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Holger Noltze: World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution, Hamburg: Edition Körber 2020, 256 Seiten, Euro 20,-, ISBN 978-3-89684-280-0
Holger Noltze: World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution, Hamburg: Edition Körber 2020, 256 Seiten, Euro 20,-, ISBN 978-3-89684-280-0
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Brave New Music World

Untertitel
Zu Holger Noltzes elegantem Versuch, die Digitalisierung zu reiten
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„Ich bin ein riesiger, elektrischer Generator / Ich liefere Ihnen Licht und Kraft / Und ermögliche es Ihnen, Sprache, Musik und Bild / Durch den Äther auszusenden und zu empfangen / Ich bin Ihr Diener und Ihr Herr zugleich“. So sang und klang 1975 in „Die Stimme der Energie“ eben dieselbe aus dem Vocoder von Kraftwerk.

Ja, das war damals, als noch selber gelötet werden konnte und eine ehemals geheime Verschlüsselungstechnologie von Sprechfunk (Vocoder), weil in andere Medien abgewandert und somit strategisch unnütz geworden, auf dem Markt frei erhältlich war. Es war sozusagen die Kupferzeit der Digitalisierung, mit Seelenschmerz oder -freuden vermittels Kabel- und Bandsalat. Es war eine Welt physischer Regungen und Zuckungen, Wellen und Strömen, an deren dünnem Faden Menschen und Dinge gerade noch zusammenhingen. „Wir sind die Roboter,“ so besang Kraftwerk die leibhaftige Verbindung von Mensch und Maschine, wissend um Hegels Herr-Knecht-Dialektik, die in Schaltkreisen oder Kommunikationskabeln, um zu entscheiden, was gerade fließen oder wer eben Hochtechnologie kaufen darf, als Master-Slave-Prinzip Urständ feiern sollte. Das Prinzip waltet immer noch. Auch in Glasfaserkabeln, die alles simultan prozessieren, sagen immer noch Herren den Knechten die Plätze in kommunikativen Netzen an, um von diesen dafür Anerkennung zu erhalten   als Follower, Nutzer und im Lastschriftverfahren. Der Faden aber, das Kabel der Materialität ist gerissen, überflüssig, weil die Dinge, selber zunehmend verflüssigt, eben liquidiert wurden. In der digitalen Medienkonvergenz sind die Unterschiede der klassischen Medien bekanntermaßen verschwunden, Bild, Text und Ton gerinnen zu beliebig konvertierbaren Oberflächeneffekten, heruntergepegelten Interfaces, adressiert an eine technologische Rückständigkeit namens Mensch.

Das ist heutzutage die Lage und zugleich das Problem der Musik, wie wir sie bisher kannten dank ihrer Jahrtausende alten Materialität und Leiblichkeit und ihrer (zumindest fürs Abendland seit Guido von Arezzo) tausendjährigen Schriftlichkeit. Stets waren es Körper und Zeichen, die zueinander in Schwingungsverhältnisse gesetzt wurden. Heute bloß geschieht es unter Umgehung all des Buchstaben- und Notenkrams, schlicht weil Medien diese physiologisch unterlaufen. In dieser Lage will nun Holger Noltze, erfahrener Kulturjournalist und Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund, mit seinem neuen Buch „World Wide Wunderkammer“ wenn nicht Auswege, so doch Wege weisen. Die Hoffnungen des in Musik und Medien verschlagenen Mediävisten, welcher Noltze feiner Weise ist, ruhen dennoch auf dem Lesen von Bildern, Tönen und Texten, dem sinnlichen Nachvollzug der Zeichenketten und ihrer Deutung. „Was bedeutet das alles?“, fragt er so auch im Angesicht des WWW, um es zu lesen, um Chancen und Gefahren der Digitalisierung für die ästhetische Erfahrung abzuwägen. Er fragt angesichts der netzgestützten Überwältigung aller Vorstellungen und Wünsche, die er der „welten wunder überwal“ nennt – also wie Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ den Gral.

Also belesen und mit eloquentem Schwung über die Tastatur warb Noltze bereits 2010 in „Die Leichtigkeitslüge“ für eine größere Komplexitätstoleranz in der Musikvermittlung. Gegen häufig anzutreffende Trichter, durch die angesagte Kompetenzen dank der Musikunterfütterung nur so hineinrieseln, stritt er rechtens für eine „Offenohrigkeit“ auf Nahes wie Fernes, zugunsten „einer höheren Schönheit, die sich aus dem Zusammenklang des Verschiedenen ergibt“. Bildung, musikalische wie eine des Herzens heißt das, sollte auch eine Sache der Schriftlichkeit bleiben, von alphanumerischem Anschrieb, für dessen Nachvollzug das lesende Subjekt alle Zeit der Welt haben sollte, um darin enthaltene Informationen zu verarbeiten. Erfahrung, vor allem ästhetische, sollte ein Prozess der Komplexitätserfahrung bleiben. Durchaus auch lebenslang, da man unter anderem mit Beethovens Großer Fuge ja nie ans Ende kommt.

Eine Tour de horizon durch vielfältige Anwendungen digitaler Vermittlung von Kunst im Netz unternimmt das neue Buch dem entsprechend, von Anna Stumpfs sympathisch niedrigschwelligem how-to-opera.de etwa, über die enzyklopädischen Seiten des Frankfurter Städel bis hin zur Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker und dem virtuellen Streichquartett des dortigen Konzerthauses. Das alles und noch viel mehr wird interessiert betrachtet und von einer prinzipiell wohlwollenden Warte aus bewertet; immer im Hinblick darauf, ob die jeweiligen Anwendungen Erfahrungs- qua Beziehungsreichtum generieren, ob sie nicht bei der Präsentation des Ganzen den Detailreichtum wegfiltern. Daraus entstehen Handreichungen für den Betrieb, wie mit dem jeweiligen Content im Netz „intelligent“ umzugehen wäre, wie das, was sie machen, sich im neuen Medium qualitativ besser ausnimmt. Die Wunderkammern der Renaissance und des Barock legt Noltze hier den Anbietern nachdrücklich ans Herz: Kabinettstückchen alteuropäischer Gelehrsamkeit, welche wie im Setzkasten das fernste und das nächste Tote – Schrumpfkopf, Monochord, Stein usf. – miteinander zu verbinden verstand, nicht ohne den Glanz von solcherlei Deutungsmacht den jeweiligen Interpreten oder höfischen Auftraggebern nicht zukommen zu lassen. Wenn die Sachen solchermaßen im Streaming präsentiert werden, welches auch für die Klassik hier alternativlos anempfohlen wird, dann sollen Kuratoren von heute das Wissen um diese besorgen. Nun ja, diese Empfehlung wird auch dadurch nicht besser, dass Noltze zu Beginn einräumt, mit takt1 selber eine Onlineplattform für Klassik zu betreiben, gemeinsam mit dem seinerzeitigen Dortmunder und nunmehrigen Baden-Badener Intendanten Benedikt Stampa. Auch eine Art Medienkonvergenz.

Innovation in eine Richtung

Digitalisierung jedoch ist leider ein härteres Geschäft. Allen Stoff, den sie unter die Leute bringt, zermahlt sie in allerkleinste Partikel, Nullen und Einsen, um Wahrnehmung nicht zu gestalten, sondern selber zu „machen“. Aber „aus Zahlenreihen, Blaupausen und Schaltplänen [wird] niemals wieder Schrift, immer nur ein Gerät“, wie der Medien- und Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler es vor über 30 Jahren bereits wusste. Eine Rückkehr zu den Dingen alter Schriftlichkeit ist, abgesehen von ein paar in der Summe bedeutungslosen Vinyl-Freunden, in der Digitalisierung also gar nicht möglich. Innovation kennt nur eine Richtung, und was übrig bleibt, ist, bis auf immer neues technisches Gerät, so gut wie nichts.

Hohn aus der Werbeschleife

Oder das Lächeln auf dem Antlitz des Tigers, nachdem er die Dame aus Riga, die auf ihm ritt, verspeist hatte: „Danke, dass du mit Spotify Musik hörst. Im Ernst! Du könntest genauso gut Radio hören. Oder Schallplatten. Oder Kassetten. Oder auch ein Tonband. [Oder ins Konzert gehen. Oder gar selber spielen.] Falls du überhaupt weißt, wie so etwas aussieht. Aber du hast dich ganz klar für Spotify entschieden. Dafür möchten wir danke sagen. Und du kannst noch hunderte weitere Playlists hören.“ Der Hohn aus der Werbeschleife des Streamingdienstes über die Musik, wie sie die längste Zeit gewesen war, wird nur getoppt von seiner Gier, mit der er Nutzer wie Urheber gleichermaßen überzieht, auf dass sie niemals wieder Musik werden besitzen können, so wie sie es mit einem Notenblatt oder einer Aufnahme meinetwegen haben tun können. Und damit tun und lassen konnten, was sie wollten. Warum also sollten gerade Kunst- und Kulturgegenstände von dieser universellen Expropriierung und Kapitalisierung ungeschoren bleiben? Nur weil sie im Rahmen der Welthändel bedeutungslos erscheinen?

Mitnichten. Wenn nämlich schlicht alles – Saatgut, DNA-Sequenzen, Wasser, demnächst auch virenfreie Luft, Musik allemal – in den Maelstrom der Verwertung eingesogen wird, kann man auch jedes davor bewahren. Wenn also öffentliche Güter, für deren Erhalt bereits gezahlt wurde, in proprietäre Wahrnehmungsgegenstände verwandelt werden, dann könnten, müssen ihre Sachwalter auch Nein! sagen. Vor allem die, die öffentlich getragen werden, damit sie Kunst in angemessenen Räumen und bestmöglicher Qualität „in echt“ ausstellen und spielen – für die Leute. Ansonsten entzieht man ihnen zugunsten von Digitalisaten abermals die Werke und ihre ebenso fragile wie spektakuläre Ereignishaftigkeit, die einzig geschuldet ist dem Werk-, Schreib- und Denkzeug ihrer Zeiten. Da hilft es wenig, in Rembrandts Pinselstrich oder Mozarts Mittelstimmen online zoomen zu können, wenn das Virtuelle an deren Stelle tritt oder Jugendliche zum Beispiel. mit einer weltweit durchgedrückten Vorstellung von Musik aufwachsen, sie sei immer und überall da, wie etwa ein T-Shirt: Produkt namenloser Menschen und Werke in Bangladesch oder Kambodscha, Molochen von Arbeit in Armut, in welche sich die großen Kulturbetriebe schwuppdiwupp verwandeln können, von den Freien, die bereits einen Vorgeschmack davon haben, einmal abgesehen. Digitalisierung nämlich entwertet und vernichtet Arbeit: Das Musikland Deutschland etwa als große Digitale Konzerthalle gedacht, benötigte die 130 Orchester nicht, und wenn alles eingespielt ist, strenggenommen nicht mal das eine. Schöne neue Musikwelt aus lauter Idealität und ohne irdischen Rest. Was Noltzes insgesamt eleganter Zustandsbeschreibung vor allem des gegenwärtigen Klassikbetriebs daher rechterdings abgeht, ist, dass er sich nicht außerhalb der angesagten Diskurse und Techniken stellen will, weil er ihnen Gutes abgewinnen möchte. Das ist ebenso legitim wie in diesem Fall vergeblich. Dabei hätten ihm Wolfram von Eschenbach, Ludwig van Beet­hoven und all die anderen Verfertiger künstlerischer Dinge zur Seite gestanden, hätte er ihnen und ihren analogen, unproprietären Techniken die Treue gehalten. Nicht aus Nostalgie, sondern weil sie so sind, wie sie eben gemacht sind.

Holger Noltze: World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution, Hamburg: Edition Körber 2020, 256 Seiten, Euro 20,-, ISBN 978-3-89684-280-0

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