevanz in Zeiten einer brennenden Weltsituation spricht, fühlte es sich dann doch eine halbe Stunde lang wärmend und versöhnlich an, als sich mit dem ukrainischen Pianisten Vadim Neselovskyi und dem russischen Hornisten/Alphornspieler Arkadiy Shilklo­per zwei Menschen poetisch und humorvoll miteinander musizierend über alle schnöden und barbarischen Völkerkonflikte erhoben.

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