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Hans-Jürgen Linke bei seinem Vortrag. Foto: Hufner
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Der Leser, das unbekannte Konstrukt

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Zur Rolle der Neuen Musik in den Feuilletons
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Es ist unter Anhängern der Neuen Musik wahrscheinlich nicht allzu schwierig, sich auf einen Minimal-Konsens über das bundesdeutsche Feuilleton zu verständigen Wobei ich unter „Feuilleton“ die mit kulturellen Themen befassten Ressorts in den Tageszeitungen, in einigen Organen der Wochenpresse und einigen publizistischen Blüten im Fernsehen und im Internet verstehe.

In seinen besseren Zeiten und Varianten beschränkt sich das Feuilleton nicht auf geschmacksneutrales Berichten. Es ist – oder soll sein – ein reflektierender und urteilender Vermittler zwischen Kunst- und Leseröffentlichkeit. Wobei hier zwischen den gedruckten und den elektronischen Medien ein in mancher Hinsicht tiefer Graben klafft. Das feuilletonistische Reflektieren scheint mir nach wie vor stark an die Schriftform gebunden, bildgebende Medien sehe ich ein wenig im Hintertreffen. Das ist aber eine Position, die keine Allgemeinverbindlichkeit beansprucht.

Die Natur des Schriftlichen scheint mir auch in einem relativ engen Zusammenhang mit der Haptik bedruckten Papiers zu stehen. Denn obwohl die meisten schreibenden Menschen seit Jahrzehnten ihre Texte überwiegend vor Bildschirmen sitzend schreiben, lesen sie Feuilleton dennoch am liebsten in der Zeitung. Das ist eine Frage von Gewohnheiten. Dass bei dieser Definition einige jüngere Blogger, die im Schreiben über Neue Musik Wichtiges leisten, hier nicht berücksichtigt sind, ist unfair, aber hoffentlich wenigstens nachvollziehbar.

Trotz enger inhaltlicher Verwandtschaft ist Feuilleton also nicht das, was wir in Fachzeitschriften lesen. Die Idee eines urteilenden Feuilletons bewegt sich im Rahmen des klassischen historisch-soziologischen Konzepts bürgerlicher Publizistik, wie es Jürgen Habermas vor gut fünf Jahrzehnten in seinem Werk über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ gezeichnet hat. Bemerkenswert daran ist, dass bei uns die Presse die Rolle eines Verfassungsorgans spielt, einer demokratischen Überwachungsins-tanz. Aber die Presse ist eine privatwirtschaftliche Branche. Das heißt, dass die Unabhängigkeit, die sie zur Wahrnehmung ihrer Pflichten benötigt, bedeutende wirtschaftliche und mentale Voraussetzungen hat.

Grundsätzlich herrscht in der einschlägig interessierten Leserschaft die Überzeugung vor, dass es um die Neue Musik in den deutschen Feuilletons nicht gut und nicht gerecht bestellt ist. Es gibt allerdings meines Wissens bisher keine systematische Untersuchung über diesen Gegenstand. Wir warten ungeduldig auf das für dieses Jahr angekündigte Buch „Musikjournalismus und Neue Musik“ von Peter Overbeck und sind inzwischen auf Vermutungen und Vorurteile angewiesen. Was ja auch seine bequemen Seiten hat.

Als die Neue Musik noch wirklich neu war, ging es ihr in den Medien vermutlich am schlechtesten, und diese Phase reichte bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Ein paar wenige brillante, unabhängige Kolleginnen und Kollegen verschafften ihr ihren umkämpften Platz im Feuilleton, und vielleicht ist das Umkämpfte daran auch ein Moment dessen, was wir für das Signum einer besseren Ära halten. Die objektiv beste Zeit für die Neue Musik in den deutschen Feuilletons waren die mittleren Achtziger- bis mittleren Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Das war auch eine Zeit, in der die Feuilleton-Ressorts über vergleichsweise stattliche Umfänge und Honoraretats verfügten, in der in Deutschland Kultur generell wichtiger genommen wurde als vorher. Die Neue Musik stand im Kontext einer weiträumigeren Veränderung. Es war die Zeit, als etwa das Ensemble Modern und andere Ensembles gegründet wurden, die sich der Neuen Musik zuwandten und ihr einen bis dato unbekannten Energieschub gaben.

Andererseits waren die achtziger und frühen neunziger Jahre auch eine Zeit tiefgreifender Umbrüche in den Kulturressorts. Es entwickelte sich das so genannte Debattenfeuilleton, das andererseits zugleich eine Entpolitisierung des Rezensionswesens mit sich brachte, also auch ein Verkümmern der Gewissheit, dass das Schreiben über Neue Musik selbst schon etwas Neues beinhalte. In den Feuilleton-Ressorts wurde das Kompositum „Rezensionsfeuilleton“, gelegentlich auch in der pejorativen Variante „Rezensionswüste“ zum Zeichen eines Generationenwechsels. Auch breitete sich in Redaktionsräumen der Service-Gedanke aus und begann, zunächst auf lokaler und regionaler Ebene, eherne Kritiker-Mentalitäten zu überlagern. Und schließlich befreite sich der Pop-Diskurs aus dem Spex-Ghetto und hielt Einzug in die Kulturredaktionen.

Die Neue Musik dagegen sah sich seit den neunziger Jahren in kleinen Schritten ins Lager der kulturellen Normalität abgedrängt. Die Revolution war vorbei, begonnen hatte statt dessen das kollektive Projekt einer Selbsterziehung des Musikbetriebs und einer Erziehung des Publikums. Und in den Feuilleton-Ressorts entfaltete die neue Koalition von Service, Popdiskurs und politischem Feuilleton hegemoniale Bestrebungen im Kampf um die wieder knapper werdenden Druckflächen-Quadratdezimeter.

Denn mit dem neuen Jahrtausend kam die Krise. Sie erfasste die gesamte Printmedienwelt und ist bis heute nicht abgeflaut. Sie veränderte das Berufsbild des Redakteurs grundlegend. Ins Zentrum jeglicher publizistischen Strategie rückte nun der Leser. Das ist keine empirische Größe, sondern ein elastisches Konstrukt, das in jeweils wunschgemäß zurecht geschnitzter Gestalt im redaktionellen Alltag seit alters her die Debatten zwischen Redakteuren und Redaktionsleitungen durchzieht.

Nun aber wurde der Leser empirisch durch seine zunehmende Abwesenheit. Das verlangte nach Forschung. Zeitungen machten sich also zu Objekten medienwissenschaftlicher Vivisektionen unter der Zielvorgabe verbesserter Kundenorientierung. Eine Art der Leserbefragung  kam in Mode, bei der eine repräsentativ ausgewählte Gruppe von Lesern eine Art interaktiver Brille aufgesetzt bekam, die die Augenbewegungen beim Durchsehen der Zeitung registrierte. Die Verweildauer der Augen gab Auskunft über die Nutzung der Zeitung durch den Leser. Es ist klar, dass es bei einer solchen Erhebung schlecht um die Position des Feuilletons, gar um die Neue Musik darin bestellt ist. Die Neue Musik rutschte sozusagen hinter das Komma. Das ist eine uninteressante Position in einer Medienwelt, die sich nur noch als Massenschauplatz sehen will. Aber die zeitgenössische Musik sollte sich, so sehr sie auch unter geringer öffentlicher Relevanz zu leiden hat, nicht daran orientieren, wie wenig Beachtung sie in einem krisenhaft schlingernden Segment der Medienwelt findet.

Die zeitgenössische Musik hat, was sie erreicht hat, zum größten Teil unabhängig von den Feuilletons erreicht. Sie hat aus sich heraus Entwicklungen  genommen, die ihr eine intensivere Beachtung verschafft haben. Dass diese Beachtung rückläufig erscheint, hat Ursachen, die in der Medienwelt begründet liegen – nicht in der Neuen Musik.

Und wer ist schuld an der Misere? Wahrscheinlich der Leser. Nicht der, der beim Frühstück hinter dem Feuilletonteil seiner Tageszeitung verschwindet, sondern jener Leser, der eine empirisch mehr oder weniger gut unterfütterte Projektion der Printmedien-Branche ist. Der Leser, der eine Zeitung nutzt, nicht liest, und der damit zur marktnormierenden Instanz geworden ist. Niemand hat bisher Ideen entwickelt, was man gegen diesen Leser tun könnte.

Der Text basiert auf einem Vortrag, gehalten im April 2013 bei einer Veranstaltung der Gesellschaft für Neue Musik anlässlich der Musikmesse Frankfurt.

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