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Lust auf Neues?! Wege der Vermittlung neuer Musik, hrsg. v. Wolfgang Rüdiger im Auftrag des Deutschen Tonkünstlerverbands NRW e.V. (Musik in Theorie & Praxis, Bd. 1), Wißner-Verlag, Augsburg 2020, 204 S., Abb., Notenbsp., € 24,80, ISBN 978-3-95786-225-9
Lust auf Neues?! Wege der Vermittlung neuer Musik, hrsg. v. Wolfgang Rüdiger im Auftrag des Deutschen Tonkünstlerverbands NRW e.V. (Musik in Theorie & Praxis, Bd. 1), Wißner-Verlag, Augsburg 2020, 204 S., Abb., Notenbsp., € 24,80, ISBN 978-3-95786-225-9
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Exemplarische Einblicke, wertvolle Anregungen

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Ein Tagungsband zum Thema Vermittlung neuer Musik verbindet Praxisberichte und Reflexion
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Initiiert vom Landesverband Nordrhein-Westfalen des Deutschen Tonkünstlerverbands fand am 6. Oktober 2018 ein Kongress zum Thema „Lust auf Neues? Wege der Vermittlung neuer Musik“ an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf statt. Das vorliegende Buch mit dem Kongresstitel dokumentiert die Tagung und bietet – auch wenn sich Recitals und Workshops in Aufsätzen kaum abbilden lassen – exemplarische Einblicke in das Themengebiet aus praktischer und theoretischer Perspektive.

Wolfgang Rüdiger, der Herausgeber des Buches, widmet sich in seinem Beitrag den „Übergängen zwischen Kunst und Leben“. Er präsentiert Beispiele der Vermittlung neuer Musik mittels unterschiedlicher Konzertformate. Einen „Übergang“ zwischen Kunst und Leben bietet das Einbeziehen von Alltagsgegenständen in die Klangproduktionen. In einem Beispiel wird das Quietschen eines Gartentors zum musikalischen Material und damit zur Scharnierstelle zwischen Alltagsgeräusch und musikalischem Klang. Als weitere Beispiele der Vermittlung neuer Musik erläutert Rüdiger das partizipative Konzertprogramm und die Lecture Perfomance. Als Modelle der Vermittlung beschreibt er auch die künstlerisch-kompositorische Verbindung zweier Werke, themenzentrierte Konzertprogramme und das Moderieren von Konzerten. Bei moderierten Konzerten können Gespräche zwischen Komponierenden und Interpretierenden stattfinden oder (literarische) Texte sowie „Lebensäußerungen“ einbezogen werden. Auch den Rollenwechsel von Interpretierenden und Zuhörerschaft schlägt er als Modell vor.

Der Autor Karl-Heinz Zarius beschreibt die „weitgehend ablehnende Distanz“ Jugendlicher zur neuen Musik. „Im Gegensatz zu den curricularen Positionen der anderen Schulfächer wird im musikalischen Sektor der ästhetische Status quo der Schülerinnen und Schüler eher bestätigt als erweitert.“ (S. 48) Seine Kritik am schulischen Musikunterricht begründet er damit, dass nicht die Auseinandersetzung mit der musikalischen Gegenwartskunst im Vordergrund stünde, sondern stattdessen die Schwerpunkte auf dem Umgang mit Pop- und Weltmusik lägen. Dies stehe im Widerspruch zur Entwicklung und Weiterentwicklung von Vermittlungskonzepten neuer Musik seit den 1960er-Jahren. Zarius schlägt vor, mit den Jugendlichen die Vorbehalte gegenüber neuer Musik nicht zu diskutieren, um einem Rechtfertigungszwang für die neue Musik keinen Raum zu geben; vielmehr sollen Zusammenhänge aus dem „Gefühl des subjektiv Sinnvollen“ (S. 50) entstehen. Zu seinen Arbeitsansätzen gehört ein differenziertes und auswertendes Verbalisieren von Gehörtem sowie Übungen zum Erfahren von Zusammenhängen über beispielsweise Ähnlich- und Unähnlichkeit. Er diskutiert Themenfelder (u.a. Natur, Bilder und Stummfilme), die Anregungen zur Arbeit mit Jugendlichen geben sollen. Anhand der Lehrpläne des Verbands deutscher Musikschulen verdeutlicht er, dass Bezüge zur neuen Musik vielseitig eingesetzt werden können und führt passende Musikliteratur für Kinder/Jugendliche an.

Silke Egeler-Wittmann beschreibt ein kompositionspädagogisches Projekt aus der schulmusikalischen Praxis, das im Rahmen einer AG am Leininger Gymnasium Grünstadt stattfand und in eine CD-Produktion unter Mitwirkung von über 30 Jugendlichen mündete. Die Kinder und Jugendlichen wurden bei der Umsetzung von „Movimento“ des Komponisten Dieter Schnebel schöpferisch gefordert, weil das Werk durch seine Flexibilität den Interpreten kompositorische Entscheidungen abverlangt. Da es in dem Werk auch um Bewegung und Statik geht, mussten sich die Jugendlichen überlegen, wie räumliche Bewegungen auf der CD auditiv erlebbar werden können. Die Autorin erläutert anhand von fünf Partituren, die die Jugendlichen erstellt haben, das musikpädagogische Vorgehen.

Ursprünglich sollte Dieter Schnebel Referent auf dem Kongress sein. Leider verstarb er unerwartet wenige Monate zuvor. Der Aufsatz von Daniel Ott passt zwar nicht in das Konzept des Buches, stellt jedoch eine Würdigung des auch kompositionspädagogisch aktiv gewesenen Komponisten Dieter Schnebel dar. Daniel Ott gibt einen gelungenen, knappen Einblick in das Schaffen und Werk Dieter Schnebels.

Astrid Schmeling bringt die Beziehung zum Raum als kompositionspädagogisches Thema ins Spiel. „Komposition ist auf Raum angewiesen, seien es Innenräume, Körperräume, Räume von Instrumenten oder öffentliche Räume im Freien.“ (S. 99) Neben diesen physischen Räumen beschreibt sie auch digitale und imaginierte Räume als Lebensrealität. Sie erläutert sieben verschiedene Konzepte zum schöpferischen Umgang mit Räumlichkeit. Anhand derer wird deutlich, dass Räume unterschiedlich wirken können und auf diese Weise vielfältige kompositorische Anregungen schaffen.

Matthias Schlothfeldt sieht im Komponieren im Instrumental- und Gesangsunterricht ein „besonders hohes Potenzial“ (S. 115) auch zur Aneignung von Grundlagen in musiktheoretischen Lernfeldern und um dadurch „musikalisch gebildete […] mitgestaltende Schüler/innen“ (S. 135) auszuprägen. Dabei interagieren Improvisation und Komposition. Zur Beschreibung des kompositorischen Prozesses verwendet er die drei Begriffe Planung, Reflexion und Fixierung. Er plädiert dafür, dass Improvisieren und Komponieren regelmäßig im Instrumental- beziehungsweise Gesangsunterricht stattfinden. Der kompositionspädagogische Prozess wird von kompositorischen Fragen geleitet: „Womit wird die Komposition gestaltet? Worüber beziehungsweise vor welchem Hintergrund wird komponiert? Gibt es einen außermusikalischen Auslöser? Was soll mit der Komposition zum Ausdruck gebracht werden?“ (S. 124) An einer beispielhaften Unterrichtseinheit werden die dargelegten Ansätze verdeutlicht.

Während sich Matthias Schlothfeldt mit dem Komponieren im Instrumental- und Gesangsunterricht beschäftigt, konzentrieren sich Wolfgang Lessing und Matthias Handschick auf schulisches Komponieren. Sie formulieren die Hypothese, dass es in der schulmusikalischen Praxis eher um die Teilhabe an einer künstlerischen Praxis als um die Förderung musikalischer Kompetenzen gehe. Der Aufsatz gibt einen aufschlussreichen, kritisch-konstruktiven Einblick in kompositionspädagogische Projektverläufe aus der Vogelperspektive. An Fallbeispielen werden die unterschiedlichen Sichtweisen (Projektleiter*in, Schüler*innen, Beobachter*innen) diskutiert. Bestimmte Grundannahmen der Akteure führen zu Konsequenzen im kompositionspädagogischen Prozess, die musikpädagogisch analysiert werden. Der Beitrag gibt somit wertvolle Hilfestellungen, um eigene kompositionspädagogische Projekte selbstreflexiv hinterfragen zu können.

Susanne Ristow beschreibt anhand von Werken der Fluxus-Bewegung, wie Kunst und Alltag ineinander verwoben werden und diskutiert einzelne historische Werke beispielhaft für eine partizipative Vermittlung. Der Leser erhält einen Einblick in Fluxus-Aufführungen (Kompositionen) und wichtige Vertreter dieser Strömung.

Am Ende des Buches stellt der Herausgeber eine kleine, aber sehr gewinnbringende Auswahl an Literatur zusammen: zur Neuen Musik, der Vermittlung Neuer Musik und der Musikvermittlung im Allgemeinen. Hier bietet sich für Interessierte ein Fundus an Weiterbildungsmöglichkeiten.

Abschließend lässt sich feststellen, dass das Buch ein gelungenes Potpourri aus Praxisberichten und musikpädagogischer Reflexion darstellt. Die Lesenden erhalten einen exemplarischen Einblick in Vermittlungskonzepte neuer Musik, in deren Zentrum wiederum die Kompositionspädagogik steht. Die Wahl der Referierenden beziehungsweise der Autorenschaft ist sehr selektiv, aber gleichzeitig auch repräsentativ. Die beiden Themengebiete Vermittlung neue Musik und Kompositionspädagogik weisen große Schnittmengen auf, sind aber nicht deckungsgleich. Sie bieten einen immensen Kosmos an Vielseitigkeit, der in einem Buch beziehungsweise im Rahmen eines eintägigen Kongresses nicht abgebildet werden kann. Es lohnt sich allerdings unbedingt, das Buch zu lesen, da es wertvolle Anregungen für mögliche Konzepte und das eigene Arbeiten sowie Literaturverweise am Ende enthält und zum Weiterdenken anregt.

  • Lust auf Neues?! Wege der Vermittlung neuer Musik, hrsg. v. Wolfgang Rüdiger im Auftrag des Deutschen Tonkünstlerverbands NRW e.V. (Musik in Theorie & Praxis, Bd. 1), Wißner-Verlag, Augsburg 2020, 204 S., Abb., Notenbsp., € 24,80, ISBN 978-3-95786-225-9

 

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