Cluster 2012/10-1
Neue und alte Drogen
Ein Artikel von Martin Hufner
In Weimar sang man ein modernes weltliches „Grenzsänger“-Oratorium, angeblich verbunden mit der Welt der kleinen Menschen. Man sang von Kunst und Kultur, von Goethe und Schiller – und das alles in einer musikalischen Sülze, die den Eindruck hinterließ, dass der Bitterfelder Weg des musikalischen Sozialismus wie ein Treppenwitz vor diesem kompositorischen Fahrstuhl in Lichtgeschwindigkeit erscheinen muss. Kunst macht die Seelen gut. Man verkaufte dies mit Sätzen, dass es Ziel gewesen wäre, „Kindern aus zum Teil schwierigen sozialen Verhältnissen neue Erfahrungswelten zu öffnen“. Das erinnert an die Gershwin-Bomber, die Adorno auf die Kultur zufliegen sah und die täglich geringer werdende Ration Brot noch weiter reduziert! Denn mit „Kultur“ wird das unschöne Leben verdrängt, so dass das Leben eigentlich ja unschön bleiben kann.
In den musikalisch aktivierten Menschenmassen vergisst sich das je eigene, eher aber das gesellschaftliche, Leid. Zur Not wird es auch einmal einfach im Sog der Gruppenerfahrung kreisend weggetrommelt. „Kultur“ und Kultus sind Opium für das Volk.
Nicht die digitale Demenz ist das Problem der Gegenwart des, im weiteren Sinne, europäischen Kulturkreises, wohl aber das Vergessenmachen der Veränderungsnotwendigkeiten des gesellschaftlichen Unheils, in dem man sich im musikalischen IKEA-Bausatz verschraubt. Singst du noch oder lebst du schon?
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