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Barbara Scheuch-Vötterle. Foto: Paavo Blåfield
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Das Haus unter dem Stern

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Zum 70. Geburtstag der Musikverlegerin Barbara Scheuch-Vötterle
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Ein Bär, darüber ein Stern und das Ganze in einen Kreis gefasst. Das Logo des Bärenreiter Verlags begleitet Musiker aller Couleur seit 1923 bei ihrem Tun. Aber was bedeutet es eigentlich? Der 70. Geburtstag der Bärenreiter-Verlegerin Barbara Scheuch-Vötterle am 27. November dient der nmz als willkommener Anlass, den Ursprüngen des international tätigen Verlages aus Kassel nachzuspüren.

Ein Lichtjahr von der Erde entfernt befindet sich auf der Schulter des Sterns Mizar im Sternbild des Großen Bären (auch: Großer Wagen) der Stern Alkor. Dieses „Reiterlein“, auch „Bärenreiter-Stern“ genannt, wählte Verlagsgründer Karl Vötterle 1923 als Namen für seinen Verlag. Mit gutem Auge ist Alkor, so sein arabischer Name, gerade noch zu erkennen, weshalb er auch „Augenprüfer“ genannt wird. Für die Mitglieder der Musikalischen Jugendbewegung war er ein Erkennungszeichen. Der Impuls für Karl Vötterle, den Verlag zu gründen, kam aus der Wandervogel-Bewegung und der persönlichen Begegnung des jungen Buchhändlergehilfen aus Augsburg mit dem Gründer der „Finkensteiner Singbewegung“, Walther Hensel.

Seine Tochter Barbara Scheuch-Vötterle erinnert sich: „Für die Wandervögel wollte er passende und preiswerte Noten herstellen. Sein Startkapital waren nicht mehr als 70 tschechische Kronen, damals eine sichere Währung, denn in Deutschland herrschte Inflation. Als nächstes öffnete sich der Verlag der evangelischen Kirchenmusik. Beim Herausgeben der Werke Bachs stellte mein Vater fest, wie mangelhaft die alte Bach-Gesamtausgabe und auch die alte Mozart-Ausgabe waren. Das war die Geburtsstunde der Urtext-Ausgaben.“

Mit den neuen Gesamtausgaben von Bach, Händel, Mozart, Schubert, und anderen erwarb sich Bärenreiter schnell internationale Reputation. Vötterle, der während der NS-Zeit wegen seines Einsatzes für die evangelische Kirchenmusik Berufsverbot hatte, dachte darüber nach, mit dem Verlag nach Basel zu ziehen. Dank der Hilfe von Basler Freunden, darunter auch Paul Sacher, gründete er 1944 „Bärenreiter Basel“. Nach Kriegsende entschied er sich aber für die Rückkehr ins Stammhaus nach Kassel.

Mit dem Kriegsende waren die politisch vorgegebenen Barrieren in den Künsten gefallen und das Verlagshaus  Bärenreiter nahm die zeitgenössische Musik stärker als zuvor in den Fokus. Die Zahl der Uraufführungen von Verlagswerken nahm stetig zu –  große Namen und Werke sind darunter wie Ernst Krenek: Lamentatio Jeremiae Prophetae (1958), Bohuslav Martinu: Rhapsody-Concerto für Viola und Orchester (1953), Bernd Alois Zimmermann: Musique pour les soupers du Roi Ubu (1966), Klaus Huber: Soliloquia. Oratorium (1962/1964), Sofia Gubaidulina, Paul-Heinz Dittrich und Marek Kopelent: Laudatio pacis (1975/1993), Manfred Trojahn: Lieder auf der Flucht (1989), Matthias Pintscher: Thomas Chatterton (1998) und Beat Furrer: FAMA (2005).

Bestseller und Basics

Als Exempel für ein international ausgerichtetes Verlagswerk steht die Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, kurz MGG. Nach längeren Vorarbeiten konnte im Juni 1949 die erste Lieferung an die Subskribenten verschickt werden. Wegen einer enormen Zunahme des Stoffs musste das Werk mehrmals erweitert werden, ehe es 1987 nach 17 Bänden vollendet wurde. Die zweite, völlig neu bearbeitete, von Ludwig Finscher herausgegebene Ausgabe ist ein Gemeinschaftsprojekt des Bärenreiter-Verlags in Kassel und des J.-B.-Metzler-Verlags in Stuttgart und wurde 2007 fertiggestellt.

Maßstäbe setzte der Verlag mit der Herausgabe von wissenschaftlich-kritischen Gesamtausgaben. Eine Auswahl sei hier genannt: Mit Christoph Willibald Gluck: Sämtliche Werke (ab 1951), Georg Philipp Telemann: Musikalische Werke (ab 1953), mit der Neuen Bach-Ausgabe (1954–2007), der Neuen Mozart-Ausgabe (1955–2007), der Hallischen Händel-Ausgabe (ab 1955), der Neuen Schütz-Ausgabe (ab 1955), der Neuen Schubert-Ausgabe (ab 1964), der New Berlioz Edition (1967–2006) gelang es, für Musikpraxis und Wissenschaft gleichermaßen Notenbände von einem hohen editorischen Standard bereitzustellen.
Rund die Hälfte der Bärenreiter Notenausgaben beruht auf den Urtexten, die aufgrund ihrer editorischen, aber auch herstellerischen Qualität weltweit gefragt sind. Der asiatische Markt ist inzwischen für alle, die im Papiergeschäft tätig sind, ein zentraler Markt geworden – erst im Oktober 2017 war Bärenreiter mit dem Verlagsprogramm auf der Musikmesse in Shanghai/China. Versuche, die Noten im Ausland nicht nur zu vertreiben, sondern auch zu produzieren, wurden von Bärenreiter wegen mangelnder Qualität eingestellt. Nur den Notensatz lässt das Unternehmen in Südkorea und Rumänien herstellen.

Zu den Unternehmen, die unter dem Dach der wachsenden Bärenreiter-Verlagsgruppe Fortbestand fanden, gehören u.a. auch der Bosse Verlag (1957), der bis zur Gründung von ConBrio im Jahr 1993 die nmz verlegte. Zu den Vertretungen im Ausland kamen nach Basel (1944), New York (1958), Paris (1962, von 1971–1980 in Tours) und London (1963) hinzu. 1998 folgte Bärenreiter Praha (EBP).

Zeitgenossenschaft

Wie seit den ersten Jahren der Verlagsgeschichte behält die zeitgenössische Musik  auch heute ihren festen Platz in der Arbeit des Verlages. Bei der Pflege der lebenden Komponisten sieht die Verlegerin nicht Gewinnstreben im Vordergrund, sondern die Förderung einer Kunst, die es schwer hat im eventorientierten Musikbetrieb. „Wir sind Mäzene“, sagt Barbara Scheuch-Vötterle. Weltweit erfolgreiche Komponisten wie Manfred Trojahn, Beat Furrer, Matthias Pintscher oder Miroslav Srnka stehen für dieses verlegerische Engagement. Um die 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind heute für den Bärenreiter-Verlag und die anderen Unternehmen der Firmengruppe in Kassel, London und Prag tätig. Damit ist Bärenreiter der zweitgrößte deutsche Musikverlag.

Auch mit 70 Jahren ist „Ruhestand“ für die Bärenreiter-Chefin ein Fremdwort. Über 40 Jahre führt sie zusammen mit ihrem Ehemann, dem früheren Zürcher Operndramaturg Leonhard Scheuch, die Geschäfte des „Hauses unter dem Stern“. Seit 2011 ist ihr Sohn Clemens Scheuch Vötterle in die Geschäftsführung eingetreten und steht dafür, dass der Bärenreiter Verlag auch im digitalen Zeitalter ein Familienunternehmen bleiben wird.

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