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Einig Vaterland, aber viele kulturelle Identitäten

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Koproduktion von Bayern2Radio und MDR Kultur: „contrapunkt“ befragt Künstler aus Ost und West
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Manfred Wagenbreth: Ich heiße Sie willkommen zu einer weiteren Folge von „contrapunkt“. Dies ist eine Sendung von Bayern2Radio, dem Kulturkanal des Mitteldeutschen Rundfunks MDR Kultur und dem Goetheforum, aus dessen Saal in München wir uns heute melden. Wir wollen gemeinsam über das Thema „Wohlstand contra Widerstand“ diskutieren, ein Thema, das in der Musik immer wieder die Geister bewegt. Wir haben es ebenso schmissig wie möglicherweise leichtsinnig über diese Folge geschrieben, und es erschien uns durchaus interessant, nachzufragen, woran sich engagierte Musiker und Liedermacher zu Zeiten zweier deutscher Staaten rieben und wie die Dinge im geeinten Deutschland stehen.

Manfred Wagenbreth: Ich heiße Sie willkommen zu einer weiteren Folge von „contrapunkt“. Dies ist eine Sendung von Bayern2Radio, dem Kulturkanal des Mitteldeutschen Rundfunks MDR Kultur und dem Goetheforum, aus dessen Saal in München wir uns heute melden. Wir wollen gemeinsam über das Thema „Wohlstand contra Widerstand“ diskutieren, ein Thema, das in der Musik immer wieder die Geister bewegt. Wir haben es ebenso schmissig wie möglicherweise leichtsinnig über diese Folge geschrieben, und es erschien uns durchaus interessant, nachzufragen, woran sich engagierte Musiker und Liedermacher zu Zeiten zweier deutscher Staaten rieben und wie die Dinge im geeinten Deutschland stehen.Theo Geißler: „Wozu, um Himmels willen, heutzutage Widerstand, wo uns das Wasser des Wohlstandes bis zum Halse steht.“ Das ist ein Zitat von Heinz Rudolf Kunze. Tun wir nicht viel besser daran, gemeinsam an einem Strang zu ziehen in Zeiten terroristischer Bedrohung und in Zeiten sinkender Aktienkurse speziell beim Neuen Markt? Außerdem: Widerstand wozu, nachdem angeblich alles, was zusammenwachsen sollte, inzwischen zusammengewachsen ist? Wir haben entsprechende Experten eingeladen und wir hoffen auf Antworten aus Ost und West. Da ist zunächst Steffen Schleiermacher, 1960 in Halle an der Saale geboren. Trotz seines für Komponisten noch jugendlichen Alters hat er sich inzwischen in der Neuen-Musik-Szene etabliert, nicht nur als Komponist, sondern auch als Pianist und als Leiter eines Ensembles für Neue Musik. Steffen Schleiermacher, als Sie 1986 nach Darmstadt fuhren zu den Internationalen Kursen für Neue Musik, war das für Sie damals eine Offenbarung?

Steffen Schleiermacher: Eine Westreise war immer eine Offenbarung, gerade mit 26 Jahren, aber es war nicht so wie ich es mir vorgestellt hatte. Man hatte so seine Illusionen über die mythischen Zeiten in Darmstadt, über ein Miteinander, ein Forschen nach neuen Klängen und Kompositionsmethoden. Dieser Mythos Darmstadt aus den 50er- und 60er-Jahren existierte in den 80er-Jahren schon lange nicht mehr, das war mehr Messe: jeder versuchte, sich irgendwie zu präsentieren – ein „Marktplatz der modernen Eitelkeiten“. Das hat mich ein bisschen enttäuscht, aber ich war auch sehr eitel.

: Mit Preisen und Auszeichnungen reich bedacht ist auch unser nächster Gast, Gerhard Stäbler. Er kam in Ravensburg zur Welt und studierte in Detmold und Essen Komposition und Orgel. Er hat sich beteiligt an den sozialen Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet, er gastierte und lehrte in Skandinavien, im Libanon, in Nord- und Südamerika sowie in Korea.
„Den Müllfahrern von San Francisco“ hieß das Werk, aus dem wir vorher einen Ausschnitt hörten. 1989 entstanden und gewiss doch mehr entstanden als Huldigung an potenzielle Verbündete im Widerstand gegen Sozialabbau und Globalisierung.
Gerhard Stäbler: Dieses Stück ist eine Auseinandersetzung zweier Kulturen. Ich war in den 80er-Jahren zunächst eher aus zwiespältigen Gefühlen heraus oft in den USA und empfinde nun Kalifornien als meine zweite, jetzt meine dritte Heimat. Im Zusammenhang mit Aufenthalten am Computermusikzentrum in Stanford habe ich mich sehr intensiv mit der dortigen Kultur auseinander gesetzt, auch diskutiert, und kam in Berührung mit sehr vielen unscheinbaren politischen Dingen. In der Zeit Mitte der 80er-Jahre wollte Reagan mit den „Star Wars“ beginnen und hat angefangen, Nicaragua mehr oder weniger offen anzugreifen. So etwas ist unter anderem im Stück virulent vorhanden, und gleichzeitig vollzieht sich eine Diskussion zwischen meinem kulturellen Hintergrund und der Musik im amerikanischen Westen, die hauptsächlich von minimal music geprägt war.

: Unser nächster Gast, Stephan Krawczyk, begann seine musikalische Karriere in der Folk-Szene der DDR. Er sang nicht nur das klassische Repertoire der Folkies, sondern er kümmerte sich um Texte, die sich konkret mit den Widersprüchen des real existierenden Sozialismus auseinander setzten, mit den fast schon zwangsläufigen Folgen und Schikanen: 1987 Auftrittsverbot und dann die nicht ganz freiwillige Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland kurz danach. Heute lebt er, nach wie vor Liedermacher, in Berlin. Außerdem begannen Sie eine Karriere als Buchautor?

Stephan Krawczyk: Ich schreibe gerade einen Roman über diese Zeit, weil mein Agent mir sagte, das wäre vielleicht das Thema, das die Menschen am meisten interessieren würde. Ich habe schon einen Roman geschrieben über meine Kindheit. Er heißt „Das irdische Kind“ und spielt in der DDR. Zurzeit schreibe ich ein Buch unter dem Arbeitstitel „Der irdische Mann“, also befinde ich mich ständig in der Zeit vor 1989.

: Heute abend hier bei uns auch Heinz Rudolf Kunze. Einen Ruf in Fankreisen hatte unser letzter Gast nicht nur in der damaligen DDR, aber auch dort schon längst, als er 1987 erstmals dort leibhaftig gastierte. Ich entsinne mich an ein durchweichtes Konzert, bei dem Menschen im Schlamm standen und eine Begeisterung herrschte, wie ich sie selten erlebt habe. Das Publikum hat ihm die Treue gehalten bei seinen intelligenten Pop-Projekten wie bei seinem sturen Beharren darauf, es gäbe eine Schwelle von Moral und Anstand, die nicht unterschritten werden dürfte. 22 Alben hat er seit 1981 veröffentlicht, falls wir richtig gezählt haben; das letzte erschien unlängst im Monat Februar und heißt: „Wasser bis zum Hals steht mir“. Verfolgt man Ihre Lieder, dann gewinnt man den Eindruck, das mit der Gewöhnung an die Dinge hat wohl keine sonderlichen Fortschritte gemacht über die Jahre?

Heinz-Rudolf Kunze: Freut mich, dass Sie das so sagen. Es gibt andere Leute aus der Pop-Abteilung oder aus der geläufigen Presse-Abteilung, die sagen, das sei nicht mehr so und ich hätte mich an Dinge gewöhnt. Ich sehe es ähnlich wie Sie.

: Herr Krawczyk, in der DDR seinerzeit war das Feindbild für einen kritischen Liedermacher wahrscheinlich viel enger und viel schärfer. Fiel es nicht viel leichter, da in den Protest zu gehen?

: Ich hatte damals einen Dichter, der für mich schrieb. Als der aufhörte, war ich gezwungen selbst zu schreiben. In dem Zusammenhang war es für mich sehr leicht, sehr direkte Themen zu finden. Durch den Mauer-Wegfall oder durch meine andere Existenz im anderen Land gab es ja genauso politische Themen, die auch genauso direkt artikuliert werden konnten. Ich hatte damals ein Lied gemacht gegen die Produktion von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, als ich in der real existierenden Demokratie angekommen war. Aber das Lied war die Folge einer Initiative zum Sofortverbot von FCKW, und es war seit 1969 bekannt, dass das schädlich ist. Und diesem vernünftigsten System der Welt war es immer noch nicht gelungen, das zu stoppen. Ich habe selbst Kinder und sammelte dann 300.000 Unterschriften mit vielen Menschen, die sich dahinter gestellt haben, hinter diesen für meine Begriffe vernünftigen Willen. Die Initiative bekam den Bundespostpreis, weil wir in der Geschichte der Bundesrepublik das meiste Porto eingespielt hatten.

: Lassen Sie uns noch einen Moment in der alten DDR bleiben. Noch einmal die Frage: War es nicht leichter, weil ganz einfach die Angriffsflächen präziser waren?

: Nein, das war nicht leichter. Es war eher schwerer, sonst hätten es nämlich alle gemacht. Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass meine Mutter immer gesagt hat: „Du sollst nicht lügen, du sollst den Leuten die Wahrheit sagen.“ Wenn ich dann auf der Bühne stand – mir wurden ja Lieder verboten vom stellvertretenden Kulturminister persönlich –, dann dachte ich: „Was soll der mir Lieder verbieten!“

: Herr Stäbler, haben Sie als bundesdeutscher Linker damals die Dissidentenszene in der DDR wahrgenommen?

: Ich hatte mit Freunden zusammen Ende der 70er-Jahre ein Kulturmagazin „Linkskurve“ gegründet, das sich bewusst in eine Tradition zur Weimarer Republik stellte, und Anfang der 80er-Jahre führten wir auch Diskussionen über gesamtdeutsche Themen. Dann gab es west-östliche Schriftstellertreffen. Beim zweiten war ich dabei als Korrespondent der „Linkskurve“. Der Roman von Christa Wolf, „Kassandra“, kam gerade heraus, und wir hatten eine breite Diskussion über diesen Roman. Sie muss der damaligen DDR missfallen haben. Als ich ein halbes Jahr später wieder nach Ostberlin wollte, weil ich Wieland Herzfelde besuchen wollte, der schon hochbetagt war, aber trotz seiner Prominenz wieder von der Stasi beobachtet wurde (und auch weil er viele Westkontakte hatte), wurde ich nicht mehr hereingelassen.

: Herr Krawczyk, gab es Momente, wo Sie als Dissident in der DDR als kritischer widerständischer Liedermacher gerne mehr Solidarität aus dem Westen gehabt hätten?

: Eigentlich nicht. Die einzige Solidarität, die für mich große Bedeutung hatte, war diese Berücksichtigung durch die Journalisten, die in der DDR akkreditiert waren. Dadurch war ich vielleicht in gewisser Weise bekannt, sodass mir allzu schlimme Dinge nicht passiert sind. Im Nachhinein hat Freya Klier, mit der ich damals zusammen war, die Akten studiert und herausgekriegt, dass wir 80 Spitzel in unserem Umfeld hatten. In der Weise hat man sich schon gewünscht, vielleicht auch mehr Freunde zu haben – aber in der DDR. Die gab es aber dann auch. Nur ein Kontakt hat noch über diesen Wechsel in den Westen hinaus gehalten: Ich wollte mal in Wackersdorf ein Lied singen (die FCKW-Initiative stand da gerade am Anfang) über Ozonloch und Butterberg, und Flugblätter verteilen, um möglichst viele Unterschriften zu bekommen. Ich durfte nicht auf die Bühne. Zehn Jahre später erzählte mir ein Journalist, der jetzt bei der Super-Illu arbeitet, dass das damals von der DKP verhindert worden ist. So lang war der Arm der Stasi und der SED.

: Herr Kunze, in Ihren Liedern kommt das Thema DDR explizit nicht vor, obwohl Sie ja enge familiäre Beziehungen dorthin haben. War das für Sie ein Randthema, etwas, das Sie ausklammern wollten?

: Es stimmt, dass meine familiären Wurzeln zu 100 Prozent in Brandenburg liegen, aber ich bin komplett im Westen aufgewachsen und wollte mir da auch nicht anmaßen, über Dinge zu reden, die man selbst erfahren muss, um sich darüber wirklich äußern zu dürfen. Trotzdem habe ich das Erlebnis haben dürfen, dass die Leute dort viele Dinge, die ich gesagt habe, auf sich bezogen haben und damit sehr intensiv umgegangen sind. Es war ja eine riesige Verblüffung für mich, ab 1987 festzustellen, wie viel von meinem Zeug, das auch nicht in Radio oder Fernsehen gelaufen war, dort bekannt war, und was die Menschen sich gospelartig zu Eigen gemacht hatten. : Herr Schleiermacher, Sie haben sich Mitte der 80er-Jahre um griechische Mythen gekümmert – als Komponist, wohlgemerkt. War Ihnen die politische Realität egal?

Schleiermacher: Ein Stück von mir heißt „Kreon“, das ist eine Hommage an Edgar Varèse; Kreon ist die Gestalt, die immer um sich selber kreist, immer alles befehlen will, aber eigentlich nichts zu sagen hat, aber trotzdem dieses Nichts durchsetzt.

: War das eine politische Metapher?

Schleiermacher: Ich fand es eher ein Problem, das musikalisch darzustellen: immer um etwas zu kreisen, immer auf etwas zu beharren, ohne ständig das Gleiche zu sagen. Manche Leute fragten mich dann, ob ich damit das Politbüro der DDR komponiert hätte. Ich fühlte mich gleich als Dissident; daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.

: Man kommt ja ins Widerstehen, wenn man in seinen Lebenswegen gehindert wird, Dinge zu tun, die man für richtig hält. Ist Ihnen so etwas passiert mit Ihrer Musik?

Schleiermacher: Hier ist DDR nicht gleich DDR. In den 50er- und 60er-Jahren waren es eher Hardcore-Zeiten, da wurde Bartók verboten, Strawinsky durfte nicht gespielt werden, Leute wurden von den Hochschulen entfernt, weil sie Stücke von Schönberg unterrichtet haben. Das habe ich live so nicht erlebt. In den 80er-Jahren war das alles nur noch aus Pappmaché: Man konnte eigentlich spielen, was man wollte, es hat eh keinen interessiert. Wenn man jedoch vorhatte, ein Stück mit Text zu komponieren, musste man den Text in Dreifach-Ausfertigung zur Zensur abgeben.

: Stephan Krawczyk und Steffen Schleiermacher, war Ihnen der Blick vom Osten in den Westen ein Thema – sei es als Vorbild, sei es als abschreckendes Beispiel?

: In meiner Branche hat man das natürlich wahrgenommen, Konstantin Wecker, Heinz Rudolf Kunze und Hannes Wader. In dieser Art und Weise waren die im Westen ja auch vor uns. Die Liedermacherbewegung gab es im Westen schon früher, und wenn man da eine Platte gehört hat, war man schon offenen Ohres. Als Herman van Veen im Palast der Republik spielte, fuhr ich von Gera dorthin, um den mal live zu sehen. Ob mich das nun beeinflusst hat, kann ich nicht sagen, aber es gehörte doch dazu, über die Mauer zu gucken, abgesehen davon, dass eben der Westen mit der Truman-Doktrin doch die ganze Zeit in den Osten gestrahlt hat.

: Ist Ihnen das noch im Bewusstsein, Herr Schleiermacher?

Schleiermacher: Ja, das ist nicht anders als heute. Natürlich interessiert mich, was die Kollegen machen. Es beeinflusst mich, manchmal willentlich, manchmal unwillentlich, aber nicht im Sinne einer Vorbildfunktion. Natürlich musste man aus diesem winzigen Suppenteller DDR nach draußen gucken, sowohl nach dem Westen als auch nach dem Osten; im Osten gab es in Russland nicht so wahnsinnig viel zu sehen, in Polen gab es schon mehr. Das ist heute nicht anders; ich nehme die Dinge noch genauso selektiv wahr.

: Peter Gülke, der Dirigent, hat in der allerersten „contrapunkt“-Sendung die schöne Formel gefunden: „Eine Achtelnote im Osten ist eine Achtelnote, und im Westen ist es auch eine Achtelnote.“ Das hat er am eigenen Leibe erfahren, als er von Weimar nach Wuppertal umzog oder umziehen musste. Musik, wenn sie entsteht, klingt eigentlich erst mal grundsätzlich unpolitisch.

Schleiermacher: Zu der Achtelnote von Peter Gülke fällt mir ein schöner Schwank aus meiner Jugend ein. Wir lernten den Satz des Pythagoras in der Schule, und es war dann in jeder Stunde das so genannte rote Schwänzchen erforderlich, also den aktuellen politischen Bezug des eben Gelernten sofort herzustellen und anzuwenden. Wir hörten einen Vortrag über den Missbrauch des Satzes des Pythagoras im Imperialismus. Eine Achtelnote wird natürlich im Imperialismus missbraucht gegen die Arbeiter, und im Sozialismus ist die gleiche Achtelnote nicht die gleiche, sondern sie wird ja zum Wohle der Arbeiter gebraucht. Also ist Achtelnote nicht gleich Achtelnote, zumindest nicht soziologisch betrachtet. Spaß beiseite: Es ist die Frage, was ist politische Musik? Es ist ja noch lange nicht religiöse Musik, was einen frommen Text vertont. Auch bei politischer Musik wird, sobald kein Text dabei ist, die Sachlage relativ schwierig. Es gibt politische Musik, aber die würde man nie als solche wahrnehmen. Bestimmte Stücke von John Cage sind politisch, weil das der blanke Anarchismus ist. Anarchismus bedeutet ja, dass jeder für alles zuständig ist, und nicht, dass niemand für irgendetwas zuständig ist. Das hat Cage auf die Spitze getrieben: dass er als Komponist auch Hörer, Interpret, alles war und daher gleichwertig war bei der Produktion dieses Musikstückes. Das ist eine Form des politischen Ansatzes; das hört man dem Stück eigentlich nicht an, das ist also eher ein soziales Projekt. So gibt es also bestimmte Verweigerungsstrategien, wie Lachenmann oder Ähnliches, das ist auch ein Politikum, dass die irgendetwas verweigern, einen schönen Klang und so weiter, man würde es aber nicht als politische Musik betrachten in dem Sinne, dass klare Aussagen für oder gegen etwas gemacht werden, und schon gar nicht als Protest gegen irgendetwas. Was bin ich selber, wenn ich immer etwas brauche, woran ich mich reiben kann?

: Zu einer bestimmten Zeit war das schon Protest, und es gab auch direkte Adressaten. Ich denke zum Beispiel an mein Schreistück, das war auch Protest. Da wurde unter anderem ein ganz alter Text verwendet, ein Zitat von Hans Leo Hassler, sogar ein christlicher, der dann überdreht und selbst zum Schrei wurde. Es wurde sofort als politisch klassifiziert, auch innerhalb der Avantgarde. Wenn diese direkte Konfrontation weg ist, sucht man nach anderen Ebenen, und dann fällt zuerst dieser oberflächliche Protest weg, und man fragt, was ist in der musikalischen Struktur als politisch vorhanden. Ich denke schon, dass man bei Cage noch die Anarchie in den musikalischen Strukturen hört. : Sind denn von den DDR-Komponisten tatsächlich nur diejenigen übrig geblieben in unserer schönen neuen Wohlstands-Zeit, die so viel Substanz hatten, dass sie es verdient haben?

Schleiermacher: Grundsätzlich spielen von den vielen Komponisten, die sich die DDR geleistet hat, nur noch fünf oder sechs eine Rolle im Musikleben, und es waren 200 oder 300. Das hat etwas mit Marktmechanismen zu tun, auch mit Musik und Politik, warum wer wann plötzlich nicht aufgeführt wird, warum wer wann keine Stellen, keine Rundfunksendungen mehr kriegt. Das Terrain ist abgeteilt gewesen und ist es noch immer.

: Herr Kunze, ich glaube, Sie haben sich nie direkt als Protest-, Widerstands- oder politischer Sänger bezeichnet; trotzdem sind die Themen für Sie alle wichtig. Haben Sie ein Verständnis für das, was Sie Ihre Politik oder die Politik Ihrer Lyrik nennen?

: Sich Protestsänger zu nennen, bringt einen nicht wesentlich weiter. Es hilft nicht dabei, Menschen zu erreichen, weil die meisten Menschen sich dann angeekelt abwenden. Dass solche Fragen wie Außenwelt, Weltgeschichte, deutsche Geschichte, Ost-West irgendwann in Lieder einfließen, ist gar nicht zu vermeiden, wenn man versucht, alles aufzuschreiben oder zu vertonen, was einem in den Sinn kommt. Es gab schon einen Unterschied bei den Hörgewohnheiten: Das Publikum im Osten war etwas Besonderes, weil es so ungeheuer geschult war, aufmerksam zwischen den Zeilen zu hören. Aber wenn man mehr Leute ansprechen will, geht es einem schon um eine möglichst große Massenbasis. Sie könnte noch größer sein, aber sie ist da. Man will die Leute erst mal dazu bringen, ein paar Knochen zu bewegen, und über diese Anteilnahme vielleicht etwas aufmerksamer zuzuhören.
: Solche Formen etwas dämlicher Zensur sind wir Gott sei Dank los. Herr Schleiermacher hat in einem Halbsatz eine ganz neue Form von Ästhetikkontrolle angesprochen: den Markt. Der Markt schafft Klarheit über das, was gut oder schlecht ist. Habe ich das richtig verstanden?

Schleiermacher: Das habe ich nicht gesagt und möchte es auch weit von mir weisen, weil es nicht den Tatsachen entspricht.

: Aber Sie sprachen gerade davon, dass bestimmte ehemalige DDR-Komponisten vom Markt wegreguliert worden sind.

Schleiermacher: Der Markt ist ja kein Naturphänomen. Am Anfang in der Wende-Euphorie ging das noch ganz gut; da ist sogar Friedrich Goldmann zum Präsidenten der Gesellschaft für Neue Musik gewählt worden. Diese Zeit ist aber schon lange vorbei, und es gibt ganz wenige aus dem Osten, die sich so weit etabliert haben (und da zähle ich nicht dazu), dass sie als ganz normale Komponisten akzeptiert werden, die bei den üblichen Festivals gespielt werden. Und die Rundfunkanstalten im Osten inklusive MDR haben entweder keine Lust oder kein Geld, Aufträge zu vergeben und zu produzieren – vom ORB ganz zu schweigen. Die Förderung von Neuer Musik, was Komposition, was große Orchester angeht, findet weiterhin im Westen statt. Donaueschingen-Chef Armin Köhler, selbst aus Dresden stammend, sagt ja, er wolle keine Seilschaften; solange er in Donaueschingen ist, werde dort nie ein Ost-Komponist gespielt werden. Das gibt mir zu denken, das ist vorauseilende Anpassung.

: Auch Herr Kunze hat quantitativ argumentiert, obwohl er sich ja hier als sehr moralischer Liedermacher ausgewiesen hat. Er braucht, um seine aufwändigen Produktionen herstellen zu können, einfach eine bestimmte Menge an Publikum, an verkauften Platten. Inwieweit beeinflusst das dann die Manufaktur Ihrer Geschichten? : Es sind schon andere Bandagen, ob man mit Ligeti konkurrieren muss oder mit Dieter Bohlen. Inwieweit das den Vertrieb und das Marketing betrifft, entzieht sich weitgehend meiner Kenntnis; das macht ja ein großer amerikanischer Konzern, für den ich seit 21 Jahren als Legionär arbeite. Da gibt es Fachleute, die können das, und da halte ich mich weitgehend raus. Ich liefere denen etwas an und muss allerdings tatsächlich zur Ehre dieser Company sagen, dass die mich 21 Jahre an einer sehr langen Hofnarren-Leine haben laufen lassen und ich dort eben in der Popliteraten-Ecke einige Stürme überwintern durfte. Ich kann mich eigentlich nicht beklagen. Ich bin kein Kronzeuge gegen die Industrie.

: Herr Krawczyk, Ihnen geht es nicht so. Ihnen rollt keine Industrie einen Teppich aus.

: Vor allem keine amerikanische.

Link - Real-Audio-Dokumentation zu contrapunkt

http://www.contrapunktonline.de/

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