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Lutz Kerschowski (li.) mit Rio Reiser auf der Bühne. Foto: Thomas Otto
Lutz Kerschowski (li.) mit Rio Reiser auf der Bühne. Foto: Thomas Otto
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Fahrtenschreiber eines musikalischen Lebens

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Blackbox Rio Reiser – Lutz Kerschowski im Gespräch über eine außergewöhnliche Veröffentlichung
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Vor zwanzig Jahren starb Rio Reiser im Alter von nur 46 Jahren ­– ein Musiker, Texter und Sänger, dessen künstlerische Hinterlassenschaft zwar einflussreich, aber bisher überschaubar erschien. Denn meist wird er auf wenige Schlagworte reduziert wie „Keine Macht für Niemand“ oder „König von Deutschland“. Nun erscheinen mit der „Blackbox Rio Reiser“ auf 16 CDs über 350 nahezu komplett unveröffentlichte Songs, die zweifellos dazu beitragen werden, seine Geschichte neu und endlich gründlicher zu schreiben.

Die „Blackbox“, im LP-Format, ist fabelhaft ausgestattet mit einem umfangreichen Text- und Bildband, in dem unter anderem die Geschichte des „Hoffmanns Comic Teater“ dokumentiert wird, für das Rio Reiser bereits zehn Theaterstücke vertont hatte, bevor er 1970 die legendäre Band „Ton Steine Scherben“ gründete. Aber auch die Songs der „ers­ten Beatoper der Welt“, „Robinson 2000“ (Theater des Westens, 1967), und der berüchtigten „Schwulen After Punk Show“ „Transplantis“ (Berlin, 1979) tragen seine musikalische Handschrift, ebenso wie die Stadtoper „Das Wasser des Lebens“ (Unna, 1989) und die Musicals „Knock out Deutschland“ (Chemnitz, 1994) und „Die Braut der Brüder“ (Essen, 1995). Produziert wurde die „Blackbox“ von Lutz Kerschowski, der über viele Jahre hinweg Mitmusiker und Freund Rio Reisers war und seit dessen Tod großen Anteil am Aufbau des Rio-Reiser-Archivs hat. Thomas Otto sprach für die nmz mit ihm über ein ungeheuer aufwändiges und zugleich aufregendes Projekt, das sich über viele Jahre hinzog.

Thomas Otto: „Blackbox Rio Reiser“ heißt das Projekt – im Sinne von „Voice Recorder“, wie im Flugzeug, oder im Sinne von „Überraschungskiste“?

Lutz Kerschowski: Beides. Zuerst mal ist es eine Art Fahrtenschreiber seines Lebens, dessen Daten den gewaltigen Teil von Rios Werk enthalten, der bisher im Dunkeln lag. Und oft ist es ja auch so, dass man eine Blackbox mühselig bergen muss, das war hier nicht anders. Wahrscheinlich wird es aber auch einen Überraschungseffekt geben, weil viele nicht wissen, was Rio außer seinen bekannten Sachen noch alles gemacht hat.

Otto: Bleiben wir mal dabei – jeder denkt, er kenne den „König von Deutschland“. Vor dem Hintergrund der „Blackbox“ jedoch  – wie gut kennt man Rio tatsächlich? Oder anders gefragt: Was alles kennt man nicht von ihm? 

Kerschowski: Die frühen Songs von Ton Steine Scherben sind landläufig bekannt und fehlen in keiner TV-Doku über diese Zeit. Aber dass zum Beispiel „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ aus einem Theaterstück stammt, wissen die wenigsten. Ein anderes Beispiel: Nachdem die Scherben 1975 aus Berlin geflüchtet waren, weil sie nicht mehr nur Sprachrohr einer Bewegung sein wollten, gab es offiziell eine 5-jährige Band-Pause. Zwischen den beiden Doppelalben „Wenn die Nacht am tiefsten...“ (1975) und „IV“ (1981) haben Rio und seine Mitmusiker aber in verschiedenen Besetzungen weitere einhundert Songs komponiert und produziert, viele davon in Kooperationen mit freien Theatergruppen und Filmleuten. Das ergibt jedes Jahr ein weiteres Doppelalbum voller außerordentlich interessanter und origineller Lieder und Instrumentalmusiken. Nur sind die über einen kleinen Kreis hinaus nicht bekannt geworden. Ein Konzept der Blackbox ist es, diese enorme musikalische Bandbreite zu dokumentieren. So finden sich auf der ersten CD Rios früheste Songs, mit 14, 15 Jahren noch in englisch getextet, und seine frühen deutschen Lieder von 1967–69. Dann folgen viele Projekte des „Hoffmanns Comic Teater“, Songs für die Theatergruppen „Brühwarm“ aus Hamburg, „Rote Rübe“ aus München und „Transplantis“ aus Berlin. Dann die Musicals aus den 90er-Jahren und am Ende bisher unveröffentlichte Demos von ihm aus den 80er- und 90er-Jahren. Man sieht: Er hat pausenlos produziert und dabei versucht, aus jedem Genre das bestmögliche herauszukitzeln. Ein Konzept war die Band, ein anderes die Songs seiner Solozeit und die haben ihn wiederum nicht mehr oder weniger interessiert, als die Theatermusik.

Musik fürs Schauspiel

Otto: Wer sich jetzt näher mit der Blackbox beschäftigt, wird feststellen, dass Rio ja auch Texte anderer Autoren vertont hat ...     

Kerschowski: ...ein ganz interessanter und wichtiger Aspekt: Beim überwiegenden Teil der Songs in der Blackbox sind die Texte nicht von ihm! Bei den Theaterprojekten stammen sie fast immer von den jeweiligen Schauspielern selbst. Und die haben sie dann auch live gesungen. Hier war er also „nur“ Komponist und Musiker. Erstmals sind jetzt aber die Demos zu hören, auf denen Rio singt, um den Schauspielern oder Regisseuren einen Eindruck von den Songs zu vermitteln. Am erstaunlichsten daran finde ich, wie wandelbar seine Stimme ist, wie gut er sich in jede Rolle hineinversetzen konnte. Und auch, wie er für jeden Text einen ganz eigenen und adäquaten musikalischen Ausdruck findet. Gerade bei den Theaterkompositionen fällt auf, dass Rio viel mehr Musiker war, als es in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.

Otto: Bei dieser Unmenge an Material steht man ja quasi vor dem Mount Everest – wo und wie fängt man da an?

Kerschowski: Ich habe von Anfang an alle verfügbaren Informationen in einer Werkliste gesammelt. Die Quellen dafür waren ganz unterschiedlich – einiges wusste ich aus Gesprächen mit Rio, anderes kam aus Dokumenten des Archivs dazu: Notizen, Texthefte, Arbeitsverträge, Briefe. Auch Informationen darüber, wer an welchem Projekt beteiligt war, mit denen habe ich dann gesprochen. Auf diese Weise bekam der Berg nach und nach eine Form.

Otto: Wie war der Ansatz für den Umgang mit diesem Material? Einfach digitalisieren oder als restauriertes Tondokument veröffentlichen?

Kerschowski: Kennst Du die Geschichte von den beiden Bildern „Der Mönch am Meer“ und „Abtei im Eichwald“ von Caspar David Friedrich? Nicht nur die Bilder haben ihre Geschichte, sondern auch ihre Beschreibung – die Romantik, das deutsche Gemüt, das Düstere daran. Diese Bilder wurden jetzt restauriert. Dabei hat man etliche Schichten Firnis von früheren Restaurationen entfernt und die ursprünglichen Farben wiederhergestellt. Und jetzt, wo man sie wieder sehen kann,  geht auch meterweise Kulturgeschichtsschreibung den Bach runter, denn plötzlich sind die Bilder heller und freundlicher – da ist nichts mehr mit düsterer, dunkler deutscher Stimmung. Für mich ein gutes Beispiel dafür, wie stark der Zustands eines Kunstwerkes auch dessen Rezeption beeinflusst. Mein Ansatz war deshalb, möglichst sorgfältig und respektvoll zu arbeiten. Wir haben uns sehr viel Mühe mit dem Sound gegeben, konnten natürlich aber nicht weiter gehen, als es das Material hergab.

Otto: Und in welcher Form lag die „Erbmasse“, das „musikalische Vermächtnis“ insgesamt vor? Seid ihr in einen Keller gegangen und habt den Panzerschrank geöffnet?

Kerschowski: Die meisten Tonbänder stammen aus Rios Privatarchiv, aus dem Bandarchiv von Ton Steine Scherben, aber auch aus privaten Archiven. Die Bänder waren aber nicht wirklich gut sortiert und gelagert, manche waren sogar in einem extrem schlechten Zustand. Um es mal zu verdeutlichen: Es gibt beim Tonband ja die Trägerschicht und die magnetisierbare Schicht. Bei schlechter Lagerung können sich beide voneinander lösen. Wenn du solche Bänder in die Bandmaschine einlegst, ist der Tonkopf braun und die Bänder kann man vergessen. Also mussten wir sie entsprechend vorbereiten.

Dafür haben wir über mehrere Jahre mit dem Mastering-Engineer Ekki Strauss zusammengearbeitet. Viele Bänder mussten zunächst komplett abgerollt und „gewaschen“ werden. Dann wurden sie getrocknet und wieder auf die Spule gewickelt. Danach wurde, wegen der Ablösung der Bandschichten, ein ganz spezielles Verfahren angewendet, das wir bis dahin noch nicht kannten: das „Backen“ der Bänder. Dazu legt man sie in einen speziellen Ofen und erwärmt sie bei einer ganz bestimmten Temperatur für einen festgelegten Zeitraum. Dadurch kleben die beiden Schichten wieder zusammen und erst danach konnten wir mit dem Abspielen und Digitalisieren beginnen. Diese Vorsichtsmaßnahmen mussten sein, weil ja auf jedem Band etwas sein konnte, das andernfalls unwiederbringlich verloren gegangen wäre.

Die nächste Hürde war dann, passende und funktionstüchtige Bandmaschinen aufzutreiben und einmessen zu lassen. Das Audioarchiv besteht aus ungefähr tausend Tonträgern unterschiedlichster Formate: 2-, 4- und 8-Spurbänder (analog und ADAT), 12-Spur Akai-Kassetten, analoge 24-Spur- und digitale 32-Spur-Bänder. Dazu DAT-Kassetten, MiniDiscs und MCs – davon alleine ungefähr 500 Stück, die alle digitalisiert werden mussten. Insgesamt fielen also große Datenmengen an und man darf nicht vergessen, dass Ende der 90er-Jahre eine 20 GB SCSI-Festplatte noch teurer Luxus war. Wir brauchten also zusätzlich zur Archiv-Logistik auch noch ein Backup-System. Erst nach diesen ganzen Vorarbeiten konnte man dann endlich die Musik hören. Die nächste Phase war das Zuordnen tausender Audiofiles zu den Projekten, inklusive Recherche, Sammeln von Informationen, Befragung von Beteiligten et cetera, was sich auch noch einmal über mehrere Jahre hinzog. Im Zuge der Arbeit an der Blackbox haben wir dann übrigens auch wieder mit Ekki Strauss zusammengearbeitet, um das komplette Material tontechnisch zu restaurieren, also vor allem so gut es geht von Störgeräuschen wie Rauschen, Knacken, Brummen zu befreien.

Ziel war der Director’s Cut

Otto: Du hast viele Jahre mit Rio gespielt, ihr wart befreundet. Du weißt also ziemlich genau, wie er „getickt“ hat. War das von Vorteil für diese Aufgabe, oder hättest du dir mehr Abstand gewünscht?

Kerschowski: Durch die Nähe zu Rio kannte ich viele der Songs, die jetzt erstmalig veröffentlicht werden, schon lange und mit ihnen im Hinterkopf habe ich es immer als unglaublich empfunden, dass er in der Öffentlichkeit nur als „Polit-Sänger“ oder „Popstar“ wahrgenommen wurde. Allerdings wird wohl in den letzten Jahren bei vielen das Gefühl stärker, dass ihm das ganz und gar nicht gerecht wird. Und durch die Veröffentlichung der Blackbox wird dieses Gefühl jetzt mit Musik und mit Songs untermauert. Außerdem habe ich die Nähe zu Rio oft auch ganz praktisch als Vorteil empfunden: Zu wissen, wie er gearbeitet hat, dass er meist die originelle Lösung der Mainstreamlösung vorgezogen hat und solche Dinge, half schon bei Entscheidungen.

Denn wir wollten immer möglichst dicht an seinen Intentionen bleiben. Sozusagen die komplette ursprüngliche Fassung des Films wieder herstellen, den „Director’s Cut“.  

Record Release ist am 4. November im Admiralspalast, Berlin. Mit dabei: Ton Steine Scherben, Max Herre, Marianne Rosenberg, Alexander Hacke, Wenzel, Corinna Harfouch, Alexander Scheer, Tobias Hoffmann Trio, Kerschowski, Kafvka und andere. Moderation: Corny Littmann

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