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Eine Partitur umspannt den Erdball

Untertitel
Das längste Zeitzeichen: Bis ins Jahr 2639 erklingt in Halberstadt John Cages Stück ORGAN2/ASLSP
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Gleich am Bahnhof entsteht der Eindruck eines ganz besonderen Verhältnisses der Stadt zur Dimension Zeit. Permanent auf elf stehen die Zeiger der Uhr. Erst beim zweiten Blick ist sie als Bild einer Uhr erkennbar. Das halbe Gebäude bedeckt eine Kulisse; das Bild des Bahnhofs, der dahinter verfällt, saniert oder vielleicht zweckentfremdet wird – nicht der erste Bau in Halberstadt. Ein denkmalgeschütztes aber geschlossenes Hallenbad wird zu Theateraufführungen geöffnet. Im Gebäude der alten Dompropstei befindet sich eine Hochschule. Die Peterskapelle aus dem 14. Jahrhundert beherbergt die Stadtbibliothek.

Und die wohl älteste Kirche der Stadt bekommt für das aufsehenerregende John-Cage-Orgel-Projekt extra ihre Würde zurück. Johann-Peter Hinz, Metallbildhauer und Stadtpräsident nach 1989 und Jacob Ullmann, Komponist aus Berlin, schlugen vor, das Konzert ORGAN2/ASLSP in St. Burchardi aufzuführen. Um 1050 von Burchard von Nahburg gebaut, gehörte die Kirche 600 Jahre zum Zisterzienserkloster, wurde im 30-jährigen Krieg zerstört, 1711 wieder aufgebaut, 1810 „säkularisiert“; 190 Jahre lang war sie Scheune, Schnapsbrennerei, Schweinestall und Garage für Pferdefuhrwerke; am Eingangstor künden davon die Riefen von Naben, der geschürfte Sand ist verflogen. Rinnender Sand, rinnende Zeit – für Halberstadt und die Welt ein unermesslicher, unabsehbarer Stoff.

Er wurde um unsere Jahrtausendwende gefunden, als das Kirchendach gedeckt, Fenster eingesetzt, der Raum so hergerichtet wurde, dass mit dem Bau eines Blasebalg-Systems das Cage-Projekt beginnen konnte. Der amerikanische Komponist John Cage (1912 bis 1992) schrieb das Stück 1985 für Klavier und 1987, auf Anregung des Organisten Gerd Zacher, für Orgel. Zehn Jahre später bei einem Orgelsymposium in Trossingen besprachen Musikwissenschaftler, Orgelbauer, Organisten, Philosophen und Theologen, wie die Tempovorschrift ASLSP („as slow as possible“) umzusetzen sei. Die Idee entstand, das Stück in Halberstadt aufzuführen, weil hier 1361 Nicolaus Faber im Dom die weltweit erste Großorgel baute. Diese so genannte Blockwerksorgel hatte erstmalig eine, noch heute übliche, zwölftönige Klaviatur. Somit hat klassische und neuzeitliche Musik ihren maßgeblichen Ursprung in Halberstadt.

Von 1361 bis 2000 vergingen 639 Jahre. Addiert man sie zu 2000, kommt man auf das Jahr 2639. Bis dahin soll gespielt werden – also durchaus nicht bis in alle Ewigkeit, sondern in einem für die Menschheitsgeschichte relativ überschaubaren Zeitraum. Und doch gab es bisher noch kein so langes Stück.

Die Aufführung in acht jeweils 71 Jahre dauernden Teilen, von denen ein Teil wiederholt wird (639 : 9 = 71), begann am 5. September 2001 zu Cages 89. Geburtstag – mit einer Pause, in der die vorläufige Orgeltastatur, Motoren und Blasebälge installiert und das Gebläse mitternachts – vor großem Publikum – feierlich angeschaltet wurde. Da der Beginn, 5. September 2000, nicht realisierbar war, wurde quasi der ersten Pause eine zweite vorangestellt – zum Luftholen für den Balg.

Am 5. Februar 2003 setzte als zweiter Impuls der erste Ton ein: ein eingestrichenes gis, dann ein eingestrichenes h, überdies ein zweigestrichenes gis – zunächst für anderthalb Jahre hörbar, sodann der dritte – e und e’ – am 5. Juli 2004. Das ergab einen E-Dur-Dreiklang, der momentan zu hören ist und seine Farbe beim Umhergehen im Raum ändert. Die Töne gis’ und h’ folgen am 5. Juli 2005. Einige wechseln nach Jahren, andere bleiben über Jahrzehnte liegen. Jeweils festgelegte Klangwechsel finden immer am fünften Tag der betreffenden Monate statt. Sie werden vom Organisten gespielt und die Tasten mit Gewichten, angehängten Sandsäckchen(!), fixiert. Erst nach siebzig Jahren soll sie erstmalig schweigen.

Helmut Gleim, Kirchenmusikdirektor in Halle erklärt: Nicht nur Stücke für Orgeln, die Luft holen müssen, sondern auch Klavierstücke zum Beispiel beginnen mit einer Pause, in der der Pianist seine Hände auf die Tastatur legt. Cages Klavierstück mit dem Titel 4’ 33“ besteht gewissermaßen nur aus einer Pause: Der Pianist sitzt am Klavier, rührt keinen Finger, nur „zufällige“ Klänge oder Geräusche vom Publikum oder von außerhalb des Konzertraumes sind hörbar.

Die Originalpartitur, nach der Gerd Zacher ASLSP 1987 in Metz in nur 29 Minuten uraufführte, misst vier Meter. Umgerechnet auf 639 Jahre mäße die Partitur 47.135,5 Kilometer – zufällig oder folgerichtig: erdumspannend, sogar mit Spielraum.

Wird so viel Kalkulation dem musikalischen Denken John Cages gerecht? Cage, beeindruckt vom Zen-Buddhismus und Meister Eckhart, komponierte dieses und andere Stücke nach dem Zufallsprinzip: mit Computern, auch loste er Tonhöhen aus, ließ chinesische Orakel sprechen, legte transparentes Notenpapier auf Sternenkarten oder gab gar keine Noten vor; er wollte „ins Unbekannte vordringen“, wie er sagte, sich gar nichts ausdenken, war ein Dekonstrukteur der Klangkunst.

Merkwürdigerweise verbinden sich solche entgegengesetzten Vorgaben im Konzept ORGAN2. Denn fest steht nichts. Höchstens der Ort. Die Stadt überschrieb der John-Cage-Orgel-Stiftung St. Burchardi mit Grundstück und „Herrenhaus“, unter der Bedingung, dass die Stadt keine Kosten trüge. Von vornherein ist die Finanzierung auf die Hoffnung gegründet, dass sie für die kommenden 639 Jahre gelingt. Sponsoren können für 1.000 Euro – getreu dem Pauluswort „Kaufet die Zeit aus“ – ein Klangjahr erwerben. Ihnen zu Ehren werden in der Kirche Tafeln angebracht mit dem Geburtsdatum und einem Text. Das zweite Jahr ist vergeben und das letzte. 2007 von Familie Schädler, die „für eine positive Zukunft für alle Lebewesen“ betet. 2222 von Wibke Bruhns und ihren Töchtern. 2454 von Christiane Fischer mit Sätzen von Robert Schneider: „Zeit strömt, ehe sie Zeit geworden ist. Das Denken ist längst Erdachtes. Die Gegenwart ist endlos und die Vergangenheit weniger als ein Augenblick.“ 40 Jahre sind verkauft, fast 400 noch zu haben!

Extra zur Aufführung wird die Orgel entworfen und soll – sehr langsam, während des Spiels – gebaut werden, zunächst wollte der Marburger Orgelbauer Woehl die Pfeifen nicht im Orgelgehäuse unterbringen, sondern im Kirchenraum verteilen, wie Bäume im Wald. Und weil Cage ein großer Pilzkenner war, sollte das Instrument Pilzform erhalten. Der Kevelaerer Orgelbauer R.F. Seifert & Sohn setzt mit Unterstützung der Halberstädter Orgelbaufirma Hüfken das Werk fort.

Auf der Projekt-Homepage wird die noch verbleibende Zeit für ORGAN2/ASLSP angegeben. Am Sonntag, dem 10. April 2005, 11.43 Uhr waren es noch 20.020.224.174 Sekunden. Dank digitaler Anzeige verrinnt die Zeit besonders sinnfällig. Rasend rechts – nach links immer langsamer, im Milliardenbereich tut sich jahrzehntelang nichts.

Was bedeutet der Welt und Nachwelt ein Konzert, von dem niemand einen ganzen Teil wahrzunehmen vermag, geschweige denn das ganze Werk? Nur Gott könnte es, für den tausend Jahre wie ein Tag sind und wie eine Nachtwache (Psalm 90, 4). Insofern hat das Jahrhundertwerk keine Botschaft oder Aussage – jedenfalls keine musikalische. Es stellt sich als Musikstück selbst in Frage. Das Projekt wächst über sich selbst hinaus und wird dadurch gleichzeitig empfindlich. An welchen bestehenden ähnlich langen zukunftsweisenden Programmen kann es sich orientieren? Vielleicht ist der „Ewige Roggenbau“ in Halle, der „landwirtschaftliche Dauerfeldversuch im Jahrhundertschritt“, ein vergleichbares Vorhaben. Seit über 138 Jahren werden Auswirkungen von Düngung oder Witterung auf Erträge erforscht und damit auch aktuelle Fragen zur Emissionsminderung von Treibhausgasen und zur Nachhaltigkeit beantwortet.

Sollten jemals Endlager für Atommüll ausgewiesen werden, benötigt man eine deutliche vor dem Gift warnende Sprache, die über Epochen und Generationen hinweg gilt – über einen Zeitraum, der ORGAN2 weit hinter sich lässt – Projekte, die zunächst nichts miteinander gemein haben. Doch hier liegt der Sinn eines Ereignisses, das so weit über den Tag hinausweist: Ein verbindlicher Gedanke, Pläne, Handwerkszeug zur akkuraten Umsetzung müssen über Generationen weitergereicht werden.

Die Meinungen zum Halberstädter Cage-Projekt selbst reichen von höchster Bewunderung bis zu Spott und strikter Ablehnung. Sogar Klagen wegen ruhestörenden Lärms kamen aus der Nachbarschaft; woraufhin die Orgel eine Glasverkleidung erhielt. Im Internetforum überwiegen Zustimmung und Begeisterung. Alex sieht in der Aktion „Mut, Tiefe und eine gesunde Portion Humor und Zuversicht“. Peter Lorenz schreibt: „Je mehr unsere Welt rationaler und kapitalistischer wird, um so mehr brauchen wir diese scheinbar wert- und sinnfreien Unternehmungen.“

Für J.-M. Sens bestimmt die „Neue Welt“ die Zeit. „Dieses musikalische Signal kam von John Cage in das ,Alte Europa’. Das alte, verwundete Halberstadt gibt das Signal zurück: dem neuen, starken Amerika.“ Antony grüßt die Leserinnen und Leser im Jahr 2639 aus dem „Zeitalter des PC, des Internet und des westlichen Kommerzes“. Sie entschuldigt sich für die „sinnlose Plünderung des Planeten und für den übermäßigen CO2-Ausstoß ... Falls Ihr das lest, habt Ihr es ja geschafft, irgendwie zu überleben. Eventuell ist diese Kirche nun in einer Glaskuppel eingeschlossen ...“

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