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Die neue Schachtel wurde in eine alte Hülle eingebaut. Außen pfui – innen hui! heißt es nun bei der Ersatzspielstätte für Zürichs ehrwürdige Tonhalle. Fotos: Hannes Henz
Die neue Schachtel wurde in eine alte Hülle eingebaut. Außen pfui – innen hui! heißt es nun bei der Ersatzspielstätte für Zürichs ehrwürdige Tonhalle. Fotos: Hannes Henz
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Außen pfui – innen hui

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Nachschlag 2017/11
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Den Schweizern sagt man bedächtige Langsamkeit nach. Ein Vorurteil. Der Gotthard-Basistunnel wurde ein Jahr früher fertig als geplant. Und innerhalb eines Jahres bekam die sanierungsbedürftige Tonhalle in Zürich eine Ersatzspielstätte. Kosten durfte es auch nur 10 Millionen Franken, weil das Geld für ein Provisorium im Etat des Umbaus vergessen wurde.

Den Schweizern sagt man bedächtige Langsamkeit nach. Ein Vorurteil. Der Gotthard-Basistunnel wurde ein Jahr früher fertig als geplant. Und innerhalb eines Jahres bekam die sanierungsbedürftige Tonhalle in Zürich eine Ersatzspielstätte. Kosten durfte es auch nur 10 Millionen Franken, weil das Geld für ein Provisorium im Etat des Umbaus vergessen wurde.

In München rechnete der Stadtrat zuletzt mit 35 Millionen Euro für eine Ersatz-Philharmonie.

Ganz vergleichbar sind die Zahlen allerdings nicht: An der Isar geht man derzeit von einem frei stehenden Gebäude mit 1.800 Plätzen neben der Trafohalle gegenüber dem Heizkraftwerk aus, in Zürich wurde der Saal für 1.224 Besucher in eine bestehende Fabrikhalle eingebaut.

Trotzdem liefert die dortige Lösung viel Anschauungsmaterial für die ewige Konzertsaal-Debatte in der bayerischen Landeshauptstadt. Die kreist nicht nur um die Sanierung des städtischen Gasteig, sondern auch um den vom Symphonieorchester des Bay­erischen Rundfunks gewünschten Neubau im Werksviertel hinter dem Ostbahnhof, den der Freistaat finanzieren wird. Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs werden voraussichtlich Ende Oktober vorgestellt.

Der soll in fünf, sechs Jahren zwischen der Knödelgasse und der Püreelinie im ehemaligen Pfanni-Gelände entstehen.

Die neue Adresse der Tonhalle lautet ähnlich: Zahnradstraße 24. Die liegt im Westen der Schweizer Metropole, etwa 10 Tram-Minuten vom Hauptbahnhof entfernt und in der Nähe einer Haltestelle der S-Bahn.

Im Umfeld befindet sich nicht nur Zürichs größte Autowaschanlage, sondern auch die Zweitspielstätte des Schauspielhauses, der Schiffbau. In den letzten Jahren entstanden in diesem ehemaligen Industriegebiet (teure) neue Wohnungen und Hotels für Geschäftsreisende. Auch Start-ups, Dienstleistungsunternehmen, die Musikhochschule und die Zentrale eines großen Mobilfunkers haben hier angesiedelt.

Lunch-Mobile verbreiten in der Mittagszeit einen Hauch von New York, der Zürich sonst abgeht. Zwischen neuen Hochhäusern steht die alte Fabrik der Maag AG, in der früher Getriebe, Pumpen und Zahnräder hergestellt wurden. Ein kleinerer Teil des Gebäudes beherbergt die Maag Music Hall, in der bisweilen Paul Kalkbrenner auflegt und Musicals gespielt werden.

Im größeren Rest wurden früher Techno-Partys gefeiert. Hier ist nun die Tonhalle eingezogen. Ein gemeinsames Foyer bringt zwanglos die Zielgruppen beider Säle zusammen. In einem zweiten Pausenraum hängt noch ein riesiger Spiegel aus der vergangenen Club-Ära. Das verbreitet einen für Konzertsäle ungewohnten Charme des Provisorischen, der Lust macht, nach der Hochkultur hier ein profanes Bier zu trinken.

Ein paar Meter weiter riecht es nach Wald.

Der neue Konzertsaal wurde als Holzkiste in eine alte Industriehalle hineingestellt. Damit sich die Abonnenten nicht groß umgewöhnen müssen, hat ihn das Züricher Architekturbüro Annette Spillmann und Harald Echsle in den Formen der Tonhalle errichtet – als Schuhschachtel mit umlaufendem Balkon, nur ohne Belle-Époque-Stuck und um 300 Plätze reduziert.

Geplant wurde in enger Absprache mit der Tonhallen-Intendantin Ilona Schmiel. Für die Akustik sorgte der Münchner Karlheinz Müller – einer der wenigen Konkurrenten des allgegenwärtigen Yasuhisa Toyota. Er ist auch an der Sanierung der Tonhalle beteiligt. Bei der Eröffnung mit Beet­hovens Neunter und der Uraufführung des Bratschenkonzerts von Brett Dean kamen vor allem in leise, kammermusikalische Passagen gut heraus. Im Forte legte sich ein dezenter Hall wie ein Weichzeichner auf die Musik. Der von Lokalpatrioten gezogene Vergleich mit dem Luzerner KKL wirkt deshalb etwas überzogen.

In der Tonhalle Maag wird 2019 Paavo Järvi als Nachfolger des Kurzzeit-Chefdirigent Lionel Bringuier antreten. Gastdirigenten wie Herbert Blomstedt, Charles Dutoit oder John Eliot Gardiner bleiben dem Tonhalle-Orchester auch in der Umbauphase gewogen. er als schwierig geltende Pianist Krys­tian Zimerman wird im März Leonard Bernsteins „The Age of Anxiety“ spielen. Auch Gastorchester wie das London Symphony Orchestra unter Simon Rattle haben ihr Kommen angekündigt.

Das Publikum wurde mit Baustellenführungen auf den Umzug vorbereitet. 20 Prozent der Abonnenten haben trotzdem gekündigt – weniger als befürchtet.

In Zürich versteht man das als Chance für einen Generationswechsel, der mit neuen Formaten wie Kurzkonzerten am frühen Abend und Jam-Sessions im Foyer weiter befördert werden soll.
Auch das ist eine Lehre, die man für München ziehen sollte: Der Wechsel in eine andere Spielstätte muss lustvoll kommuniziert werden. Die Erst-Besucher der Tonhalle Maag wirkten allerdings begeistert – und so etwas steckt mehr an als Werbung.

Mancher sagt schon jetzt: Dieser sachliche Saal ist viel zu schön, um ihn nach drei Jahren wieder abzureißen. Damit rechnet offenbar niemand. Möglicherweise wird er von der Musikhochschule weitergenutzt. Und auch Pop, Jazz und Weltmusik sind ständig auf der Suche nach neuen Räumen.

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