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Hermann Scherchen mit seiner Frau Pia Andronescu in der Kirche Saint-Roch in Paris 1966. Foto: Photo Ingi Paris
Hermann Scherchen mit seiner Frau Pia Andronescu in der Kirche Saint-Roch in Paris 1966. Foto: Photo Ingi Paris
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Der Berg, der immer weiter wächst

Untertitel
Hermann Scherchen (1891–1966) zum 50. Todestag
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Ein außergewöhnliches Leben, ein kaum zu überblickendes Werk. Hansjörg Pauli, der beides aus dem Effeff kannte, hat gerade deshalb gewusst, dass eine verläss­liche Scherchen-Biographie selber ein Titanenwerk wäre. Bis heute steht sie aus. Die Stationen nur anzuschauen, könnte einen schwindlig machen. Zwischen Berlin-Schöneberg, wo Scherchen am 21. Juni 1891 als Sohn eines Gastwirts zur Welt kam und Florenz, wo er am 12. Juni 1966 nach dem Dirigat von Gian Francesco Malipierios „L‘Orfeide“ gestorben ist, liegt die Welt.

Er hat sie, rastlos wie er war, durchpflügt. Überall hat er seine Spuren hinterlassen, hat Zeitschriften, Verlage, Orchester gegründet; wo ein Mikrophon war, hat er hineingesprochen, wo viele Mikrophone waren, hat er Aufnahmen gemacht. Und dabei immer musiziert, muss man sagen. Nicht zu vergessen all die Schüler, die er auf seinem Weg um den Globus hervorgebracht hat. Ebenso schwierig, sie zu zählen wie seine eigenen Kinder in seinen fünf, nach manchen Quellen sogar sechs Ehen, nicht gerechnet die außerehelichen Verbindungen.

Wer trotzdem den Versuch unter­nimmt, sich im Scherchen-Kosmos zurechtzufinden, wird dieser Pauli-Einschätzung am Ende nur beipflichten können: „Er war ein Renaissancemensch, ein Enzyklopädist – ein Musiker, der in alle Bereiche des Musikmachens hineinwirkte, von der Produktion bis zur Rezeption.“ So im Vorwort zum „Scherchen-Lesebuch“ aus dem Jahr 1986 als Pauli für die Berliner Akademie der Künste zum 20. Todestag eine große Scherchen-Ausstellung kuratiert hatte.

Was ist seitdem hinzugekommen?

Was hinzugekommen ist, hat in jedem Fall zu einem paradoxen Resultat geführt. Einerseits hat es das Gebirge Scherchen weiter ausgelotet. Man denke nur an die CD-Veröffentli­chungen der Label Westminster und Tahra (bis 2014 von Scherchen-Tochter Myriam betrieben). Zugleich aber (wohl die zentrale Erfahrung jeder Scherchen-Rezeption) hat dieselbe Erweiterung das Gebirge ebenfalls weiter wachsen lassen: Dialektik der Scherchen-Rezeption. Welche Folgerungen das hat?

Zumindest scheint darin der Grund zu liegen, weshalb das Feuilletonistische im Fall Scherchen versagt. Es greift zu kurz, indem es diesen oder jenen Charakterzug beleuchtet, andere abblendet, so im Handumdrehen ins Abseits führt. Das Urbild solcher Art der Scherchen-Betrachtung hat Elias Canetti im „Augenspiel“ geliefert. Sicher, da steht der immense Vorteil der Augenzeugenschaft. Und doch operiert Canetti im Kern mit einer Stilfigur, über deren psychologische Auslösung man nur Vermutungen anstellen kann, die aber bis heute im Kurs geblieben ist: die Kultur des Verdachts. Keine Frage, dass Scherchen dafür selbst reichlich Vorlagen geliefert hat. Andererseits ist es ja doch unsere Auswahl, unser Bedürfnis nach Kammerdiener-Perspektiven, die hineinspielen. Als der Schweizer Hermann-Scherchen-Verein 1994 ein Album mit alten Scherchen-Aufnahmen herausbringt, hat man derselben CD auch einen Probenmitschnitt beigegeben. 1‘36‘‘, die zweifellos einen unangenehmen Scherchen-Tonfall hören lassen, ohne am Ende doch zweifelsfrei zu belegen, ob Scherchen einen Musiker des Studio-Orchesters Beromünster nun „zur Schnecke macht“ oder nicht. An anderer Stelle erscheint aufgrund der nämlichen Verdachts­kultur Scherchens „Lehrbuch des Dirigierens“ in einem Zwielicht. 1929 erschienen, hatte es bei den Musikern, den Komponisten wie bei den Dirigenten begeisterte Aufnahme gefunden. Arnold Schönberg war ebenso voll des Lobes wie Dimitri Mitropoulos, der gegenüber Scherchen sogar bekannte, dadurch überhaupt erst zum Dirigenten geworden zu sein. Andererseits: Aus einer Perspektive, die das Dirigieren als höhere Form der Magie betrachtet, ist ein „Lehrbuch“ desselben natürlich eine Provokation, muss es solchen Leser „frösteln“. In Wirklichkeit glaubte Scherchen genau daran: Ebensowenig wie man Musik seiner Ansicht nach „verstehen“ könne (man könne sie nur hören), genauso gut könne man das Dirigieren lernen und lehren. Noch 1950 dachte er an eine Fortsetzung. An Luigi Dallapiccola, dessen „Prigioniero“-Oper er im Mai des Jahres in Florenz uraufgeführt hatte, schreibt er: „Ich habe noch auf der Rückreise ein neues Buch begonnen. ‚Die Kunst des Dirigierens‘, wo ich in 52 Werkanalysen die stilistischen, technischen und geistigen Realisationsprobleme der Musik ab 16. Jahrhundert bis zum ‚Prigioniero‘ als vorläufigem Abschluss besprechen will.“ Vorläufig. Das Buch ist nicht zustandegekommen. Wäre es zustandegekommen, wäre es zweifellos vorläufig gewesen. Definitiv ist für Scherchen nur, dass es keinen definitiven Abschluss gibt. Alles ist immer in Bewegung. So galt es für ihn, so müsste es auch gelten für die Scherchen-Rezeption, zumindest bis zum vorläufigen Abschluss einer Scherchen-Monographie, die den Namen verdient.

Denn da ist ja eben dieses außergewöhnliche Leben, dieses kaum zu überblickende Werk: um die 200 Uraufführungen, an die 250 Einspielungen und 300 Bänder in den Schallarchiven da und dort, um die 150 Werke im eigenen, später an Schott abgege­benen „Ars Viva“-Verlag. Da sind die Scherchen-Bücher zur Musik, da ist das Auto­bio­graphische, die vielen hundert Briefe, die er schreibt, wenn er nicht am Pult steht, wenn er nicht über irgendwelchen Noten sitzt, um „in seiner Vorstellung das Kunstwerk ebenso vollkommen zu hören wie es seinem Schöpfer erklang“.

Nach den Sternen greifen. Das wollte er, weswegen ohne dialektische Logik nichts geht in seinem Fall. Wer auf Widerspruchs­freiheit beharrt, kommt bei ihm keinen Millimeter voran. Siehe etwa das viel traktierte Thema „Scherchen und das Tempo“: Wo immer er sich darüber auslässt, ist es für ihn keine Frage, dass „ein zu schnelles Tempo“ „sinnwidrig“, „verfälschend“ wäre. Auf der anderen Seite ist Scher­chens eigene Tätigkeit als Dirigent von dieser Kritik praktisch nicht zu trennen. Seitdem er seine Bratsche beiseite gelegt und das Dirigentenpult betreten hatte (datierbar ziemlich exakt ins Jahr 1912 mit der Uraufführungstournee des „Pierrot Lunaire“) sah er sich haargenau mit diesen Vorwürfen konfrontiert. Arnold Schönberg, sein Hausgott seit der für Scherchen erschütternden „Pierrot“-Erfahrung, ist derjenige, der diesen Kritikerreigen im eigentlichen Sinn eröffnet.

Im Februar 1914 sitzt er in Kammersinfonie-Proben. Tenor: „Das Ganze ist recht gut studiert.“ Aber die Tempi! „Durchaus viel zu schnell!!“. Eine Kritik, die Scherchens Dirigate begleiten wird. Andererseits: Dort, wo sich die eine oder andere seiner extremen Auffassungen an erhaltenen Aufnahmen nachprüfen lässt, ist der Eindruck nicht selten ein verblüffen­der. Da kann alles „viel zu schnell“, da kann alles „viel zu langsam“ sein und doch öffnet sich mit einem Mal ein ganz neuer Sinnhorizont. Frappierend etwa Scherchens „Adagietto“ aus der 5. Mahler, das er wie kein Zweiter in eine Unendlichkeit dehnt – und doch alles zusammenhält. Hermann Scherchen kann man nicht verstehen. Man muss ihn hören.
 

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