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Dritter Preis für das deutsch-luxemburgische Alcega Quintett. Foto: Daniel Delang/ARD-Wettbewerb
Dritter Preis für das deutsch-luxemburgische Alcega Quintett. Foto: Daniel Delang/ARD-Wettbewerb
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Die archaische Kraft der Musik zum Leben bringen

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Der ARD-Wettbewerb mit Repertoire-Kreationen und der aufregenden Kategorie Schlagzeug
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Was ist das Besondere, Überraschende in diesem 63. Musikwettbewerb der ARD, der in großartiger Weise Münchens Konzertsäle zu füllen und das Publikum zur Mitbewertung zu animieren versteht, ja damit die Beurteilung durch die viermal siebenköpfige, international gut gemischte Jurygremien von Top-Rang bestätigt oder auch korrigiert. Die Jury wiederum vertei-digt ihren Qualitätsanspruch eben dadurch, nicht in jedem Fall den die Leis­tungsspitze signalisierenden 1. Preis zu vergeben, so diesmal geschehen in den Kategorien Solo-Klavier und Bläserquintett.

Überraschend in diesem Jahr ist auch die hohe Bewerberzahl, insgesamt über 500, vorwiegend im Alter zwischen Mitte und Ende Zwanzig. Fast 90 Prozent aus dem Ausland, weit angereist oder in Deutschland studierend. 220 waren zugelassen, davon aus Südkorea und Deutschland je 50 Kandidaten. Sie gewannen je einen 2. und einen 3. Preis, ebenso Rumänien. Das übrige Ergebnis: Die Bewerber aus Frankreich holten sich zwei dritte, Luxemburg, Italien, Spanien und Ungarn je einen Hauptpreis, die Sonderpreise nicht mitgerechnet.
Die jüngste ARD-Kategorie, Schlagzeug, stand diesmal besonders im Fokus. Erst 1977 war sie zögerlich eingeführt und seither in unregelmäßigen Mehrjahresabständen ausgeschrieben, doch zurückhaltend mit Preisen bedacht. Vielleicht der Unsicherheit wegen: Wie soll das Spiel auf diesem Konvolut vieler dem Schlagzeug zuzurechnender Instrumente bewertet werden? Welche Spielliteratur, welche Maßstäbe? Inzwischen liegen Erfahrungen vor.

Originales und notiertes Spielrepertoire hat sich mehr oder weniger erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt, angeregt von einem ständig erweiterten Equipment, beeinflusst von musikalischen Traditionen außerhalb mitteleuropäischer Kulturen. Heute finden wir in der aktuellen Ausschreibung eine vielseitige Wahlstückliste, ausschließlich der zeitgenössischen Musik zuzurechnen, gemixt von vielerlei Elementen wie Popularmusik, Jazz, Improvisation, Elektronische Musik. Die diesjährigen 40 Schlagzeug-Bewerber bewiesen ein  anspruchsvolles Spielniveau – parallel schon an den Musikschulen und dann im Wettbewerb „Jugend musiziert“ zu beobachten:  Schlagzeug  gehört inzwischen zum Furore-Instrument des musizierenden Nachwuchses, Blockflöte, Gitarre und Klavier ablösend. Ähnlich der Körper-Gestik beim Sologesang haben es Juroren beim Schlagzeug nicht leicht: Wie sollen sie neben musikalischen, technischen und künstlerischen Komponenten den fast unheimlichen sportiven Einsatz des Interpreten bewerten, der sich allein schon aus der Beherrschung des zwangsläufig weit auseinander aufgestellten Instrumentariums ergibt: Zauberei mit den Schlägeln, supervirtuoser Körperein-satz, einer Zirkusnummer gleichend. Nur wilde und sich zügelnde Temperamente haben hier Chancen.

Mit Auftragswerken, seit 2001 vergeben, ist der ARD-Wettbewerb in unserer kompositorischen Gegenwart angekommen. Darin steckt die Erwartung, dass die beauftragten Komponisten die Anforderungen und Möglichkeiten der jeweiligen Kategorie ausschöpfen und doch Freiraum für individuelle Gestaltung lassen. Notenvorlage für diese 10- bis 15-minütigen Pflichtstücke erhalten die Kandidaten erst wenige Wochen vor ihrem Vorspiel; sie sollen sich bereit und fähig erweisen für die positive Auseinandersetzung mit aktuellen kompositorischen Erscheinungsformen. Inwieweit sich ein Kandidat damit identifiziert, diese Antwort gibt er mit seinem Wettbewerbsvorspiel in Form der Uraufführung, und die schafft dem jeweiligen Komponisten entweder Horror oder Glücksmomente.

Hochinteressant, wie unterschiedlich die Kandidaten in ihrer Pflichtkür diese Auftragswerke anpacken. Auch für die Jury sind sie Neuland. Eindrucksvoll zu erleben war dies bei der „Wolkenstudie“ für solo percussion von Johannes Fischer („Ich mag die archaische Kraft des Trommelns“). Inspiriert zu dieser Komposition hat ihn ein Aquarell des englischen Landschaftsmalers William Turner. Johannes Fischer war eine glückliche Wahl; denn er hat vor sieben Jahren selbst Erfahrungen als ARD-Preisträger gemacht und leitet jetzt an der Lübecker Musikhochschule eine Ausbildungsklasse für Schlagzeug. Die beste Interpretation dieses Trommel-Orkans, Pflichtstück im Semifinale, lieferte der Münchner Student Alexej Gerassimez. Er  bekam dafür den Sonderpreis neben dem  2. Hauptpreis für das von ihm im Finale gewählte Concerto von Tobias Broström. Den 1. Preis holte sich sehr überzeugend der Italiener Simone Rubino mit Avner Dormans „Frozen in Time“ durch sein rasantes, andererseits vorzüglich abgestuftes Partnerspiel mit dem BR-Symphonieorchester, während dem Luxemburger Christoph Sietzen mit Dormans „Frozen“ der 3. Preis blieb.

In dem Auftragswerk, das Tobias PM Schneid für die Cellisten angedacht hatte – eine Solo-Suite von sechs unterschiedlichen Klangformationen – werden dem Spieler mit Bogen und Fingersatz ungewohnte Spieltechniken abverlangt; heraus kommen hektische Phrasen, farbige Klangeffekte, tiefgründige Empfindungen. Die interessanteste Interpretation davon lieferte der 2. Preisträger, der Rumäne Andrei Ionita, wofür ihm neben dem 2. Preis der Sonderpreis zustand. In die Schlussrunde und zum 1. Cello-Preis kämpfte sich sein ungarischer Kollege István Várdai. Der Franzose Bruno Philippe wurde Dritter, aber mit dem Publikumspreis versöhnt.

An den „Grenzen der Unspielbarkeit“ bewegt sich dem Ruf nach der frankokanadische Klavierkomponist Marc-André Hamelin; dementsprechend ausgefallen ist seine Klavier-Auftragskomposition. Am Anfang ein alter Schreittanz in populärem Volkston, daraus entwickelte er die „Pavane variée“, in deren Variationen sich alle nur denkbaren Gewitterstimmungen entladen und die Pianistenhände zum Schwitzen bringen. Der Südkoreaner Chi Ho Han hat sie mit stoischer Ruhe und (als einziger) auswendig wiedergegeben, sicher einer der innehaltenden Augenblicke dieses Klaviermarathons, wofür er den Audience Prize verdiente. Am Tag drauf rangierte er für das Beethoven-Konzert op. 58 mit dem BR-Symphonieorchester zwar als bester Pianist dieses Wettbewerbes, aber die Jury wollte sich nur für den 2. Preis entscheiden. Der Publikumspreis ist dann eine Art moralische Entschädigung. Zwei dritte Preise gehen an den Rumänen Florian Mitrea und den Südkoreaner Kang-Un Kim (für Tschaikowskys Klavierkonzert op. 23). Dann stimmt wohl das Klavier-Résumé 2014: Die Pianistenlobby meint, sich im ARD-Wettbewerb schon an weit bessere Jahrgänge erinnern zu können.

Bläserquintett, eines der vier tournierenden Ensemblefächer im ARD-Wettbewerb, zeigte dagegen ein erfreulich hohes Durchschnittsniveau, obwohl sich die Jury auch hier zu keinem 1. Preis durchrang. 20 der 24 Bläserquintette kamen aus europäischen Ländern, darunter etliche im „Europa-Format“,das heißt Studierende oder Musiker mehrerer Nationen, die sich zu einem Ensemble auf Zeit verständigt haben als Alternative oder Ergänzung zum Orchesterdienst. Das schmale zeitgenössische Repertoire für Bläserquintett sollte der aus Georgien stammende, in Belgien lebende Giya Kancheli mit dem an ihn ergangenen Kompositionsauftrag aufbessern. Sein temperamentvolles Opus voller suggestiver Ausstrahlung fand die überzeugendste Interpretation im Semifinale durch das deutsche canorusquintett. Als Bestleis­tung fand die Jury zwar das spanische Azahar Ensemble heraus, vergab aber doch nur den zweiten Preis, das Publikum stockte mit dem Audience Priz­e auf. Mit zwei 3. Preisen gewürdigt wurden das deutsch-luxemburgische Acelga Quintett und das französische Quintette Klarthe. Die Auftritte der zwei Dutzend Bläserquintette feierte Münchens Publikum wie ein eigenes Kammermusikfest.

Was folgt? Neben den Hauptpreisen (zwischen 5.000 und 25.000 Euro) wartet auf die erfolgreichen Teilnehmer eine lange Liste von Sonderpreisen (ab 1.000 Euro) und Förderungsangeboten für sicher zwei bis drei Jahre. Die deutschen Rundfunkanstalten und engagierte Partner stehen dahinter. Wichtig zu erfahren: Der ARD-Wettbewerb gilt mindestens für die nächsten zwei Jahre als gesichert, das wechselnde Folgeprogramm ist bereits angekündigt (www.ard-musikwettbewerb.de). Ein Teilnehmer schickte eine Abschieds-SMS: „Auch wenn man nicht gewinnt: eine tolle Erfahrung, ein wichtiger Motivationsschub, ein tolles Erlebnis, dabei gewesen sein zu dürfen bei einem der weltweit besten Wettbewerbe ...“ und eines Jurors: „Unsere Aufgabe ist es, Musik zum Leben zu bringen.“

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