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Die politische Ohnmacht der Seherin

Untertitel
Uraufführung von Gerhard Stäblers „Cassandra Complex“ in Wiesbaden
Publikationsdatum
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Von den siegreichen Griechen überwältigt, harren die trojanischen Frauen des Todes; Kassandra blickt zurück auf Geschichte und Vorgeschichte des Krieges, die in 34 mehr oder weniger kurzen Szenen schlaglichtartig aufgeblendet werden. Die Autoren haben die Figur der Apollopriesterin, die ihre Sehergabe mit ihrer politischen Rolle in der Stadt nicht vereinen kann, aufgespalten: Die nach außen hin agierende Kassandra, ein heller Koloratursopran, kontrastiert mit dem dunklen Alt von „Kassandras Stimme“. Kassand-ra trägt Weiß – wie all die funktionierenden Funktionäre der Stadt. Ihre „Stimme“, die mit verbundenen Augen langsam und stetigen Schrittes die Bühne umkreist, trägt Schwarz – wie all diejenigen, die sich der inneren Mobilmachung in der Stadt noch entziehen können und wollen.

Von Krieg handelt das Stück – wie Christa Wolfs Erzählung Kassandra, die dem Komponisten Gerhard Stäbler und seinem Librettisten Hanns-Werner Heister als Vorlage gedient hat. „Cassandra Complex“, uraufgeführt im Wiesbadener Staatstheater im Rahmen der Maifestspiele, ist laut Untertitel ein Stück „Musiktheater“. Das dreistündige Werk entstand aus mehreren Vorstudien des 1949 geborenen Komponisten zur Figur der trojanischen Seherin und Priesterin Kassandra. Von den siegreichen Griechen überwältigt, harren die trojanischen Frauen des Todes; Kassandra blickt zurück auf Geschichte und Vorgeschichte des Krieges, die in 34 mehr oder weniger kurzen Szenen schlaglichtartig aufgeblendet werden. Die Autoren haben die Figur der Apollopriesterin, die ihre Sehergabe mit ihrer politischen Rolle in der Stadt nicht vereinen kann, aufgespalten: Die nach außen hin agierende Kassandra, ein heller Koloratursopran, kontrastiert mit dem dunklen Alt von „Kassandras Stimme“. Kassand-ra trägt Weiß – wie all die funktionierenden Funktionäre der Stadt. Ihre „Stimme“, die mit verbundenen Augen langsam und stetigen Schrittes die Bühne umkreist, trägt Schwarz – wie all diejenigen, die sich der inneren Mobilmachung in der Stadt noch entziehen können und wollen. Regisseur Dominik Neuner, Bühnenbildner Thomas Gruber und Kostümbildnerin Susanne Hubrich haben konsequent auf das Spiel mit dem farblichen Gegensatz von Schwarz und Weiß gesetzt. Eine Anspielung auf jenes Schwarzweiß-Denken, das in Krisenzeiten dominiert und in Troja das zwischenmenschliche Klima vergiftet? Ein Hinweis auf unterschiedliche Rollen: Hier die Schwarzseher, dort die mit der (verdächtig) weißen Weste? Oder ein Weitergeben der Erfahrung, dass Schwarzweißbilder oft klarer zeichnen als knallige Farbfotos? Es sind die Griechen, die im leuchtenden Orange der Tiefbauarbeiter und Müllentsorger kommen und mit den Resten des altmodischen Troja brutal aufräumen werden.

Christa Wolf legt in Kassandra ihr Augenmerk auf die innere Logik der Eskalation. Weil man den äußeren Feind im Innersten braucht, vermag man der fatalen Verkettung der Ereignisse nicht zu widerstehen. Das Troja, das den Griechen in die Hand fällt, hat längst schon sein Gesicht verloren, das es noch zu wahren glaubte. Stäbler und Heister übernehmen diesen Ansatz. Dass auf der Bühne über Krieg und die Bedingungen seiner Entstehung reflektiert wird, ist umso bemerkenswerter, als im vergangenen Jahr der erste Krieg nach 50 Jahren Bundesrepublik Deutschland zuweilen als triumphaler Wiedergewinn politischer Normalität gepriesen wurde – anstatt ihn als trauriges Resultat politischen Versagens zu beklagen.

Doch im Großen Haus des Wiesbadener Staatstheaters führen uns Musik und Bühne bewusst zurück auf die (von politischer Symbolik sorgsam verkleideten) archaischen Abgründe menschlichen Denkens und Verhaltens. Neuner belebt die Bühne mit sparsamen, oft eher symbolischen Gängen und Gesten, zumeist ruhig, nur manchmal beängstigend schnell. Auch Stäblers Partitur dosiert die musikalischen Mittel vorsichtig. Brutale Bläserstöße, knirschend-zerknirschte Streichereffekte mit dem Bogen, perkussive Entladungen – all das kennt diese Musik, aber nicht als Überwältigungstheater aus dem Orchestergraben, sondern als subtiler Kommentar zur Szene – bis dahin, dass ein schwarz gekleideter Bewegungschor auf der Szene virtuos die verschiedensten Schlaginstrumente bedient. Hier wird die elementare Wirkung von Klang erfahrbar.

In einem sarabandenartigen Rhythmus klingt bisweilen, ganz von ferne, barocker Trauergestus an. Mit beeindruckender Zuverlässigkeit und Intensität agiert das Orchester unter Leitung von GMD Toshiyuki Kamioka.

Die rezitativische Führung der Singstimmen zielt darauf ab, den Text verständlich zu machen. Das gelingt nicht immer; die Qualität der Artikulation ist doch sehr unterschiedlich – ausgezeichnet allerdings bei Günther Kiefer als Aineas und Anchises und Andreas Scheidegger, der als Eumelos mit einem unheimlich scharfen Falsett Profil gewinnt. Die sängerische Ausdrucksspanne wechselt zwischen Ruhe und Exaltiertheit; Sonja Pascale in der Titelrolle und Katja Boost als ihr dunkles Pendant liefern eine eindrucksvolle Vorstellung. Dass man auch jene Sätze des Textbuches, die zur gedanklichen Reflexion anregen, oft nicht versteht, bleibt allerdings ein Handicap.

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