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Der Komponist als Lehrmeister

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Ein Kompositionsschüler zu Nicolaus A. Hubers siebzigstem Geburtstag
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Von 1987 bis ’93 studierte ich bei Nicolaus A. Huber an der Folkwang-Hochschule in Essen und die erste Seminarstunde war für mich eine Katastrophe. Er analysierte Nonos „Canti di vita e d´amore“ und von dem, was als klar strukturiertes Zahlen- und Pfeilgebilde die Tafel zierte, verstand ich überhaupt nichts. Der Blick in die Runde verriet mehr oder weniger ähnliche Ausdrucksspektren bei den Kommilitonen. In den Gesichtern von Ludger Brümmer, Jörg Birkenkötter, Claudius Brüse, Michael Ziffels, Daniel Ott, Markus Bongartz und Andreas Gürsching spiegelten sich, je nach Vertrautheit mit Hubers Sprache und seinen sehr speziellen Analysemethoden, ähnliche Zustände zwischen Staunen und Begreifen wider.

Es dauerte eine Weile, bis ich seine modellhafte Herangehensweise des Analysierens begriff, die sich, sowohl in seiner Musik als auch in seiner Lehre als konkret gedachter Zusammenhang äußert, der in Zeichen übersetzt vom Hörer, als Träger einer individuellen Haltung und Geschichte, decodiert werden kann. In diesem Sinne verstehe ich heute Hubers Musik als Möglichkeit, unterschiedliche Lebenssituationen zu befragen.

Das, was mich seit meinen Studienjahren immer mehr beeindruckt, ist die Ökonomie im Angebot der Mittel, mit denen er arbeitet. Dabei entsteht keine spröde Kunst, vielmehr treten innere Wachstumskräfte hervor, die dem Hörer Raum für Eigenes lassen. Ähnlich verhält es sich in seinen Analysen. Huber arbeitet in der Darstellung von Zusammenhängen gerne mit Zahlen, die eine Art neutralisierte Basis repräsentieren. Dabei entsteht zwischen der Expressivität der Musik und den Zahlen kein Gegensatz, wie etwa in der Zeit des seriellen Komponierens. Huber äußerte in einem Gespräch: „Man zählt alles, was man gerne hat“. Ich verstehe dies heute, neben dem unmittelbaren Inhalt, als einen Ausdruck von Sorgfalt, bei der die Methode ein Gerüst darstellt, das auch wieder abgebaut werden kann.

Den flexiblen Umgang mit formalen und inhaltlichen Gerüsten als kompositorische Methode zu begreifen, war damals für mich eine große Herausforderung, denn in der Situation des Lernenden war das Gerüst zunächst eine statische Größe, an der es galt, sich abzuarbeiten. Er verlangte viel, immer präsent war die Forderung nach einem kritischen Durchleuchten des Materials und der Methode, damit umzugehen. Hierbei halfen seine Analysen, denn das daraus Gewonnene wurde integraler Bestandteil meines eigenen Komponierens.

Seine Analyseseminare waren in thematische Blöcke aufgeteilt. Einer dieser Blöcke hieß „Tonalität“. Huber besprach dabei Musik, die aus verschiedenen Epochen stammt, um den Themenkomplex unterschiedlicher Möglichkeiten von Zusammenhängen zwischen Tönen von ganz verschiedenen Seiten zu durchdringen. Diese historische Endgrenzung erinnert mich an ein Zitat von Ernst Bloch: „Etwas ist in der Vergangenheit geschehen, aber noch nicht vollzogen“.

Diesen Aspekt finde ich auch in seiner Musik. Material aus anderen historischen Umständen wird in einigen seiner Kompositionen auf gegenwärtige Möglichkeiten des Vollziehens hin überprüft und durchdrungen, um damit eine neue Perspektive zu eröffnen. Vertrautes wird bei ihm zum besonders gehüteten Randbereich der Wahrnehmung, Unerwartetes fordert – allerdings ohne artistische und virtuose Gelegenheitslösungen – die Bereitschaft zur Einlassung, es wird zum Form gestaltenden Prinzip. Huber ist ein Fährtensucher, der immer das Eigenständige und manchmal auch das Eigensinnige der Musik zu Tage fördert. Dem, was der Zuhörer und der Analytiker seiner Musik glaubt, zu kennen, reißt er die Maske herunter, jeder seiner Töne ist Träger einer eigenen, mit Worten kaum zu fassenden Aura. Fast scheint es, als könne man hören, wie seine Musik sich selbst produziert.

Ähnlich nehme ich ihn auch als Lehrer wahr. Er wollte uns dahin bringen, auf unsere eigenen Fantasien zu hören und zu vertrauen und obwohl er, wie wenige Andere, einen so sehr ausgeprägten Personalstil (mit variantischen Unschärfen) hat, gibt es keine Huber-Epigonen, jeder seiner Schüler hat seinen eigenen Weg gefunden und doch glaube ich, jene, deren Musik ich höre, als seine Schüler zu erkennen, jeden unter anderen Aspekten. Er hielt immer kritische Distanz, zeigte dabei aber immer Interesse an unseren Themen.

Die Distanz äußerte sich auch darin, dass Huber so gut wie nie ein Lob aussprach. Dies verstehe ich heute, ebenso wie die Tatsache, dass er sich (zumindest nicht offensichtlich) nach außen hin nicht für uns einsetzte (mit Neid blickten wir manchmal zu anderen jungen Komponisten, deren Lehrer sie „unterbrachten“), als einen großen Vertrauensbeweis in unsere eigenen Fähigkeiten. Ich erinnere mich aber, dass ich doch einmal während meines Studiums ein vielleicht für ihn symptomatisches Lob erhielt. Nach einer Unterrichtsstunde nahm er mich zur Seite und sagte: „Als ich so alt war wie Sie, da war ich bei Nono und er hat mir damals gesagt, ich solle Lenin lesen. Das möchte ich jetzt an Sie weitergeben“. Gleich am nächsten Tag ging ich in das Essener Karl-Marx-Antiquariat und erstand eine vollständige, 44 Bände umfassende Gesamtausgabe. Gelesen habe ich bisher allerdings lediglich den Band „Materialismus und Empiriokritizismus“.

Coda: Bald ist es nun wieder an der Zeit, ihm einen Geburtstagsbrief zu schreiben.

Er wird mir hoffentlich – wie er es in den letzten Jahren getan hat – darauf antworten, und dann werde ich wieder spüren, dass er bis heute mein Lehrer geblieben ist. Das ist manchmal in einem konstruktiven Sinne verstörend, aber es ist gut so! Bonne anniversaire, Nicolaus!

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