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Betuliche Märchenstunden im Stadl: „Astutuli“ bei den Orff-Festspielen. Foto: Stefan A. Schuhbauer von Jena
Betuliche Märchenstunden im Stadl: „Astutuli“ bei den Orff-Festspielen. Foto: Stefan A. Schuhbauer von Jena
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Nach 18 Jahren schließen die Carl Orff-Festspiele in Andechs unter merkwürdigen Umständen ihre Pforten
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Im Grunde war dieses Festival gesund gewachsen. Aus einer Initiative von Wilfried Hiller und Pater Anselm Bilgri heraus zum zehnten Todestag von Carl Orff. Im damaligen Abt Odilo Lechner fand die Idee einen leidenschaftlichen Verfechter. Die Bedingungen waren ideal: Orff ist in der „Schmerzhaften Kapelle“ der Andechser Wallfahrtskirche wunschgemäß begraben, in Sichtweite seines einstigen Wohnhauses in Dießen am Ammersee, wo heute die testamentarisch verfügte Orff-Stiftung residiert. Viele Inhalte der Orff’schen Werke stammen aus dieser oberbayerischen Ecke, nicht nur aus Benediktbeuern die Carmina Burana. Und auch der bald eigens dafür umgebaute rustikale Florian-Stadl lieh den Aufführungen ein verwendbares Ambiente. Dennoch ist es in den 18 Jahren nicht gelungen, die Festspiele über die regionale Bedeutung hinaus zu hieven. Und nun verkündete das Kloster überraschend das Ende der Carl Orff-Festspiele noch vor Beginn der diesjährigen Spielzeit.

Seine Arbeit sei von der Orff-Stiftung zensiert worden, warf der aktuelle künstlerische Leiter Marcus Everding mit starken Worten um sich. Das Kloster nannte offiziell „schwerwiegende und nicht mehr zu überbrückende Differenzen zwischen dem Kloster und der Carl Orff-Stiftung im Blick auf die künstlerische Ausrichtung der Festspiele“. Zur großen Verwunderung der Orff-Stiftung, die gerade erst ihre Förderung der Festspiele für 2015 erhöht hat und vorab noch nicht einmal über die Entscheidung des Klosters informiert worden ist. Der Dirigent Christian von Gehren erfuhr von der Pressekonferenz erst drei Stunden zuvor vom kaufmännischen Leiter im Kloster per Anruf zu Hause in Essen. Die Vorgänge auf dem „Heiligen Berg“, wie man das Kloster Andechs hier nennt, werfen Fragen auf. Grund zu weiteren Spekulationen liefert die CSU, die Andechs als möglichen Ersatz für Wildbad Kreuth diskutiert.

Als Hellmuth Matiasek mit seinem Münchner Gärtnerplatztheater-Background 1998 als Intendant nach Andechs geholt wurde, war das Kloster noch ein sakralmusikalisches Zentrum mit einer Jahrhunderte alten Tradition, die vom Kirchenmusiker Anton Ludwig Pfell mit mehreren Chören, einem Orchester und vielen Aufführungen hochgehalten wurde. Doch schon bald verselbstständigte sich das damals „Orff in Andechs“ betitelte Unternehmen auf unschöne Weise, und die Kirchenmusik musste sich allmählich in die kleine Wallfahrtskirche sowie ins Umland zurückziehen. Ein Jugendorches-ter stemmte mehr schlecht als recht die Aufführungen des Festivals, das immerhin Orffs Werk gemächlich erschloss. Allerdings auch nur das Repertoire, das sich in einem sagenumwobenen und historischen Ambiente bewegt und betuliche, allenfalls rituelle Märchenstunden bescherte: „Der Mond“, „Die Kluge“, „Die Bernauerin“. Die Auslastung gab Matiasek Recht.

Eine Kooperation mit den Antikenfestspielen Trier, die 2004 eine grandiose „Antigonae“-Inszenierung nach Andechs brachte, machte allerdings die Seichtheit der Andechser Arbeit deutlich. Den einzigen Blick über den Tellerrand wagte das Haus in Eigenproduktion mit Michael Endes „Der Goggolori“ in der Vertonung von Wilfried Hiller, dem bedeutendsten Schüler Orffs, die über mehrere Spielzeiten mit größtem Erfolg über die Bühne ging. Es blieb bei den Märchen, mit Einstudierungen wechselnder Chorleiter, die bis heute der rhythmischen Wortgewalt Orffs wie Hillers nie wirklich gerecht wurden. Von den Protagonisten auf der Bühne waren letztendlich nur die Solisten professionell. Impulse in der Orff-Rezeption gingen von Andechs daher sehr sparsam aus.

Als Matiasek in seinem zehnten Festspieljubiläum seinen Abschied ankündigte, zauberte er erst im letzten Moment seinen Nachfolger aus dem Hut. Marcus Everding, dem ein zweifelhafter Ruf vorausgeeilt war, hielt mit wortgewaltigen Reden Einzug auf dem Andechser Berg. „Wenn wir mit dem Griechischen, also mit ‚Antigonae‘ oder ‚Prometheus‘, anfingen, wäre es zu hoch gegriffen“, machte er Hoffnung auf eine Entwicklung. „Kontinuum und Novum, bewahren und weiterentwickeln“, predigte er. Das Kontinuum währte eine Saison lang, dann kam das Novum. Aber komplett, samt unantastbarem Hofstaat. „Wenn jemand geht, dann Du, nicht die“, musste sich sinngemäß der Dirigent anhören, als er es wagte, jemanden zu kritisieren.

Nicht alles war schlecht: Das Münchner Rundfunkorchester mit Ulf Schirmer wurde ins Boot geholt und gab anfangs auch symphonische Konzerte, sogar mit einer Uraufführung von Minas Borboudakis. Christian von Gehren kam im Auftrag des Bayerischen Rundfunks nach Andechs, um die Orff-Akademie des Rundfunkorchesters, finanziert durch die Orff-Stiftung, zu gründen und um besonders begabte Instrumentalstudenten mit Kammermusikkursen an Orffs Orchestermusik heranzuführen. Zwei Jahre später entwickelte sich daraus die Idee eines Festspielorchesters, aus professionellen Musikern renommierter deutscher Orchester bestehend. Doch obgleich es sich hier um die Festspiele eines Komponisten handelte, blieb der musikalische Leiter der Festspiele aus der Planung gänzlich ausgeschlossen. „Eine Auseinandersetzung mit der Musik und der Wahrnehmung der Musik“ habe es nie gegeben, konstatiert von Gehren. Und damit auch keine Versuche zur Frage, „wie wir den Komponisten Orff musikalisch erweitern“. Zwar hatte von Gehren jede Freiheit, seinen musikalischen Part zu gestalten, doch bei der Konzeption der Festspiele behielt Everding alle Fäden selbst in der Hand. Und ließ es sich nicht nehmen, die Stücke zu „modernisieren“, also mit eigenen Textänderungen und -ergänzungen zu beglücken. „Eine Sitte, die unter Schauspielregisseuren sehr verbreitet ist“, erklärt sich von Gehren diese Handlungsweise. Doch bei Orff ist Sprache Bestandteil der Musik. Jeder Eingriff in den Text ist auch ein Eingriff in die musikalische Werksubstanz. An dem Punkt musste die Orff-Stiftung absolut berechtigt intervenieren.

Das Problem war klar: „Das lag am fundamentalen musikalischen Unverständnis, das Everding hatte“, bringt es der Kapellmeister auf den Punkt. Der Sohn des einstigen Münchner Generalintendanten August Everding bevorzugte deshalb die sprachorientierten Werke, ohne jedoch darin die sprachmusikalische Intention des Komponisten verstanden zu haben. Es kam noch schlimmer: Everding schrieb selbst ein Theaterstück. „Fünf vor Orff“ hieß das peinliche Opus Magnum, das auch wegen ausbleibenden Publikums bald abgesetzt werden musste. „Leonce und Lena“ von Büchner kam dann mit ähnlichem Misserfolg ins Programm, also fern von Orff und Musik. Der Vorschlag von Gehrens, den Stoff Büchners wenigstens in der Oper von Paul Dessau zu behandeln, fiel einer nachmittäglichen Entscheidung Everdings zum Opfer, nachdem er sich Hörbeispiele im Internet angehört hätte. Die Musik passe nicht nach Andechs, erfuhr von Gehren per E-Mail.

Kurz und gut: Hier leitete jemand ein Musikfestival, der keine Ahnung von Musik hatte. Und dies ausgerechnet im Falle Orffs, dessen musikalische Qualitäten noch nicht einmal so leicht aus der Partitur herauszulesen sind. Vor allem die besondere Klangästhetik, die sich aus rhythmischen und harmonischen Patterns in ungewöhnlicher Instrumentierung erst dann einstellt, wenn sich alle Beteiligten auf die minimalistische Feinheit kompromisslos einlassen. Tatsächlich muss das Gespür für diese Ästhetik Musikern erst mühsam nahegebracht werden, was bereits Orff selbst erkannt und deshalb auf Jugendarbeit gepocht hatte. Die Orff-Akademie des Rundfunkorchesters setzte diese Arbeit fort und war zweifelsohne ein Erfolgsmodell. Im letzten Vorspiel bewarben sich über 600 Instrumentalisten auf die 62 Plätze im Orchester. In der Geschichte der Orff-Festspiele stand mit der Gründung der Akademie erstmals ein Punkt im Programm, der ausschließlich die Musik im Fokus hatte. Daraus hätte sich mehr entwickeln können. Vorschläge, Kammerkonzerte, Liederabende, Chor- und sinfonische Konzerte ins Programm zu nehmen, fanden keine Zustimmung bei Everding. Selbst Angebote besserer Chöre stießen auf Ablehnung. Ein paar Gesangsparts konnte von Gehren vorteilhafter besetzen, nachdem die Orff-Stiftung für die jeweilige Gage aufkam. Dem Kapellmeister blieben ansonsten lediglich die Orff-Akademie und das Festspielorchester, um am Niveau der Orff-Rezeption zu arbeiten und die selten gespielten musikalischen Dramen des Komponisten wiederzuentdecken. Dies sei dringend notwendig, so sein Eindruck nach eingehenden Studien der Werke sowie des Dokumentationsmaterials.

Dass Christian von Gehrens Arbeit faktisch nicht gewürdigt wurde, sehe er als symptomatisch an. Everding leitete alles auf sein eigenes Lorbeerenkonto um. Pfeils sakrale Konzerte ließ er als Konkurrenz aus dem Florian-Stadl verbannen. Selbst die traditionelle Aufführung des Weihnachtsoratoriums fiel der Ära Everding zum Opfer. Aus den Carl Orff-Festspielen wurden Marcus Everding-Festspiele, die dem Image des Komponisten gründlich geschadet haben dürften. Doch frei nach Hesse darf man vielleicht hoffen: „Jedem Ende wohnt ein Anfang inne.“
 

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