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In der Ausstellung „[laut] Die Welt hören“ (Humboldt-Box, noch bis 16. September) soll sich, so die Veranstalter, „bereits jetzt exemplarisch das große Potenzial beider Sammlungen“ zeigen. Foto: SHF / David von Becker
In der Ausstellung „[laut] Die Welt hören“ (Humboldt-Box, noch bis 16. September) soll sich, so die Veranstalter, „bereits jetzt exemplarisch das große Potenzial beider Sammlungen“ zeigen. Foto: SHF / David von Becker
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Der Guru der Musikethnologie

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Erich von Hornbostel und das Berliner Phonogramm-Archiv · Von Hans-Jürgen Schaal
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Eine der größten Sammlungen globalmusikalischer Tondokumente befindet sich heute im Ethnologischen Museum in Berlin. Den ältesten Teil dieser Tonaufnahmen bilden Edison-Walzen aus der Zeit um 1900. Sie stehen heute auf der Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes.

Noch im 19. Jahrhundert waren Musikologen, die sich für die Musik ferner Völker interessierten, weitgehend auf die diffusen Berichte von ahnungslosen Forschungsreisenden angewiesen. Da gab es dann „Bemerkungen über ‚Katzenmusik der Eingeborenen‘, ‚Höllenlärm bei Tanz und Fest‘ oder ‚die melancholische Stimmung einer eigenartigen Weise‘“, berichtet Erich von Hornbostel amüsiert. Aber selbst musikkundige Reisende waren natürlich überfordert, wenn sie ungewohnte Weisen und Gesänge in Echtzeit aufs Notenpapier bringen sollten, möglichst mit Details der rhythmischen Akzentuierung und melodischen Intonation.

Erst die Erfindung des Walzen-Phonographen, der Tonaufnahmen vor Ort gestattete, markiert den eigentlichen Beginn der Vergleichenden Musikwissenschaft oder Musikethnologie. Zugleich bedeutete die Entwicklung der Tonwalze und anderer Technologien aber auch eine beschleunigte Bedrohung außereuropäischer Musikkulturen. Fremde Völker bekamen, so Hornbostel, „mit den Grammophonen der Kolonisten unsere schlimmsten Gassenhauer“ gleich mitgeliefert. Das Authentische war von der Europäisierung bedroht. Europas Musikethnologie befand sich im Wettlauf mit Europas Imperialismus. Eine Lehrstunde in Sachen Globalisierung.

Erich Moritz von Hornbostel (1877–1935) stammte aus einer Wiener Adels- und Gelehrtenfamilie. Obwohl durch und durch musikalisch geprägt, entschied er sich für ein Studium der Physik, Chemie und Philosophie. Direkt nach der Promotion, mit 23 Jahren, ging er nach Berlin und wurde Assistent des (Ton-)Psychologen Carl Stumpf. Der hatte gerade Tonaufnahmen eines siamesischen Hoforches-ters gemacht, das in Berlin zu Besuch war, und legte damit im Jahr 1900 den Grundstein für ein Berliner Archiv musikethnologischer Phonogramme. Schon 1906 stieg Hornbostel vom ehrenamtlichen Assistenten zum ehrenamtlichen Archivleiter auf.

Die ständige Erweiterung und wissenschaftliche Auswertung des Berliner Phonogramm-Archivs machte er sich zur Lebensaufgabe – weit über Stumpfs Vision hinaus. Von Hause aus wohlhabend, steckte Hornbostel eigenes Geld in den Ausbau des Archivs, bis es 1923 (nach Stumpfs Pensionierung) verstaatlicht wurde. Die Inflation zwang Hornbostel damals, eine bezahlte Lehrtätigkeit an der Musikhochschule anzutreten. Zeitgenossen beschrieben ihn als genialen Forscher, aber einen arglosen, fast kindlichen Menschen. Auf dem Anhalter Bahnhof empfing er einen Gast einmal mit einem Solo auf dem Kemanak, einem metallenen Schlaginstrument aus Bali. Mit seinen Studenten übte er gerne das Klopfen additiver oder sich kreuzender Rhythmen. Der spätere Jazzforscher Ernest Borneman wurde als Jugendlicher durch Hornbostel für den Jazz begeistert.

Utopischer Horizont

Schon in den ersten Jahren am Archiv hat Hornbostel das Ethos seines Fachs, der Vergleichenden Musikwissenschaft, klar formuliert. Als ihre Grundlage sah er die exakte wissenschaftliche Analyse der Tondokumente. Diese „materielle“, messende Herangehensweise an Musik war für ihn, den Naturwissenschaftler, selbstverständlich. Ziel der Forschung sollte sein, die Unterschiede zwischen Musikkulturen benennen und beziffern zu können, aber auch Ähnlichkeiten und Gemeinsames zu finden. Der utopische Horizont dahinter: Ursprung, Geschichte und Wesen von Musik überhaupt zu verstehen. „Wir wollen die entwicklungsgeschichtlichen und die allgemein-ästhetischen Grundlagen der Tonkunst kennen lernen“, schreibt Hornbostel.

Daher setzte er alles daran, „die vor der alles nivellierenden Zivilisation rasch dahinschwindenden musikalischen Äußerungen aller Völker der Erde zu sammeln“. Hornbostel sorgte dafür, dass praktisch jeder deutsche Forschungsreisende einen Phonographen mit sich führte und dafür in Berlin eine praktische Einweisung erhielt. Er schuf ein Netzwerk mit anderen Archiven im Ausland und tauschte mit ihnen Walzenkopien aus. Auch Béla Bartók und Zoltán Kodály in Ungarn gehörten zu den Phonogramm-Lieferanten. Der Berliner „Guru“ der Musikethnologen kontaktierte sogar Albert Schweitzer im fernen Lambaréné (Gabun).

Die eintreffenden Tondokumente hat Hornbostel sehr gründlich studiert und wissenschaftlich ausgewertet. Rund 100 Artikel veröffentlichte er darüber in Fachzeitschriften. Die Liste seiner Themen liest sich wie die Stationen einer Weltreise, zum Beispiel Japan (1903), Türkei (1904), Indien (1904), Tunesien (1906), Papua-Neuguinea (1907), Sumatra (1908), Madagaskar (1909), Tansania (1909), Brasilien (1910), USA (1910), Kirgisien (1911), Salomonen (1912), Ruanda (1917), Molukken (1917), China (1919), Siam (1920), Südamerika (1923), Island (1930), Indien (1933), Patagonien (1933). Bis 1933 kamen über 13.000 Tonwalzen und beinahe 400 Schallplatten im Archiv zusammen – es war die weltweit größte Sammlung dieser Art.

Um 1920 veröffentlichte Hornbostel erstmals eine käufliche Zusammenstellung von 120 Phono-Walzen mit ethnischer Musik, darunter 37 aus Asien, 28 aus Australien-Ozeanien, 27 aus den beiden Amerikas, 46 aus Afrika. Rund zehn Jahre später editierte er für den Schulgebrauch eine 12-Schallplatten-Edition „Musik des Orients“. Nebenbei erarbeitete er 1914 zusammen mit Curt Sachs, seinem späteren Kollegen an der Musikhochschule, eine global anwendbare „Systematik der Musik-instrumente“. Diese sogenannte „Hornbostel-Sachs-Klassifikation“ ist bis heute unübertroffen.

Wider die Eurozentrik

Hornbostels Arbeiten enthalten eine deutliche Kritik am eurozentrischen Denken. Damit stehen sie in schroffem Gegensatz zum damals vorherrschenden „weißen“ Kultur-Chauvinismus. Einem europäischen Musikverständnis sprach Hornbostel schlicht das Vermögen ab, außereuropäische Musik angemessen zu begreifen oder gar zu bewerten. Es gehe nicht an, schreibt er, fremde Musikkulturen an den Kriterien unserer „simultanharmonischen Musik“ zu messen. Schon bei der Beschreibung und Notation außereuropäischer Musik setze sich zu oft die Tendenz durch, „das Ungewohnte den geläufigen Vorstellungen anzupassen und exotische Musik europäisch zu hören“.

In vielen Aufsätzen hinterfragt er die globale Anwendbarkeit fast aller unserer musikalischen Parameter wie Taktform, Tonleiter, Notation, Melodiebildung, Harmonie, Konsonanz, Tonikalität, Polyphonie et cetera. Seine Analysen zeigen im Detail auf, dass außereuropäische Musikkulturen teilweise völlig anderen (aber oft nicht weniger kunstvollen) Prinzipien und Regeln folgen als die europäische Musik. Hornbostel unterscheidet in seinen Ausführungen zum Beispiel zwischen Konsonanz- und Distanzprinzip, zwischen Grundton und Tonika, zwischen Materialleiter und Gebrauchsleiter. Auch macht er immer wieder klar, dass fürs Verständnis einer fremden Musik auch die kulturellen Rahmenbedingungen erforscht werden müssen: Rituale, Instrumente, Affekte, Mythen.

In seiner Begeisterung für die Vielfalt der Musikkulturen hat Hornbostel gerne mal den Spieß umgedreht und versuchsweise die europäische Musik an den Kunstregeln fremder Musikkulturen gemessen. Auch in Indien, China, Persien oder Arabien gebe es „umfangreiche musiktheoretische Abhandlungen“, schreibt er. Bereits 1906 heißt es bei ihm: „In vieler Hinsicht zeigt sich die Rhythmik der Exoten unserer modern-europäischen weit überlegen. Drei- oder sechsstellige Trommelbegleitungen zu zwei- oder vierteiligen Melodien; fünfteilige, siebenteilige und noch kompliziertere Taktarten gehören außerhalb Europas zu den Alltäglichkeiten.“ An anderer Stelle nennt er äquidistante Tonleiterstufen ein „neues psychologisches Prinzip der Intervallbildung“ oder erinnert daran, dass „nichtharmonische Musik ihre eigenen Reize“ habe, dass Einstimmigkeit auch raffiniert sein könne und dass Tonstufen in manchen Kulturen geradewegs dazu da seien, verschleiert zu werden. Konsequenterweise beschreibt er das europäisch-harmonische Melos als „verarmt“ und die europäische Notationsweise als unflexibel und diskriminierend. Mit seiner weltoffenen Herangehensweise konnte Hornbostel auch Musikfremdes kompetent abhandeln. Neben zahlreichen Artikeln zu akustischen und tonpsychologischen Fragen schrieb er über Themen wie Vogelgesang (1911), logarithmische Darstellung (1920), optische Inversion (1921), Ideogramme (1930), Geruchshelligkeit (1931), Maß- und Gewichtsnormen (1931) oder Fadenspiele (veröff. 1939). Als das NS-Regime an die Macht kam, wurden Hornbostel und Sachs ihrer Ämter enthoben und in die Emigration getrieben. Das Phonogramm-Archiv wurde bezeichnenderweise aus der Musikhochschule ausgegliedert und dem Institut für Völkerkunde übergeben. Hornbostel ging über die Schweiz in die USA und weiter nach England. Er starb mit 58 Jahren in Cambridge.

1991 wurden die in West und Ost zerstreuten Restbestände des Walzenarchivs wiedervereinigt. Sie befinden sich heute im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem. Die inzwischen weitgehend digitalisierten Tonaufnahmen werden dort in Multimedia-Installationen präsentiert. Teile davon wurden auch auf frei käuflichen Tonträgern veröffentlicht (zum Beispiel „Music!“, 4 CDs, Wergo 2000). 2019 soll das Ethnologische Museum im Humboldt Forum (Berliner Stadtschloss) ein neues Zuhause finden. Dort wird es vereinigt mit dem Lautarchiv der Humboldt-Universität. 

Literatur

  • Erich Moritz von Hornbostel: Tonart und Ethos. Aufsätze, Leipzig 1986
  • Artur Simon (Hrsg.): Das Berliner Phonogramm-Archiv 1900–2000, Berlin 2000

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