Hauptbild
Man muss Klaviere spielen können: Für sein Stück „limited approximations“ ließ Georg Friedrich Haas sechs Flügel in Zwölfteltonabständen stimmen. Foto: Charlotte Oswald
Man muss Klaviere spielen können: Für sein Stück „limited approximations“ ließ Georg Friedrich Haas sechs Flügel in Zwölfteltonabständen stimmen. Foto: Charlotte Oswald
Banner Full-Size

Donaueschinger Musiktage entdecken das Streichquartett

Untertitel
Eine farbige Quardittiade mit drei Quartettformationen, eine Radiographie d’un roman und Zwölfteltonpianos
Publikationsdatum
Body

Jubel in der SWR-Presseinformation: Donaueschinger Musiktage im Zeichen des Streichquartetts, zweiundzwanzig Werke zeitgenössischer Musik an drei Tagen uraufgeführt, ausverkaufte Konzerte, Klanginstallationen, internationaler Studentenworkshop. So lautete der Vorspann. Und der erste Satz: „Das Streichquartett lebt“. Worauf man, leicht irritiert, antworten möchte: es war eigentlich nie tot, auch in der Moderne nicht. Fast alle namhaften zeitgenössischen Komponisten widmeten der sogenannten „Gattung“ gewichtige Werke, von Schönberg bis zu Nono, Wolfgang Rihm, Ferneyhough, Schostakowitsch, um nur einige zu nennen. Insofern bedeutete das Streichquartett-Thema für sich allein betrachtet nicht unbedingt eine Entdeckung. Die Donaueschinger Musiktage, geprägt vor allem durch das große Orchesterwerk, wollten wohl einmal kammermusikalisch auftreten. Für das nächste Jahr wird ein neues Werk von Wolfgang Rihm annonciert: für Sinfonieorchester und Ensemble gemeinsam. Dann wird Donaueschingen wieder bei sich selbst sein.

Natürlich ist es für ein Avantgarde-Festival legitim, sich mit dem Streichquartett zu beschäftigen. Diese Kunst- und Musizierform mit ihrer langen Geschichte und ungebrochenen Vitalität bis in die Gegenwart darf über die jeweilige konzertante Darbietung hinaus entsprechende Aufmerksamkeit beanspruchen. Was veranlasst vier Musiker, ein Streichquartett zu gründen? Wie steht es um die innere und äußere Kommunikation? Vier Musiker unter sich, ein aufmerksames Publikum, das sich zuhörend in den inneren Kommunikationsprozess einzubringen wünscht. Fragen über Fragen. Armin Köhler, für das Programm verantwortlicher Leiter der Musiktage, hat sich schon im Vorfeld der Konzerte in Gesprächen und Aufsätzen zum Thema „Streichquartett am Beginn des 21. Jahrhunderts“ geäußert. Er sprach mit den Musikern der drei nach Donaueschingen eingeladenen Ensembles – Arditti Quartet, Quatuor Diotima, Jack Quartet – und mit den Komponisten, die neue Werke zum Anlass schrieben. Die informativen Gespräche sind im Programmbuch der Musiktage 2010 nachzulesen, in Auszügen hat die neue musikzeitung auch in der letzten Ausgabe (nmz 10/2010, S. 7) die Interviews veröffentlicht.

So aufschlussreich und spannend die Hintergrundinformationen über das Leben im Streichquartett auch sein mögen, entscheidend bei allem ist schließlich das musikalische Ergebnis, an dem Komponist und Interpreten ihre jeweiligen Anteile haben. Den Auftakt zum Streichquartett-Komplex bildete die Uraufführung von Bernhard Langs einstündiger „Monadologie IX“ für Streichquartett mit dem Titel „The Anatomy of Disaster“. Die „Monadologien“ Bernhard Langs stellen „Übermalungen“ von Werken anderer Komponisten dar. Mittels Elektronik wird das vorliegende komponierte Material entsprechend bearbeitet, „prozessiert“, wie der Fachbegriff lautet. In der Monadologie IX“ übermalt der Komponist Haydns diverse Fassungen der „Sieben Worte des Erlösers am Kreuz“. Die Satzfolge ist identisch mit der des Originals. Lang überträgt (übermalt) das Katastrophische der Textinhalte in entsprechende Klangprozesse, die eine gleichsam narrative Klangaura verbreiten. Haydns Original klingt immer wieder zart, wie von Ferne, in Langs „Verwandlungen“ auf, am stärksten im finalen „Erdbeben“ (Il Terremoto). Es ist eine Musik, die das Stockende, Bedrückende, den Atem nehmende der Textinhalte eindringlich erfasst. Diese Eindringlichkeit zeichnete auch die Darstellung durch das Arditti Quartet aus.

Das Zentrum der Donaueschinger Streichquartett-Tage bildete die so genannte „Quardittiade“, was man als kleine verbale Huldigung an das verdienstvolle Ensemble um Irvine Arditti verstehen sollte, nicht als Zurücksetzung der beiden anderen beteiligten Quartettvereinigungen, des Pariser Quatuor Diotima und des Jack Quartet aus New York. Der Programmablauf war folgender: Die Ardittis spielten im neuen Strawinsky-Saal der zu einem Glaspalast mutierten Donauhallen. Das Diotima-Quartett trat in der Chris-tuskirche auf, das Jack Quartet in der Erich-Kästner-Halle. Jedes Quartett trat an einem Tag dreimal mit demselben Programm (vormittags, früher und später Nachmittag) auf, entsprechend waren die Eintrittskarten vergeben: jeder Besucher konnte, wenn er wollte, alle drei Programme zu verschiedenen Uhrzeiten hören. Es gab auch zwei Simultan-Uraufführungen: James Dillons Streichquartett Nr. 6 von Arditti und Jack Quartet, Peter Ablingers Beitrag von Diotima- und Jack-Quartett. Solche Ensemble-Wettkämpfe – vor zwei Jahren stritten drei der besten Instrumentalensembles (Ensemble Modern, Klangforum Wien, Ensemble intercontemporain) in Donaueschingen um die Siegespalme – besitzen zwar einigen Unterhaltungsreiz, aber man sollte daraus nicht eine ständige Einrichtung werden lassen: Donaueschingen sucht das nächste „Top Trio“ und so fort. Das lenkt eher vom Kern eines Festivals ab: dem neuen Werk.

Neue Streichquartette, neben dem bereits erwähnten von Bernhard Lang, stammten von James Dillon, Philippe Manoury, Brian Ferneyhough (vom Arditti Quartet gespielt), Ondrej Adámek, Peter Ablinger, Alberto Posadas (Quatuor Diotima, auch mit Dillon), Aaron Cassidy, Alan Hilario (Jack Quartet, auch mit Peter Ablinger und James Dillon). Dass James Dillons Streichquartett Nr. 6 mit der leicht übertüftelten, bogenförmigen Konstruktion aus instrumentalem Diskurs und lebhafter Agilität gleich dreimal interpretiert erschien, wirkte interpretatorisch etwas überbewertet, zumal die Darstellungen von Diotima und Jack Quartet ein wenig trocken und schematisch anmuteten, während die Ardittis doch entschieden mehr Klangfarbigkeit in den Noten aufscheinen ließen. Gern hätte man dagegen Brian Ferneyhoughs Streichquartett Nr. 6 einmal mehr gehört als nur von den Ferneyhough-Experten um Irvine Arditti, denen eine schlechthin atemversetzende Interpretation gelang. Ferneyhoughs „Komplexität“ gewinnt hier eine, man möchte fast sagen, „wunderbare“ Leichtigkeit, Transparenz, Lockerheit in den konstruktiven Anordnungen, die umso stärker beeindruckt, weil dadurch die kompositorische Dichte in keiner Weise irgendwie „verdünnt“ erscheint. Dem Arditti Quartet gelang auch eine überzeugende Darstellung von Philippe Manourys Erstem Streichquartett, das den Titel „Stringendo“ trägt. Manoury bindet in einem komponierten Beschleunigungsprozess musikalische Elemente, die anfangs ungeordnet umherzufliegen scheinen, in allmählich festere Ordnungen, bis am Ende eine Monodie und die Andeutung eines Pizzicatos den „Teilchenbeschleuniger“ zum Stillstand bringt. Manoury verzichtet bei allem auf oberflächliche Effekte, sein „Stringendo“ beeindruckt besonders durch die kompositorische Stringenz.

Wenn ein Avantgardefestival sich dem tradierten Streichquartett zuwendet, darf das experimentelle Ausdrucksmittel nicht fehlen: „slap Schlag, Klaps + stick Stock“ nennt Alan Hilario seine Komposition für Streichquartett und Quartett-Tisch. Abwechselnd klöppeln die vier Spieler mit Hölzern auf den hölzernen Quartett-Tisch rhythmisch pointiert oder mit schleifenden Klängen die Streichinstrumente imitierend, dann wieder greifen sie zu ihren „richtigen“ Instrumenten, auf denen sie dann vorwiegend die geklopften Vorgaben wiederum zu imitieren scheinen. Ein bisschen Dada, Saties Musik als Möbelstück, eine Dosis Juxerei, das nutzt sich nach anfänglicher Heiterkeit alsbald schnell ab. Und Peter Ablingers „Wachstum und Massenmord“ für „Titel, Streichquartett und Programmnote“ suggeriert weitschweifig eine Probensituation mit vier ratlosen Musikern, die anscheinend gar nicht wissen wollen, wo es lang geht. Eine Performance, die Verweigerungshaltungen thematisiert. Das wirkte sehr schnell ziemlich dösig, auch wenn das Jack Quartet sich vehement sowohl für Ablinger als auch für Hilarios „Klaps“-Stück engagierte.

Die Fixierung der Musiktage auf das Streichquartett ging glücklicherweise nicht so weit, das große Orchester auszusperren. Eine Art „Brücke“ bildete dabei die Verschmelzung eines Streichquartetts (noch einmal die Ardittis) mit einem Orchester. Zur deutschen Erstaufführung war Pascal Dusapin mit seinem „Quatuor VI –Hinterland“ nach Donaueschingen gekommen. Leicht schematisch wechselten Quartett und Orchester (das SWR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling) einander ab, eine zwingende Struktur für die Kombination der zwei Ensembles war nicht auszumachen. Immerhin gelang es dem Komponisten, etliche Buhrufer zu evozieren: eine in Donaueschingen inzwischen fast unbekannt gewordene Erscheinung. Die vielen jungen Leute, die in Kursen und Proben an die neue Musik herangeführt werden sollen, um deren Zukunft zu sichern, nicken in den oft übervoll besetzten Konzerten jede Novität, und sei diese noch so angestrengt marginal, einfach mit immer derselben Beifallsstärke ab. Musikvermittlung ist gut, aber nicht ausreichend. Den eigenen Kopf einsetzen und hören, hören, hören, um sich persönliche Erfahrungen und Vergleichsmaßstäbe zu erarbeiten, kann nicht schaden.

Diesbezügliche Maßstäbe setzten zwei gewichtige Orchester- beziehungsweise Orchester-Chor-Konzerte zu Beginn und am Ende der Musiktage. Der nimmermüde Vinko Globokar komponierte eine „Radiographie d’un roman“, für gemischten Chor (mit sieben Solisten), Akkordeon solo, Schlagzeug solo, 30 Instrumentalisten und Live-Elektronik. Unter den solistischen Stimmen befand sich immerhin ein David Moss, der für eine markante Stimm-und Spieleinlage stets gut ist. Globokar untergliedert seine Texte in fünf Sprachen in Substantive, Verben und Adjektive. Da er die Inhalte des radiophonischen Romans der Imagination des einzelnen Hörers überlässt, kann sich jeder seinen Vers selbst machen. Babylonische Sprachverwirrung, die zunehmende Unfähigkeit, noch ganze Sätze mit Subjekt, Prädikat, Objekt zu bilden, das Durcheinanderreden ohne anderen zuzuhören, auch einfach nur die Lust am Spielen mit Sprache – alles wäre denkbar. Globokars Komposition operiert auf verschiedenen Ebenen, changiert in 39 Klang-Roman-Kapiteln zu je einer Minute zwischen den unterschiedlichsten Ausdrucksmitteln, schickt einen Schamanen mit einer großen Trommel durch die Musiker, der sich anschließend in einen virtuosen Schlagzeuger verwandelt (grandios Jean-Pierre Drouet). Vinko Globokars Vitalität, seine Phantasie, sein Engagement sind ungebrochen. Den Interpreten diente die Vorlage zu einem fulminanten Auftritt: SWR Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg, SWR Vokalensemble Stuttgart und Experimentalstudio des SWR Freiburg, alle vom Dirigenten Rupert Huber souverän angeleitet, sahen sich stürmisch gefeiert.

Vor dem Globokar-Werk überzeugte Klaus Ospald mit einer Komposition für Bläser, Harfe, Schlagzeug und Chor, die den Titel „One shade the more, one ray the less…“ trägt. In Musik, in ausdrucksvollen, oft mächtigen Klängen und bildhaften Texten beschwört der Komponist auf eine sehr persönliche Weise eine Endzeitstimmung. Dass auch in der neuesten Musik das autonome Kunstwerk seinen Rang behauptet, bewies das zuletzt uraufgeführte Werk. Georg Friedrich Haas‘ „limited approximations“, ein „Konzert für sechs Klaviere im Zwölfeltonabstand und Orchester“. Haas’ Operieren mit kleinen und kleinsten Tonabständen erreicht hier eine äußerste Verfeinerung des Klanges. Man vernimmt kaum noch Intervalle, vielmehr erscheint das einzelne Intervall als leicht gespreizter Ton, der aber durch die Differenz in den Frequenzen eine unerhörte Farbigkeit gewinnt. Etwas Faszinierendes, gleichsam Klang-Magisches geht von dem Werk aus, das wie ein Klang-Farben-Breitband vorüberzieht.

Dem SWR-Sinfonieorchester gelang unter Sylvain Cambrelings Leitung eine perfekte Aufführung, die einen Jubelsturm im Publikum auslöste, der auch den sechs Pianisten galt: Pihsien Chen, Christoph Grund, Florian Hoelscher, Akiko Okabe, Sven Thomas Kiebler und Julia Vogelsänger. Im Anschluss überreichte das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg seinen Kompositionspreis für das Werk, welches eine Orchesterjury als bestes der Musiktage erkor. Diesmal gab es keine gespannte Erwartung: Natürlich das Haas-Opus.

Vor der Haas-Aufführung spielten die Pianisten noch zwei kurze Kompositionen (Arc-en-ciel) für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Flügel des russischen Komponisten Ivan Wyschnegradsky (1893–1979), der von Georg Friedrich Haas besonders geschätzt wird.

Nach-Klänge

Die herausragenden Kompositionen von Globokar, Haas, Ferneyhough, Manoury verdrängen in einem Bericht über das Festival rasch anderes. Die Gefahr additiver Langeweile liegt immer nah, wenn man alles erwähnt. Nicht unterschlagen werden soll aber ein Konzert der Radio Kamer Filharmonie Hilversum unter Peter Eötvös, die neben Uraufführungen von Felipe Lara, Michael Norris und Simon Steen-Andersen auch ein neues Werk von Marco Stroppa präsentierte: „Let me sing into your ear“ für verstärktes Bassetthorn und kleines Orchester. Die intendierte Klangperspektive will den weit hinten postierten Solisten mittels vorn aufgestellter Lautsprecher gleichsam dreidimensional in den Zuhörerraum „abstrahlen“. Ob das alles so funktioniert hat wie beabsichtigt, ist schwer zu beurteilen. Auf jeden Fall schrieb Stroppa eine feine, von innen nach außen sich artikulierende Musik von hoher Klangsensibilität. Der Solist Michele Marelli, zeitweilig ein Stockhausen-Schüler, erwies sich dabei als adäquater Interpret – die Neue-Musik-Szene könnte einen neuen Star gewonnen haben. – Apropos neue Musik: Im Anschluss an das Konzert verlas Peter Eötvös einen Aufruf zu einem Protest: Die neue niederländische Regierung will das Musikzentrum des niederländischen Rundfunks abschaffen. Dazu unser Cluster-Kommentar auf Seite 10.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!