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Es geht auch um gegenseitige Verunsicherung

Untertitel
Christian Grüny und Martin Schüttler zum Kongress WIRKLICHKEITEN
Publikationsdatum
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Die Musik hat ein notorisch schwieriges Verhältnis zur Wirklichkeit. Die Musik ist vermutlich die künstlerische Gattung, welche in der Wirklichkeit der meisten Menschen die größte Rolle spielt und am tiefsten verankert ist. Beide dieser Aussagen sind wahr, und zwischen ihnen bewegt sich die Musik. Dabei müssen noch einmal die Möglichkeit der Musik, sich auf die Wirklichkeit zu beziehen, und ihre Einbettung in die Wirklichkeit unterschieden werden, ohne sie wirklich voneinander trennen zu können. Die Neue Musik zeichnet sich dabei durch eine paradoxe institutionelle und kulturelle Rahmung aus: Auf der einen Seite setzt sie eine große kulturelle Tradition fort und versteht sich selbst als Ausdruck des zeitgenössischen Standes der Dinge in Sachen Musik, auf der anderen ist sie kulturell marginalisiert und verankert in einer institutionell und diskursiv vergleichsweise geschlossenen Sphäre. Entsprechend sind die Annäherung an andere Disziplinen, der Umbau des Musikbegriffs und die Öffnung für neue Wirklichkeiten, die in den vergangenen Jahren teilweise stattgefunden haben, theoretisch und kulturpolitisch umstrittene Themen.

MS: Der Kongress WIRKLICHKEITEN wird vier Komponenten beinhalten: erstens ein Symposium als weit gefasster Diskursraum, zweitens natürlich musikalisch-künstlerische Beiträge unterschiedlicher Prägung, drittens das Forschungsprojekt „So klingt Stuttgart – So hört Stuttgart“, das sich konkret dem Stadtraum widmet, viertens daran anschließend künstlerische Eingriffe im Stadtraum, „Transaktionen“ zwischen der Musikhochschule und dem neuen Bankenviertel. Fangen wir einmal mit dem Symposium an. Was genau ist da geplant?

CG: Es sind naheliegenderweise eine ganze Reihe Komponisten und Musiker eingeladen, auch Referenten aus der Musikwissenschaft, der Musiktheorie und der Philosophie. Außerdem werden Teilnehmer aus anderen künstlerischen Disziplinen und der Philosophie einbezogen. Die Situation ist dort eine ziemlich andere, und die gegenseitige Wahrnehmung ist nicht besonders stark ausgeprägt. Daran soll beim Symposium gearbeitet werden. Der Punkt wäre dabei, dass die Diskussion in einer Disziplin eine Herausforderung für die jeweils anderen sein kann.
MS: Was deshalb auch im Zentrum des Kongresses stehen wird, ist das Ermitteln unterschiedlicher Diskursformen, die immer wieder zu grundsätzlichen Missverständnissen führen. Dabei geht es weniger um Lösungen als darum, einen Prozess anzustoßen, der möglichst über den Kongress hinausgeht und in dem erst einmal ein Bewusstsein für die Verschiedenheit und Pluralität der unterschiedlichen Perspektiven entstehen kann.

CG: Das gilt ja schon innerhalb der Musik. Es ist ja nicht so, als ob Komponisten, Musiker, Musikwissenschaftler und Philosophen besonders leicht miteinander ins Gespräch kämen. Und Musiker sind als Diskursteilnehmer fast nie vorgesehen. Im Vergleich der verschiedenen Künste potenziert sich das noch – was steht in welchem Verhältnis zu was anderem, worauf soll ich gucken und hören, worum geht es eigentlich?

MS: Damit da eine Verständigung gelingen kann, werden wir die Komponenten eng miteinander verzahnen – eben keine klassische Gliederung in einen Konferenzteil und Abendkonzerte, sondern viele kleinere Abschnitte, die direkt miteinander kommunizieren können. Die künstlerischen Beiträge kann man dabei als Konkretisierung, als Bezugspunkte, als künstlerische Thesen begreifen. Das Ziel ist eine Annäherung von allen Seiten: praktisch, künstlerisch, theoretisch und bis in den Stadtraum hinein.

CG: Und dabei geht es wesentlich auch um eine gegenseitige Verunsicherung. Natürlich muss es auch Vorträge geben, die mal einen Stand der Dinge festhalten, ansonsten wird aber das offene Gesprächsformat im Mittelpunkt stehen, mit wenigen Teilnehmern, die die Herausforderung nicht als Bedrohung empfinden, sondern als Eröffnung eines Raums, den es normalerweise so nur sehr selten gibt.

MS: Der Aspekt der Verunsicherung ist auch deshalb so interessant, weil vor allem darüber ein Bewusstsein für die Schwierigkeit der Verständigung entstehen kann. Und das wäre schon ein großer Schritt: dafür einen Wahrnehmungsmodus zu finden und so einen Prozess anzustoßen, der weitergehen kann und muss.

Martin Schüttler (Komponist und Professor für Komposition an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart); Christian Grüny (Philosoph, lehrt an der Universität Witten/Herdecke)

 

Der Kongress WIRKLICHKEITEN ist ein Startpunkt für den CAMPUS GEGENWART, der an der Musikhochschule mit vielen Kooperationspartnern in Stuttgart und Umgebung neu entstehen wird.

WIRKLICHKEITEN
Kongress | Musik | Interventionen
19.–21. Mai 2016
Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart | STUDIO NEUE MUSIK
Leitung: Martin Schüttler & Christof M Löser

• Kongress mit:
Kai van Eikels (Theaterwissenschaftler) • Regine Elzenheimer (Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin) • Matteo Fargion (Komponist/Performancekünstler) • Stefan Fricke (Musikwissenschaftler/Journalist) • Tobias Janz (Musikwissenschaftler) • Johannes Kreidler (Komponist) • Christina Kubisch (Klangkünstlerin) • Michael Maierhof (Komponist) • Ari Benjamin Meyers (Komponist) • Peter Osborne (Philosoph) • Juliane Rebentisch (Philosophin) • Michael Rebhahn (Musikpublizist/Kurator) • T­ilman Richter (Kulturwissenschaftler) • Hannes Seidl (Komponist) • Gerald Siegmund (Theaterwissenschaftler) • Jennifer Walshe (Komponistin, Performerin)
• konzipiert in Zusammenarbeit mit Christian Grüny (Philosophie, Universität Witten/Herdecke)

• Musik von:
Peter Ablinger • Michael Beil • Joanna Bailie • Johannes Kreidler • Michael Maierhof • Luigi Nono • Stefan Prins • Hannes Seidl (UA) • Simon Steen-Andersen • Edgard Varèse • Jennifer Walshe • aus den Kompositionsklassen u.a.
• mit:
Nadar Ensemble • Jennifer Walshe • echtzeitEnsemble des Studios Neue Musik der SHMDK Stuttgart • ensemble v.act im Studio Stimmkunst & Neues Musiktheater der SHMDK Stuttgart (Ltg.: Angelika Luz)­ u.a.

• Interventionen & Interpretationen von & mit:
Julia Mihály (Komponistin, Performerin) und Studierenden der SHMDK Stuttgart aus den Bereichen Musik & Darstellende Kunst in Kooperation mit dem Forschungsseminar (Ltg.: Friedrich Platz) • echtzeitEnsemble des Studios Neue Musik der SHMDK Stuttgart & Gästen (Ltg.: Christof M Löser) • Hannes Seidl·­ Institut Jazz & Pop der SHMDK Stuttgart (Ltg.: Rainer Tempel)

Info und Kontakt:
www.mh-stuttgart.de/WIRKLICHKEITEN
kongress.wirklichkeiten [at] mh-stuttgart.de (kongress[dot]wirklichkeiten[at]mh-stuttgart[dot]de)
Lena Krause (Organisation)

Förderer:
Stiftung  Kunst und Kultur der Sparda-Bank Baden-Württemberg; Gesellschaft der Freunde der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart e.V.; Péter Horváth-Stiftung; Konzert des Deutschen Musikrates

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