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Die vollständige Studie ist im Internet abrufbar unter: www.singingeurope.org
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Belastbare Zahlen vom Chorkontinent Europa

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Die Studie „Singing Europe“ – ein Gespräch mit Sonja Greiner, Generalsekretärin der ECA/Europa Cantat
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Ende März des vergangenen Jahres waren erste Teilergebnisse veröffentlicht worden, nun liegt das komplette Zahlenwerk der Studie „Singing Europe“ vor. Diese war Teil von „VOICE – Vision on Innovation for Choral Music in Europe“, eines europäischen Projekts für die nachhaltige Entwicklung und Erneuerung des Chorsingens.

Demnach ist die Zahl der in Europa aktiven Chorsänger/-innen deutlich höher als bisher angenommen. In den 28 EU-Ländern sind es 22,5 Millionen, auf dem ganzen europäischen Kontinent inklusive Russland 37 Millionen. Bisherige Schätzungen waren von etwa 20 Millionen Chorsängern und -sängerinnen in Kontinentaleuropa ausgegangen. Sie verteilen sich auf etwa 625.000 Chöre in den EU-Staaten und zirka einer Millionen Chöre oder Ensembles in Kontinentaleuropa. Mit knapp fünf Millionen Chorsängerinnen und -sängern (in 116.500 Chören oder Ensembles) liegt der Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland bei über sechs Prozent, innerhalb der EU machen deutsche Chorsängerinnen und -sänger einen Anteil von 21,3 Prozent aus. Für die Studie haben erstmals verschiedene Chorverbände, Musikpädagoginnen und -pädagogen und Forschungsinstitute im Rahmen eines gro-ßen mehrjährigen Projekts kooperiert. Die Koordination lag bei der European Choral Association – Europa Cantat. Mit deren Generalsekretärin Sonja Greiner hat sich für die nmz Juan Martin Koch unterhalten.

neue musikzeitung: Was war der Ausgangspunkt Ihrer Studie, was das Ziel?

Sonja Greiner: Wenn man mit Politikern über Chorarbeit allgemein oder über bestimmte Projekte spricht, möchte man gerne sagen können, für wie viele Menschen der Verband steht, wie viele Menschen das Thema betrifft. Also haben wir erst einmal versucht herauszufinden, wie viele Mitglieder wir haben. Aber es geht ja auch um den Rest. Vor einigen Jahren hatten wir dazu eine Schätzung gemacht und waren bei 20 Millionen Chorsängern in Europa inklusive Russland gelandet. Das war aber sehr grob geschätzt und wir wollten nun wissen, ob wir mit dieser Zahl vollkommen übertreiben, ob sie stimmt oder ob es vielleicht noch mehr Sänger sind. Gleichzeitig wollten wir qualitativ etwas mehr über Chöre in Europa herausfinden.

nmz: Wie kamen Ihre Zahlen zustande?

Greiner: Um die Gesamtzahl der Sängerinnen und Sänger zu ermitteln, haben wir mithilfe unserer Mitgliedsverbände verschiedene Wege eingeschlagen. Wir haben auf Studien zurückgegriffen, die es in einigen Ländern schon gab, zum Beispiel aus entsprechenden Ministerien. Dann gab es Zahlen aus dem „Eurobarometer“, wo allerdings nur sehr allgemein danach gefragt wurde, ob man in den vergangenen zwölf Monaten gesungen habe. In Deutschland war das Musikinformationszentrum eine wichtige Quelle, zum Thema Schulchöre außerdem eine von der Kultusministerkonferenz in Auftrag gegebene Studie. In Slowenien und Rumänien haben wir Forschungsinstitute beauftragt und die Italiener haben selbst eine Studie angestoßen, um das Ergebnis mit unseren Zahlen zu vergleichen und zu bestätigen (die Abweichung lag bei nur 0,3 Prozent).

nmz: Was kam dabei heraus?

Greiner: Das Ergebnis hat uns positiv überrascht, da wir aufgrund der Ergebnisse von circa 37 Millionen statt der geschätzten 20 Millionen Sänger/-innen auf dem europäischen Kontinent ausgehen können. Insgesamt war es so, dass einige Länder glauben, dass wir ihre Zahl zu hoch angesetzt haben, andere glauben, dass die Zahlen für Skandinavien und das Baltikum zu niedrig sind. Die Gesamtzahl für den EU-Raum von 22,5 Millionen ist aber relativ präzise. Die Zahl für ganz Europa einschließlich Russland ist extrapoliert, weil wir weniger Studien haben. Aber wir wissen, dass Länder wie Russland, die Ukraine oder Weißrussland sehr aktive Chorländer sind, sodass der Durchschnitt dort nicht niedriger liegen wird als die 4,5 Prozent der Bevölkerung, die wir für die EU ermittelt haben.

nmz: Sie haben die Statistik für Schulchöre in Deutschland erwähnt, sind diese in den anderen Ländern auch mitberücksichtigt?

Greiner: Da haben wir kein einheitliches Bild. Bei manchen Statistiken wurde repräsentativ befragt, da waren Schulchöre dabei, bei anderen Daten nicht. Italien hat eine sehr junge Chorszene, was wohl auch an einer speziellen Initiative für Schulchöre liegt. In Estland ist Singen in der Schule Pflicht, was aber auch im Rahmen eines „Klassenzimmerchores“ stattfinden kann.

nmz: Welche Ergebnisse der Studie haben Sie am meisten überrascht?

Greiner: Die hohe Gesamtzahl von 37 Millionen Chorsängerinnen und -sängern hatten wir nicht erwartet. Wir waren ja sehr vorsichtig und dachten, wir hätten uns seinerzeit mit unserer Schätzung von 20 Millionen möglicherweise geirrt … Sehr interessant war der demografische Vergleich, da gibt es große Unterschiede in den Ländern. Meine Theorie ist, dass das etwas mit der Tradition der Chormusik im Land zu tun hat: Ist es eine alte Tradition, dann gab es nach dem Zweiten Weltkrieg auch schon viele Chöre, da wurden die Sänger in den Chören älter. Das gilt zum Beispiel in Deutschland für Männergesangsvereine. In Ländern wie Italien gab es vor 30 Jahren so gut wie keine Jugend- und Schulchöre, da wurde viel gemacht und nun sieht die Altersstruktur ganz anders aus. Auch Slowenien hat eine sehr junge Chorszene.

nmz: Sie haben auch inhaltliche Rückmeldungen über Fragebögen bekommen. Welche Ergebnisse halten Sie hier für bemerkenswert?

Greiner: Uns hat überrascht, wie viele Chöre angegeben haben, ein soziales Ziel zu verfolgen. Das heißt nicht, dass sie dieses immer erreichen, aber sie sagen: Wir singen nicht nur, weil wir Singen wichtig finden und Spaß daran haben, sondern auch, weil wir zur Integration beitragen wollen. 60 Prozent der Chöre haben dieses Ziel bezogen auf die Generationen und auf verschiedene kulturelle Hintergründe, wobei 40 Prozent angeben, dieses auch zu erreichen. Was Menschen mit Behinderungen betrifft, so liegen die Zahlen bei 20 und 10 Prozent. Man muss allerdings dazu sagen, dass die Ergebnisse aus den 4.000 ausgefüllten Fragebögen nicht repräsentativ sein müssen.

nmz: Singing Europe war ja eine Pilotstudie. Wie könnte es weitergehen?

Greiner: Da gäbe es viele Ansätze: Einige Länder sagen, dass sie unsere Zahlen nicht glauben – die ermuntern wir, selbst aktiv zu werden, und wie die Italiener selbst eine Studie in Auftrag zu geben. Dann wäre natürlich die Länderliste zu vervollständigen, in Osteuropa sind da noch weiße Flecken. Das gilt aber erstaunlicherweise auch für Luxemburg und Malta, wo man vielleicht nur einmal eine Woche lang das Internet durchforsten und telefonieren müsste. Über Facebook haben wir Reaktionen von Leuten bekommen, die fragen, warum es über ihr Land keine Zahlen gibt … Ideal wäre es, wenn sich nun ein Forschungsinstitut fände, das sich für das Thema interessiert und daran weiterarbeitet.

nmz: Die Initiative „Voice“ ist nun ausgelaufen. Ist eine Fortsetzung geplant?

Greiner: Wir haben einen Antrag für ein Folgeprojekt gestellt, im April erfahren wir, ob es klappt. In diesem Rahmen können wir ein wenig an den Zahlen weiterarbeiten, aber es ist kein großes Forschungsprojekt. Was wir beantragt haben, nennt sich „Choral Upgrade in Europe“. Hier geht es darum, was wir tun können, um das Bild der Chormusik in Europa zu verbessern, zu modernisieren, neue Schichten zu erreichen, sowohl als aktive Sänger/-innen, als auch als Zuhörer. Denn es ist zwar toll, dass 4,5 Prozent der Bevölkerung in Chören singen, aber das heißt eben auch, dass 95 Prozent es nicht tun …

nmz: Es wird also auch um das Image der Chorszene gehen.

Greiner: So ist es. Es gibt ja dieses Bild von schwarz gekleideten, ihre Noten festhaltenden älteren Menschen in der Kirche, die versuchen, Bach zu singen und es nicht können … Das merkt man zum Beispiel, wenn man mit dem Fernsehen über Chormusik spricht. Da heißt es dann, das sei nicht fotogen. Wenn man Politikern aber unsere illustrierte Studie zeigt, sagen die: Das sind ja interessante Bilder mit jungen Menschen, bunt und bewegt. Außerhalb der Fachwelt ist diese Facette häufig nicht bekannt und darauf zielt unser neues Projekt: Wie können wir zum Beispiel Chorleiter unterstützen, ihre Musik attraktiver zu machen – inhaltlich, durch die Orte, wo gesungen wird, durch Bewegung, durch Theaterelemente, durch Lichttechnik oder Verstärkung, und sie im Bereich Marketing fortbilden. Das existiert alles in Ansätzen, aber das wollen wir mit Modellprojekten verstärken und mit der Ausarbeitung von Lehrplänen für die Chorleiterausbildung.

nmz: Noch einmal zurück zur Studie: Was passiert nun mit den Ergebnissen?

Greiner: Die Chorverbände sollen sich mit der Studie beschäftigen und sie für sich nutzen. Deshalb gibt es die Übersetzungen der wichtigsten Ergebnisse ins Deutsche und Französische. Weitere Sprachen wären wünschenswert. Was uns betrifft, so hat jeder EU-Parlamentarier ein Exemplar mit Anschreiben bekommen und wir haben die Studie bei der EU-Kommission vorgestellt. Weitere Präsentationen 2016 sind geplant. Das hat einen doppelten Hintergrund. In Brüssel sagte mal ein Politiker zu mir: „Dann ist Chormusik ja gar keine Nischenkunst!“ Und dann hört man auch: „Sie arbeiten ja nur mit Profis zusammen.“ Es gibt also die Vorstellung, hier ginge es nur um Rundfunk- und Opernchöre. Hier müssen wir unsere Zahlen und Ergebnisse für die Lobbyarbeit nutzen, nicht zuletzt auch dort, wo Kürzungen in diesem Bereich drohen, wie etwa derzeit in Italien.

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