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Faszinierende Entdeckung: „Carlotas Zimmer“ von Arturo Fuentes mit Sarah Maria Sun in Schwaz. Foto: Fuentes
Faszinierende Entdeckung: „Carlotas Zimmer“ von Arturo Fuentes mit Sarah Maria Sun in Schwaz. Foto: Fuentes
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Ein Blick zurück – ein Schritt in die Zukunft

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Seit 25 Jahren lassen die Klangspuren Schwaz Neues entstehen
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Von der verrückten Idee eines subversiven gallischen Dorfes für unbequeme Töne zum erfolgreichen Tiroler Festival für neue Musik: 25 Jahre Klangspuren Schwaz – ein Grund zu feiern.

Genau das hat man mit der diesjährigen Jubiläumsausgabe auch getan. Und ganz programmatisch hat der künstlerische Leiter Matthias Osterwold – der mit diesem Festivaljahr sein Amt nach sechs Jahren an Reinhard Kager übergibt – das Motto „FESTE.ORTE“ ausgerufen und damit in wenigen Worten aber großen klanglichen Reichweiten fast alles gesagt. Vieles ausgedrückt und zu musikalischen Hoch- und Aufbruchsstimmungen, zu Ritualen, zu aufregenden Wagnissen ermutigt, zu ungewöhnlichen Schau- und Hörplätzen eingeladen. Viel Neues erzählt, aber auch Geschichte geschrieben. Nicht nur die gedanklichen Meilensteine, die in den vergangenen Jahren gesetzt wurden, hat das Festival mitschwingen lassen, sondern auch ganz aus der Tradition heraus Fragen gestellt und Stellung zu gegenwärtigen Neu-Tönen und Tendenzen bezogen. Denn ohne Vergangenheit keine Zukunft und schon gar kein Heute.

Die Kunst des Augenblicks

In Zeiten von allgegenwärtiger Verfügbarkeit jeglicher Form von Musik, ständiger Berieselung bis hin zu Akustikmüll (Anm. der Autorin), sei es umso wichtiger, gegen die Verflachung der Wahrnehmung das Ereignis der Live-Aufführung, das Hier und Jetzt der Performance lebendig zu gestalten – so sinngemäß ein zentraler Gedanke der Klangspuren 2018. Widerstand, Aufrütteln und Aufhorchen-lassen also als Grundstimmung – ganz im Sinne und Geiste des Erfinders. Wiewohl der heute renommierte und bekannte Komponist und Pianist Thomas Larcher als Mitgründer des Festivals vor 25 Jahren wohl andere Sorgen hatte, ging es doch darum, einen erweiterten Ort, einen intimen aber großzügigen Platz, einen grenzenlosen Raum für neue Musik am anderen Ende von Wien Modern und vielleicht eine künstlerische Gemeinschaft Gleichgesinnter zu finden. Gedacht, getan: In Schwaz, der kleinen Stadt mit wechselhafter Geschichte im Inntal – der Heimatstadt Larchers –, wird der Suchende fündig. In Sporthallen, in Kirchen, in White Cubes und Black Boxes, in Einkaufszentren, auf dem Berg, auf dem Wasser, unter freiem Himmel inmitten der Natur entdeckt und genießt, diskutiert und verweigert man. Vor allem aber entsteht in immer mutiger werdenden Schritten Neues. Sie kommen und pilgern förmlich nach Schwaz, die großen Namen und das Publikum.

Die Wegbereiter und Wegbegleiter

So auch im Jubiläumsjahr. Ein Sonntag in Schwaz genügt, um 25 Jahre widerzuspiegeln und die Grenzen zwischen klassisch und zeitgenössisch scheinbar aufzuheben. Wenn es denn diese Grenze je gegeben hat.

Blättern wir das Programm durch: Saunders, Stockhausen, Varèse, Strawinsky, Bach, Larcher, … Werke, Komponisten, Künstler der neuen Musik der letzten dreißig, vierzig, fünfzig Jahre… Uraufführungen, Entdeckungen und Wiederbegegnungen. Dass sich im Laufe dieser Jahre namhafte Komponisten in ihren unterschiedlichen Schaffens­perioden immer wieder eingefunden und sich mitunter im großen Feld der neuen Spielweisen zu „Klassikern“ entwickelt haben, verwundert also nicht weiter.

Bleiben wir bei besagtem Sonntag mit Symbolcharakter. Am Vormittag ist ein Konzert der International Ensemble Modern Academy – man feiert 15 Jahre – zu erleben, in dem junge professionelle Instrumentalisten das künstlerische Ergebnis ihres zehntägigen „Meisterkurses“ präsentieren. Wie frisch und modern klingt da beispielsweise das 1923 komponierte siebenminütige „Octandre“ für sieben Bläser und Kontrabass von Edgard Varèse. Wie spielerisch und mit welcher Leichtigkeit bewegen sich die jungen Musiker in den komplexen Klangwelten von der in Berlin lebenden Britin Rebecca Saunders, die als Composer in residence den diesjährigen künstlerischen roten Faden spinnt. Respektvoll, aber nicht ohne vergangene Interpretationen zu hinterfragen. Man macht sich neue Gedanken, nimmt neu wahr und hört neu. Ein lustvoller Prozess. Ganz im Sinne des Verlassens von bekannten Pfaden und Hörgewohnheiten ist dann auch das abendliche Programm gestaltet. Kein Kontrastprogramm im klassischen Sinne, aber dennoch „ungehört“ im besten Sinne des Wortes. Kammermusik am Rande der Stille. Das aus Paris stammende exquisite Ensemble „Quatuor Diotima“ tritt in der Schwazer Kirche St. Martin auf und schenkt der Gegenwartsmusik eine faszinierende künstlerische und räumliche Dimension. An diesem Ort der inneren Einkehr entfaltet das als Uraufführung von den Klangspuren in Auftrag gegebene Streichquartett von Jean-Luc Hervé eine unglaubliche Kraft und Intensität. Es ist das erste Streichquartett des im zeitgenössischen Repertoire etablierten Komponisten. Nichts an diesem Werk ist überfrachtet. Weniger ist mehr. Zurück zu den Ursprüngen neuer Musik.

Auf das Wesentliche des Klangs reduziert, an der Grenze der Wahrnehmung, energetisch aufgeladen, emotional fordernd allen voran zum Spüren nahe und am Puls der Zeit sind die aufgeführten Werke. Jedes für sich und allesamt folgen sie den vergangenen und heutigen Klangspuren.

Klangspuren

Die Kunst aber auch die Zahlen sprechen für sich: Neun Uraufführungen, acht österreichische Erstaufführungen, zwölf Wohnzimmerkonzerte, rund 3.800 Besucher. Das kann sich sehen und hören lassen. Beispielsweise noch ein Auszug aus dem Tagebuch der Klangspuren Schwaz: ein Abend mit „Carlotas Zimmer“. Der Mexikaner Arturo Fuentes überrascht und entführt mit seinem multimedialen Musiktheaterstück in die seelischen Innenwelten der unglücklichen belgischen Prinzessin Charlotte. Der in Tirol lebende Komponist lässt in kleinen, als Filmset aufgebauten Szenerien das „Kopfkino“ der belgischen Prinzessin ablaufen, die mit dem Habsburger Kaiser Maximilian I. von Mexiko verheiratet war und dem Wahnsinn verfallen 60 Jahre lang fiktive und reale Briefe an ihren Mann schreibt. Auf offener Bühne. Inmitten des ausdrucksstarken Klangforum Wien, präzise und facettenreich von Dirigent Johannes Kalitzke geführt. Man betrachtet diese Figur 70 Minuten lang, bleibt ungerührt, kann sich ihr aber nicht entziehen, denn meisterlich vermag die charismatische Sopranistin Sarah Maria Sun ihre Figur mit „Un-Leben“ zu erfüllen: ver-rückte Zustands-Ebenen überlappen einander, zu zerrissen ist das Innenleben, das innere Zimmer Carlotas. Eine faszinierende und verstörende musikalische Entdeckung.

Draußen vor der Konzertsaaltür das nächste auf den ersten Blick irritierende Klanggebilde: Die Kasperlmaschine von Paul Skrepek. Auf den zweiten Blick nimmt dieses Wunderwerk der Technik, der Fantasie und der Kreativität aus gefundenen Materialien wie Waschmaschinentrommeln, Fahrradteilen, Geigenbögen, winkenden Plas­tikhänden, Barbiepuppen und vielem mehr seine charmante Gestalt an und bringt tragikomische Töne hervor. Klangspuren eben.

Auf zu neuen Ufern

Und wo führen die neuen Klangspuren hin? Aus der Fülle an geistiger und musikalischer Nahrung lässt es sich reichlich schöpfen, aber auch wieder den Weg für anderes ebnen. Der designierte künstlerische Leiter Reinhard Kager stellt das Festival 2019 unter das Motto „RISSE“, als Metapher für den gegenwärtigen sozialen und politischen Erosionsprozess. Klangspuren, so Karger, reflektierten die Ursachen dieser Risse. Nicht laut-schreierisch tönen, sondern dem Nachdenklichen, der Stille und dem Bedachtsamen Platz machen sollen die Klangspuren. Und Einmaliges entstehen lassen. Und damit Neue Musik im besten Sinne des Wortes.
 

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