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Ignace Strasfogel im Jahr 1991. Foto: Kolja Lessing
Ignace Strasfogel im Jahr 1991. Foto: Kolja Lessing
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Aus der Zeit gefallen, aber nicht gescheitert

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Das Schaffen des Komponisten Ignace Strasfogel ist noch zu entdecken · Von Isabel Herzfeld
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Seit etwa 30 Jahren werden die Werke nationalsozialistisch verfolgter Komponisten (wieder)entdeckt, analysiert, archiviert und – leider noch zu selten – auch aufgeführt. Erwin Schulhoff, die „Theresienstädter“ Komponisten, Berthold Goldschmidt und viele andere finden mehr oder weniger einen Platz im Konzertleben. Der Name Ig­nace Strasfogel ruft immer noch fragend hochgezogene Augenbrauen hervor.

Die Gründe sind vielfältig. Strasfogel war zu jung, als Komponist noch zu unentwickelt, als er Deutschland verlassen musste. Als namenloser Tonsetzer konnte er im USA-Exil nicht Fuß fassen. Für ein umfassendes Anknüpfen an frühe Erfolge war es – als es die Gelegenheit für eine „Renaissance“ gab – zu spät. Doch die Brüche dieses Musikerlebens sind auch einer Persönlichkeit geschuldet, die aus übergroßer Bescheidenheit im Grunde die Öffentlichkeit scheute, also kaum in der Lage war, sich zu „vermarkten“ und auf Erfolglosigkeit und Kränkung mit Rückzug reagierte.

Zunächst aber ließ sich seine Karriere vielversprechend an. Ignaz Strasfogel, wie er sich bis zu seiner Emigration 1933 schrieb, wurde 1909 in Warschau geboren. Sein Vater, der jüdische Kaufmann Leisor Strasfogel, starb früh, die Mutter Sura siedelte mit dem dreijährigen Sohn nach Berlin über, wo ihr finanziell besser gestellter Bruder lebte. Sie verfügte über hervorragende Deutschkenntnisse, so dass die Anpassung an das neue Milieu keine Mühe bereitete. Ignaz sprach Deutsch quasi als seine Muttersprache. Das Berlin der „Zwischenkriegszeit“ mit seinen politischen und kulturellen Umbrüchen, seiner Aufbruchstimmung und Experimentierfreude prägte seine künstlerische Entwicklung. Erst mit neun Jahren erhielt er Klavierunterricht, doch er war insofern ein „Wunderkind“, als sich sein Talent rasant entfaltete. Privatstunden in Harmonielehre und Kontrapunkt nahm der Elfjährige bei Dr. Samuel Lieberson, die zum Leidwesen des Lehrers erst drei Jahre später kompositorische Früchte trugen.

Die erste erhaltene Komposition ist die „Callot“-Suite für Klavier, die sich ebenso auf „8 Kupferstiche von J. Callot“ bezieht wie auf E.T.A. Hoffmanns „Fantasiestücke in Callots Manier“, mithin im Rückgriff auf alte Tanzformen wie Gigue oder Courante ebenso Traditionsbindung aufzeigt wie den fantastisch-grotesken Ausbruch aus derselben. Die Vorliebe Strasfogels für historische Formen und die Komplexität ihrer sie mit zeitgenössischen Ausdrucksweisen konfrontierenden oder in sie überführenden Verarbeitung ist charakteristisch für seinen Stil geblieben. In Franz Schrekers „Theorieklasse“, in welche Strasfogel während der Arbeit wechselte, entstand eine zweite Fassung, die neue Aspekte hervorhob, andere zurückdrängte.

Bis 1927 studierte er Komposition bei diesem charismatischen Lehrer und großen Opernkomponisten, dessen Klasse wohl die vielfältigste ihrer Zeit genannt werden kann. Mit Berthold Goldschmidt, Vladas Jakubenas, Grete von Zieritz, Zdenka von Ticharich, Wladyslaw Szpilman trafen hier die unterschiedlichsten Musikerpersönlichkeiten aufeinander. Strasfogel war bei seinem Eintritt mit vierzehn Jahren der jüngste Schüler und wurde vielfach für den Begabtesten gehalten. Die Erste und Zweite Klaviersonate schlossen sich der Callot-Suite in rascher Folge an, beides pianistisch höchst anspruchsvolle, fantasiereiche Werke, die rhythmische Schärfe mit expressiver, zuweilen nahezu „zwölftönig“ gespannter Melodik verbinden. Seit er 16-jährig die Premiere von Alban Bergs „Wozzeck“ in Berlin erlebt hatte, war Strasfogel von dessen Klangsprache fasziniert. Später, in der Spielzeit 1929/30, konnte er als Korrepetitor an der Düsseldorfer Oper den „Wozzeck“ einstudieren und seinem Schöpfer auch kurz begegnen – ohne ein Wort mit ihm zu sprechen.

Kleine Form, intime Besetzung

Für seine zweite Klaviersonate erhielt der Achtzehnjährige den Mendelssohn-Preis, ein Jahr später, nach Abschluss seiner Studien bei Schreker in Komposition und Leonid Kreutzer in Klavier, ging er mit dem berühmten Geiger Josef Szigeti auf Welttournee, auf der seine pianistischen Leistungen viel Zuspruch durch Presse und Publikum erhielten. Dennoch waren es finanzielle Probleme, die ihn eine sichere Laufbahn gegenüber einer Existenz als freier Komponist und Pianist vorziehen ließen. So absolvierte er noch einmal ein Dirigierstudium bei Julius Prüwer und war nach dem Gastspiel in Düsseldorf als Korrepetitor an der Berliner Staatsoper tätig, unter Erich Kleiber und Leo Blech – bis 1933.

Zu den Werken dieser fruchtbaren, erfolgreichen Berliner Zeit gehören noch ein erstes Streichquartett, das Strasfogel selbst nicht sonderlich schätzte, ein erstes Scherzo für Klavier sowie mehrere Transkriptionen für Klavier nach Orchesterstücken von Franz Schreker. Es ist erstaunlich, dass Strasfogel, der doch die flimmernde Klangwelt seines Lehrers und auch die Farbigkeit Alban Bergs gut kannte, außer einigen (verschollenen) Bühnenmusiken aus den Jahren 1930 und 1943 für Inszenierungen Max Reinhardts kein einziges Orchesterstück geschrieben hat. Auch später, während oder nach Dirigenten- und Korrepetitionstätigkeiten an verschiedenen Opernhäusern, hätte es nahegelegen, seine immensen Orchestererfahrungen auch kompositorisch zu verwerten. Doch Strasfogels introvertierter Natur entsprach die kleine Form und intime Besetzung. Lieber nahm er in seiner kongenialen Transkription der Kammer­sinfonie von Franz Schreker die orchestrale Reichhaltigkeit ganz ins Klavier zurück, ließ quasi in der Fantasie des Hörers, erweckt durch die Anschlagskünste eines Pianisten, überbordende Klangsinnlichkeit entstehen. 

Dass man diese unmittelbar, im Live-Konzert, erleben kann, ist eigentlich das Verdienst eines einzelnen Mannes: Der Pianist, Geiger und Musikforscher Kolja Lessing stieß während seiner Beschäftigung mit Schrekers Kompositionsklasse auch auf Strasfogel, besuchte diesen in seiner neuen New Yorker Heimat, setzte sich für seine Werke ein. Inzwischen hat Lessing eine kenntnisreiche, persönlich gehaltene Strasfogel-Biografie mit umfangreichen Werkbesprechungen und einige CD-Einspielungen vorgelegt.

Verspätete Uraufführungen

Doch im Konzert erklungen ist bisher nur wenig. Lessing holte Strasfogel 1991 zu den „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum, wo der die Kammer­sinfonie spielte. Ein Porträtkonzert in Recklinghausen brachte einige Werke „mit vierzigjähriger Verspätung“ zur Uraufführung. Der damals schon hochbetagte Komponist wünschte sich etwas Ähnliches in Berlin, das er, anders als manche Kollegen, trotz bitterer Erfahrungen mit versöhnungsbereitem Realitätssinn wieder als seine Heimatstadt angenommen hatte.

Doch das war erst zwei Jahre nach seinem Tod möglich, in Zusammenarbeit mit musica reanimata, dem Verein „zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke“. Sechsundzwanzig Jahre später fand das zweite mr-Konzert zum Thema Strasfogel statt, wieder von Lessing ini­tiiert. Das Programm reflektierte die drei Schaffensperioden Strasfogels: Lessing präsentierte in Klaviertranskription das „Lied der Els“ aus der Oper „Der Schatzgräber“ von Franz Schreker. Wie in der Kammersinfonie kann die Klavierfassung auch hier das Glitzern von Harfe und Celesta, von flirrenden Streichern und schärferen Bläserfarben einfangen.

Strasfogel emigrierte 1933 sofort nach New York, sein polnischer Pass erleichterte ihm die Beschaffung des Visums. Ein halbes Jahr später war er schon mit der Musikkritikerin und -pädagogin Alma Lubin verheiratet, die ihm fortan die offiziellen Wege ebnete. Seine glänzenden pianistischen Fähigkeiten verschafften ihm, neben anderen Engagements, die Position eines „Official Pianist“ des  New York Philharmonic Orchestra. 1940 wurde Sohn Ian geboren. Bedrückend war diese Zeit kurz nach Kriegsausbruch in Europa dennoch: Mehrere Verwandte seines Vaters wurden in den Todeslagern von Auschwitz und Sachsenhausen ermordet, und auch seiner Halbschwester Gustawa Gutsztejn, deren Spur sich im besetzten Frankreich verliert, konnte er nicht helfen. Strasfogel sprach nie über seine polnische Familie. Bis 1946 komponierte er keine Note.

Nach Kriegsende und der Geburt des zweiten Sohnes Andrew war dies für kurze Zeit wieder möglich: Für den Freund Andrés Segovia schrieb er „Prélude, Elegie und Rondo“ für Gitarre. Segovia hat es niemals aufgeführt, die Chance, mit einem berühmten Interpreten als Komponist wieder in Erscheinung treten zu können, wurde vertan. Die Uraufführung fand 1991 in Recklinghausen statt. In Berlin präsentierte Johannes Monno eine fragile und dennoch dichte Musik, die Strasfogel als genuinen Melodiker ausweist, harmonisch konzilianter, „gemäßigt modern“ gegenüber den frühen Berliner Werken. Die „Variations on a Well-known Tune“ aus demselben Jahr 1946 hingegen, dem damals sechsjährigen Sohn Ian gewidmet, frappieren durch den Witz, mit dem ein amerikanischer Country Song mal im Haydn’schen Quartettsatz, in strenger Kontrapunktik à la Hindemith oder gar als verknappte Parodie der Szene „Samuel Goldenberg und Schmuyle“ (Big Brother and Baby Brother) aus Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ erscheint. Die Hoffnung Strasfogels, der 1937 amerikanischer Staatsbürger geworden war, mit dem eher populär gehaltenen Werk einen Nerv des amerikanischen Publikums zu treffen, erfüllte sich jedoch nicht.

Am Klavier blühte er auf

Als Komponist verstummte er für weitere 35 Jahre. Er, der in Schrekers Kompositionsklasse einmal „übermütig“ genannt wurde, der mit der „Callot“-Suite fast kraftmeierisch-ehrgeizig begonnen hatte, wurde nun der scheue, zurückgezogene Mensch, der seine Kompositionen auch dann nicht erwähnte, wenn es sich angeboten hätte. Dabei blühte er am Klavier förmlich auf, verblüffte als genialer Improvisator, tat sich als Operndirigent durch untrügliches Gespür für klangliche Balance hervor und war als Pädagoge äußerst erfolgreich. Doch gerade seine Dirigentenkarriere lief nicht ohne Kränkungen ab. Als „Assistant Conductor“ an der Metropolitan Opera New York, eine Position, die er von 1951 bis 1973 innehatte, war er hauptsächlich mit Einstudierungen und Korrepetition betraut. Wenn er auch zunehmend Aufführungen dirigieren durfte – die meist sehr positiv besprochen wurden –, so doch niemals eine Premiere.

An der Opera du Rhin in Strasbourg, wo er von 1974 bis 1979 wirkte, ließ man den Unmut über hausgemachte Probleme an ihm aus – auch mit Buhrufen, die ihn an die Anfeindungen der Nazizeit erinnerten. Plötzlich galt er in Europa wieder als „Ausländer“. Die Rückkehr nach New York ermöglichte die erfreulichere Arbeit am Mannes College of Music. Doch erst nach dem Rückzug von öffentlichen Aufgaben als Dirigent und Pädagoge fand er wieder Mut und Muße zum Komponieren. Von 1983 bis 1992 entstand noch ein Alterswerk, aus dem vor allem Liedzyklen für befreundete Sänger, die „Four Millay Songs“ und „Dear Men and Women“ hervorragen. Doch Aufführungsmöglichkeiten ergaben sich auch diesmal nicht. So knüpften sich nach Lessings „Entdeckung“ die Hoffnungen an Deutschland, an Berlin.

Doch 1991, drei Jahre vor Strasfogels Tod, war das zu spät. Die Alzheimer-Krankheit, die seine musikalischen Fähigkeiten erstaunlicherweise nicht beeinträchtigte, kündigte sich bereits 1992 an. Strasfogels Komponistenkarriere wurde mehrfach abgebrochen, blockiert und negiert. „Gescheitert“ ist er dennoch nicht. Als Mensch und Musiker stemmte er sich gegen die ihm zugefügten Kränkungen und Verletzungen, ohne zu verbittern. Sein schmales Œuvre, das gewiss „aus der Zeit gefallen“ sich gegen die Zeitläufte behauptet, lohnt der Entdeckung.

Buch-Tipp:
Kolja Lessing: Ignace Strasfogel (1909–1994). Leben und Werk (Schriftenreihe Verdrängte Musik, Band 24). von Bockel Verlag, Neumünster 2022, 308 S., ISBN 978-3-95675-037-3, 25,00 Euro

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