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Verteufelte nicht die Tradition, sondern befragte sie: Komponist Dieter Schnebel. Foto: Susanne van Loon
Verteufelte nicht die Tradition, sondern befragte sie: Komponist Dieter Schnebel. Foto: Susanne van Loon
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Das Glück der Reprise

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Zum Tod von Dieter Schnebel · Von Eleonore Büning
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Nicht alle Kreativen suchen die Einsamkeit. Nicht alle Künstler sehnen sich nach einer vita contemplativa und ziehen sich zum Denken und Dichten zurück ins Gehäus’, wie der heilige Hieronymus. Der Komponist Dieter Schnebel brauchte Menschen um sich herum. Er war immer unterwegs, bis zum Schluss, man traf ihn in Konzerten und Ausstellungen, auf Festivals und Akademien, im Publikum oder auf dem Podium, sanft, aber streitbar, still, aber stur. Und alleweil angetrieben von der wohl wichtigsten Kraftquelle seines Schaffens: der Neugierde.

Als eine spezifische, „angeborene Schwarzwälder Neugier“ hatte das einmal, vor Jahren, sein alter Freund aus Freiburger Studientagen diagnostiziert, der Musikphilosoph Heinz-Klaus Metzger, für den Schnebel dann vor neun Jahren in der hoffnungslos überfüllten Friedhofskapelle vor dem Halleschen Tor eine denkwürdige Trauerpredigt hielt, denn examinierter evangelischer Pfarrer mit Lizenz zum Beerdigen, das war er auch. Nun ist er selbst gestorben, das Herz hat versagt, an einem Pfingstsonntag. Was insofern von Bedeutung sein mag, als der Zufall wie auch das Nicht-Abgeschlossene in Schnebels breit gefächertem Œuvre schon öfters eine konzeptionelle Rolle gespielt hatte, und eines der ersten Werke, die er unter Einfluss von John Cage verfasst und mit denen er, als junger Vikar, Anfang der sechziger Jahre, seine Gemeinde im engeren Sinne, aber auch die Darmstädter Musikergemeinde aufgeschreckt hatte, das pfingstliche Phänomen des Zungenredens aufnahm: „Glossolalie 61“, Musik für Sprecher und Instrumentalisten, eine Klangcollage aus rund vierzig verschiedenen Sprachen und Dialekten sowie unter Einbezug auch der Reaktionen des Publikums. Mit diesem Stück, das sich als Klangaktion zugleich szenischer Dimension öffnete und Schnebel mit einem Schlag bekannt machte, sei er, so sagte er es später, „damals ganz automatisch ‚in Welt‘ gestoßen.“

Ursprünglich hatte er Pianist werden wollen. Hineingeboren in eine gutbürgerliche Familie im badischen Lahr, erhielt er, wie auch seine Schwester, schon früh Klavier- und Zeichenunterricht. Schnebel lernte außerdem Cello, der Weg schien vorgezeichnet. Doch nach drei Jahren Musikhochschulstudium in Freiburg wechselte er nach Tübingen, um Theologie zu studieren, daneben Philosophie und Musikwissenschaft. Er promovierte über Arnold Schönberg. Ließ sich dann aber zunächst für sieben Jahre als Pfarrer an der Apostelkirche in Kaiserslautern nieder, arbeitete anschließend zwanzig Jahre lang im Schuldienst, als Religionslehrer an Gymnasien in Frankfurt und München. Die Berufung zur Musik blieb freilich neben der theologischen Praxis allezeit präsent, ja,  sie wurde dominant. Mag sein, gerade dieser feste mentale Berufsanker war es, der Schnebel eine zumal im Darmstadtkreis außergewöhnliche Freiheit des Denkens ermöglichte und ihn zu einem Stachel im Fleische der Dogmatiker werden ließ. Er hat niemals Komposition studiert, gehörte zu keiner Schule. Blieb Autodidakt und Forschergeist, diskursfreudig und ein guter Zuhörer. Schwärmte für Stockhausen, lernte von Adorno, befreundete sich mit Cage und Kagel. Und seit Schnebel selbst mit dem Komponieren anfing, hat er stets dagegen angeschrieben, dass das Auge mehr übersieht, als das Ohr überhören kann.

So wurde er zu einem Avantgardisten und Konzeptkünstler der ersten Stunde. Stellte das Komponieren in Frage ebenso wie die Institutionen der Musikdarbietung, übersprang Grenzen von Genres und Gattungen, löste Rituale auf und setzte Interpreten frei, zerlegte und musikalisierte Sprache und Gebärde, zerschredderte Texte phonetisch in Laute, erfand Musik zum Sehen und zum Lesen. Bereits als Schüler hatte Schnebel konventionell tonale Stücke geschrieben. Sein erstes offizielles Werk von 1953,  „Analysis“ für Saiteninstrumente und Schlagzeug, steht dann ganz im Banne Anton Weberns: eine erweiterte Reihenkomposition. Mit „visible music II, nostalgie“, Anfang der Sechziger, einer Performance für Dirigent solo, ohne Musiker, reflektiert er die Fluxusbewegung, wozu „Orchestra“ von 1978 ein spätes musiktheatralisches Gegenstück bildet insofern, als hier die Musiker ohne Dirigent agieren, um selbst zu bestimmen, wann und wie sie was spielen, die herkömmlichen Sitzordnungen,(Fehl-)haltungen, Festschreibungen und erstarrten Rituale auflösend.  Und in den Siebzigern entdeckt er für sich das, was er das „Glück der Reprise“ nennt: Den Rückgriff auf Vergangenes, schon einmal Dagewesenes in der Musik, die als einzige Kunstform die Zeit auch anhalten und „Andeutungen von kommendem Geschehen“ geben kann. Es entstehen „Re-Kompositionen“ und „Re-Visionen“, in der Auseinandersetzung mit Bach oder Verdi, Schubert und Schumann.

Zu einem frühen Meilenstein auf dem Weg zur Emanzipation der Sprach- und Geräuschmusik, bis heute frisch geblieben, wird das Chorstück „Für Stimmen (…missa est)“ von 1956/69, darin alles, „was Odem hat“, den Herrn loben darf, also am Ende auch Tierstimmen, vom Tonband. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem Schlüsselwerk neuer Menschenstimmenbehandlung, den „Maulwerken für Artikulationsorgane und  Reproduktions-geräte“ (1968/74) – wonach das von Schnebel gegründete Vokalensemble der „Maulwerker“ benannt ist. 1976 beruft die Hochschule für Musik in Westberlin Dieter Schnebel auf den eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Experimentelle Musik. Zwanzig Jahre lang wirkt er von hier aus. Und türmt Werk auf Werk. Kurze zumeist. So genannte Großformen lassen sich, typisch für Schnebel, an einer Hand abzählen. Sie haben, fast alle einen politisch motivierten Kern und gehören größtenteils zum Spätwerk. „Mom-Ma“ aus den Neunzigern, Museumsstücke für „bewegliche Stimmen“ gehören dazu, aber auch die doppelchörige „Dahlemer Messe“, uraufgeführt 1987 und unter anderem dem Andenken Dietrich Bonhoeffers gewidmet, darin die diversen Lautschichten der Vokalstimmen, ihr Stöhnen, Ächzen, Atmen, sich kreuzen mit Naturgeräuschen, aber auch mit jüdischem Synagogalgesang. Außerdem die komplexe Donaueschinger „Sinfonie X“, außerdem die einzige Oper Schnebels, „Majakowskis Tod / Totentanz“ von 1998, die abbricht, als komponiertes Fragment.

Er ist einer der letzten jener Generation gewesen, die die zeitgenössische Musik grundstürzend neu definiert haben. Er war einer der wenigen, die sie zugleich philosophisch und musikwissenschaftlich kritisierten, fortlaufend,  denn: „Manchmal wird auch das Leben Musik – etwa bei der Rückkunft eines verlorenen Sohns“ (Schnebel). Zuletzt konnte man Dieter Schnebel Anfang Mai in der Berliner Philharmonie live über Mahler sprechen hören, aus Anlass einer Wiederaufführung seines „Mahler-Moments“ für Streicher. Wer seine Stimme wiederhören will, hat dazu Gelegenheit: Anfang dieses Jahres saß er nämlich etliche Stunden mit Carolin Naujocks in einem Studio des Deutschlandfunks. Die erste Folge einer fünfteiligen Sendereihe „Begegnungen mit Dieter Schebel“ wird am 30. Mai erstausgestrahlt. Sie steht jetzt schon, als Vermächtnis, online.

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