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Probe mit Maestro Currentzis. Foto: Marina Dmitrieva
Probe mit Maestro Currentzis. Foto: Marina Dmitrieva
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Ein Seelenverwandter Mahlers

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Das Diaghilev Festival im russischen Perm und sein künstlerischer Leiter Teodor Currentzis
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Während des jährlichen Diaghilev Festivals wird die Stadt Perm im Ural zum größten Anziehungspunkt der russischen Kulturszene – und zugleich Rückzugsort ihres größten Idols: Teodor Currentzis. Als künstlerischer Leiter des örtlichen Theaters für Oper und Ballett wirkt er immer noch in Russland; ab September wird Currentzis der neue Chefdirigent des SWR-Orchesters.

Eine langhaarige Jungfrau schaut melancholisch von der Fassade des Tchaikovsky-Theaters hinunter, bewacht von einem Lenin-Denkmal. Die angespannten leuchtenden Schmucksaiten gehen als experimentelle Bestätigung der Stringtheorie über dem Dach des Spielhauses auseinander und schließen sich kurz über zwei Installationen wieder. Sie tragen die Botschaften „überrasche mich“ und „nicht schlafen“. Von drüben, vom Ufer der Kama, schallt es ihnen entgegen: „Das Glück wohnt nicht hinter den Bergen“. Die großstädtische Bourgeoisie und künstlerischen Intellektuellen, die örtlichen Kunstliebhaber und ihre Gleichgesinnten aus allen Ecken Russlands verlassen die Premiere von Honeggers „Jeanne d’Arc au bûcher“. Viele sind exaltiert, manche empört und etwas irritiert. Die nackte Frau wirke mal hässlich, mal himmlisch schön am Halse des toten Gauls, musikalisch hätte aber nur der Chor überzeugt, der immer noch im Kopf nachklinge. Draußen hört man örtliche Theaterfunktionäre schimpfend davonlaufen. Drinnen besetzen die weiblichen Gäste allerdings immer noch den mit Weihrauch angefüllten Dirigentenraum. Und trotz aller Kontroversen sehen doch alle ein: die von Romeo Castellucci und Teodor Currentzis frischgebackene Jeanne ist auf keinen Fall ein anspruchsloses Ereignis.

Das Erbe des Serge Diaghilev

Als Teodor Currentzis und Generaldirektor Marc de Mauny 2011 das Opern- und Balletttheater von Perm übernahmen, rief das Haus eine neue Veranstaltung ins Leben. Sie sollte für die gesamte Region neue kulturelle Akzente setzen und auf Jahre hinaus zur wiedererkennbaren Marke des Thea-ters werden. Die bisher unregelmäßig stattfindenden und eher kargen Diaghilev-Jahreszeiten erlebten eine Wiedergeburt in Form des jährlichen Internationalen Diaghilev Festivals – es bereitete das Feld für eine konsequent kreative Suche in Richtung synthetischer Genres. Zudem bot es den idealen Treffpunkt für Gleichgesinnte des Stardirigenten Currentzis wie dem 2014 verstorbenen Gerard Mortier, Robert Wilson, Markus Hinterhäuser, Patricia Kopatchinskaja oder Alexei Lubimov.

Das aus Perm stammende Genie Sergei Diaghilev machte einst das gelangweilte Europa mit den neuesten Vorbildern zeitgenössischer russischer Kunst vertraut. Sich selbst nannte er einen großen Scharlatan oder Charmeur; laut Debussy vermochte dessen Charme die Steine wiederzubeleben, während die Tänzer ihn gerne mit einem „Adler, der die kleinen Vögel erstickte“, verglichen. Wenig begabt als Musiker, fand er seine Berufung im Mäzenatentum, zeichnete sich durch enormen Fleiß und Leidenschaft aus und vermochte es, Künstler arbeiten und Sponsoren neue Produktionen bezahlen zu lassen. Er schuf eine Atmosphäre, die das Leben zeitgenössischer Kunst sicherte.

Angeblich hat Teodor Currentzis all diese Fähigkeiten und noch mehr: als talentierter Musiker erkämpfte er sich seit Ende der 90er eifrig und konsequent seinen Platz an der Sonne und setzte sich schließlich durch, nicht zuletzt dank seiner medialen Talente. Nur die Unwissenden fragen sich heute, warum zahlreiche Liebhaber von Brot und Spielen zu ihrem liebsten Permer Kind wie zum Honig herbeifliegen, einschließlich aus Moskau und Sankt Petersburg, wo man ihn einst zurückwies. „Womit mag er uns diesmal überraschen?“, fragen sich treue Bewunderer genauso wie die nach etwas Süßem gierenden Abenteurer.

Vom Wenigen das Beste

Obwohl für Überraschungen von Jahr zu Jahr immer weniger Luft bleibt, sorgt gerade heute das Diaghilev Fes­tival von Teodor Currentzis für die notwendige Resonanz rund um das aktuelle Kunstfeld. In seiner Bereitschaft zum Diskutieren und Mitgestalten übertrifft es sogar eines der wenigen Moskauer Festivals für zeitgenössische Kunst, die Territoria. Bei anspruchsvollen, aber kaum erschütternden Eigenproduktionen (Honeggers „Jeanne d’Arc au bûcher“ in Koproduktion mit Lyon, Schönbergs „Pierrot Lunaire“ sowie dem inszenierten Musikstück „Camilla“ von Alexey Retinsky, einem von Currentzis kürzlich entdeckten Komponisten) und einer Vielfalt von Kammermusik-Konzerten zieht das Festival heute mehr als ein Forum für den Erfahrungsaustausch an denn als rein künstlerisches Experiment. Nach einer moralisch etwas veralteten Form von „Needles and Opium“ des Kana-diers Robert Lepage, gefolgt von einer im Nachgeschmack armen One-Woman-Show „Fräulein Tod trifft Herrn Schostakowitsch“ mit Isabel Karajan, entpuppte sich die Tanzperformance Alain Platels zu Mahlers Musik „Nicht schlafen“ unerwartet als überzeugendes Beispiel des freien künstlerischen Denkens.
Die schöpferischen Engpässe kompensieren die Veranstalter geschickt durch ein reiches Programm und eine dynamische Atmosphäre: Die miteinander verknüpften kurzen Aufführungen von Konzerten bis Tanzperformances sowie ein dichtes Begleitprogramm mit Künstlerbegegnungen und Videovorführungen sorgen für die Festivaldauer von elf Tagen für kraftvolle künstlerische Brillanz. Musiker des Ensemble modern, das zum dritten Mal bei dem Festival auftritt, geben zu, sie träfen nirgendwo sonst in Europa so viele Jugendliche bei ihren Konzerten wie in Perm. Kurz nach Platels Performance eilen die zu anderen Spielstätten, zu einem Konzert von Nedim Nalbantoglu, zypriotischen Liedern oder Klaviergalas. Bekannte Gesichter singen Honegger mit dem Chormeister des mu­sicAeterna-Chors, Vitaly Polonsky, oder starren Teodor Currentzis bei einer öffentlichen Meisterklasse für junge Dirigenten an: Zuerst lädt er die Teilnehmer ein, ganz nah neben ihm Platz zu nehmen statt den Prozess aus der Ferne zu beobachten. Dann hält Currentzis eine rührende Rede über die Mission eines modernen Musikers. Still sitzen bleibt er dabei kaum – er geht zum Pult, will erklären, inspirieren, mit Liebe zur Musik anstecken. Seine Kollegen tun es ihm bei zahlreichen anderen Workshops mit demselben Enthusiasmus gleich. Der kreative Austausch findet jetzt und hier statt: Nach „Katie’s Tale“ bringt das polnische Grotowski-Zentrum den Solisten des musicAeterna-Chors und Studenten die Techniken des freien Gesangs und kreative Emanzipation bei – genau so wollte es der Hausherr Currentzis.

Das Festival in Perm trüge wohl kaum den Namen Diaghilevs, wenn es trotz aller lobenswerten Vielfalt an freien Bildungsveranstaltungen nicht auch die Aufmerksamkeit großstädtischer Eliten für das Hauptprogramm und damit auch Kritik bei den einfachen Stadtbewohnern auf sich gezogen hätte. Die verführerische Figur des erfolgreichen Dirigenten und die Vorfreude auf exklusives Vergnügen treiben die Eintrittspreise für Currentzis-Auftritte von Jahr zu Jahr in die Höhe (bis zu 450 Euro für das Schlusskonzert) und schließen einige Programmkonzerte (wie die nächtliche Aufführung der marianischen Antiphonen Alexey Retinskys in einer Kunstgalerie) sogar aus dem freien Verkauf aus. Laut Generaldirektor Marc de Mauny sei diese Tendenz nicht ungewöhnlich, denn auch der Klassikmarkt werde von Marktgesetzen diktiert. Doch – so betont er – trotz der höheren Preise werde auch der Zugang für Festivalbesucher mit schmalerem Geldbeutel weiterhin gewährleistet. Das Budget des Festivals überschreite übrigens nie eine Million Euro, hänge von unregelmäßigen Sponsorenzuschüssen ab und sei stark auf den Ticketverkauf angewiesen.    

Zwischen VIPs und Mahler

Und schon ist der Name Currentzis so stark, dass sich fast alles damit verkaufen lässt. Ohne den angesagten Currentzis-Effekt ginge hier beim Festival in Perm nichts: er beruht auf dessen Kunst, zugleich offen und abgewandt, greifbar und zugleich unberechenbar zu bleiben. Heute mag er Schönberg, Nikodijevic oder Retinsky  spielen, morgen sind das schon wieder Mozart oder Beet­hoven. Er lässt sich auf die Arbeit mit dem Studentenorchester des Moskauer Konservatoriums ein (wie im März 2018 geschehen) und sagt privaten Veranstaltungen mit den VIPs zu, wenn diese für das Bestehen seiner Kunst erforderlich sind. Geschickt zwischen Offenheit und Unzugänglichkeit manövrierend, beichtet er dem Millionenpublikum des ersten Kanals des staatlichen Fernsehens seine Selbstsucht, saugt den Erfolg dankbar auf und sucht eine Erlösung in dem von ihm heiß geliebten Mahler. In den letzten acht Jahren wurde der österreichische Romantiker zum echten Markenzeichen des Festivals; jede Bezugnahme auf seine Sinfonien verwandelt Currentzis in einen Dialog zwischen Komponist und Dirigent auf einer persönlichen, intimen Ebene – er soll sich mit Mahler seelenverwandt fühlen, wenn er dessen Porträts in seinem Arbeitszimmer neben die eigenen setzt und sich ab und zu als dessen Reinkarnation bezeichnet. Diesmal nimmt er sich Mahlers Liederzyklus „Des Knaben Wunderhorn“ und die „Vierte Sinfonie“ vor, lässt die Musiker dabei bereits im ersten Sinfoniesatz unmöglich pathetisch klingen oder, wie er sie in Proben aufmuntert, „hooliganisieren“. Aber die Nebennoten, die schwachen, lässt er auf keinen Fall erdrücken; macht aus dem Adagio ein persönliches Liebesdrama und lässt keinen Platz zum Schlafen zwischen Anna Lucia Richters Einsätzen im vierten Satz, sondern treibt die ohnehin stürmischen Tempi vielmehr hoch. Den sicheren Mahler hat er auch für seine Antrittskonzerte mit dem SWR-Orchester ausgewählt und lässt dazu ein Currentzis-Lab organisieren, in dem er seine Auslegung der Werke erläutern wird. Allerdings sollten die Stuttgarter und Freiburger darauf aufpassen, durch den Permer Charmeur zwischen dessen musikalischen Urteilen und menschlichen Liebeserklärungen nicht so einfach den Kopf zu verlieren.

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