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Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik.
Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik.
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Fragen richtig stellen, Schlüsse richtig ziehen

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Gunnar Hindrichs legt eine Musikphilosophie vor, die zum Klassiker avancieren könnte
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Dieses Buch ist eine Sensation. Da warten wir seit Adorno, der uns kaum loszulassen scheint, auf eine Schritt für Schritt durchartikulierte Musikphilosophie, und ein mit 42 Jahren noch junger Philosoph kommt und bietet nichts Geringeres als eine Ontologie des autonomen musikalischen Kunstwerks: Gunnar Hindrichs mit dem bei Suhrkamp erschienenen Buch „Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik“. Hindrichs leistet zweierlei: zum einen eine veritable Philosophie mit den begrifflichen und denkstrategischen Möglichkeiten der großen Tradition seit Platon und Aristoteles, wobei er, sofern es sich anbietet, Ausflüge in die Texttheorie, die jüdische Mystik und die Theologie nicht scheut. Zum anderen – das ist nicht hoch genug einzuschätzen – betreibt er Musikphilosophie aus der Musik heraus. Er rezipierte und arbeitete die entsprechende Musiktheorie ein, so zur mittelalterlichen Rhythmik und zur Tonalität.


Kategoriale Musikphilosophie kennen wir aus dem angelsächsischen Raum. Dort, etwa von Roger Scruton, verweigert man sich freilich der (geschichtlichen und musikalischen) Realität und erklärt alle Musik seit der Atonalität kurzerhand zum Irrtum. Das mag selbst dort nicht funktionieren, hier in Europa würde es lächerlich. Hindrichs hingegen hat nicht nur von Adorno gelernt, was es zu lernen gibt, ohne ihn ständig zitieren zu müssen, sondern auch die gesamte radikale Musik des 20. Jahrhunderts mit ihren verstörenden Herausforderungen durchgearbeitet – bis zu den allerneuesten Entwicklungen des 21. Jahrhunderts. Insofern ist das Buch einmalig. Ich kenne nichts, das ihm das Wasser reichen könnte.

Musikphilosophie heißt bei Hindrichs, der bereits ein imposantes Buch zum anspruchsvollen Komplex „Das Absolute und das Subjekt“ vorgelegt hat, nicht Hermeneutik oder das Anbieten eines weltanschaulichen Modells, mit dem man die eine oder andere Vorliebe stark machen könnte. Er hebt sich insofern erfreulich von mancher neuerdings angebotener do-it-yourself-Musikphilosophie ab. Sie ist ganz klassisch die argumentative Herleitung eines Gerüstes aus Grundbegriffen und Kategorien, das uns in die Lage versetzt, die zentralen Bestandteile der Musik zu denken und diese in Beziehung zueinander zu setzen: Material, Klang, Zeit, Raum, Form, Werk, Gedanke, Schrift, Aufführung, Interpretation. Seine Fähigkeit zur Systematisierung ist dabei kolossal.

Musik, ganz basal, ist für Hindrichs ein Gemachtes. Als Gemachtes ist sie ein Ergebnis von Arbeit. Arbeit arbeitet an Material. Material wird zum Geformten. Damit unterliegt es einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozess, auf den allerdings die eigenlogischen, mithin autonomen Aspekte der Musik nicht zur Gänze reduziert werden können. Im Gegenteil hat sich in den letzten tausend Jahren gerade in diesem durchaus dialektischen Prozess Musik im emphatischen Sinne erst herausgebildet, die eben nicht (und vor allem nicht oder nicht nur) Naturklang, Seelenausdruck, Gotteshymne, schöner Schein oder Ambiente ist, sondern eine Seinssphäre eigenen Rechts, die mitunter derart fachspezifisch ist, dass reihenweise die bisherigen Ontologien an den Erweiterungen des musikalischen Kunstwerks in der Moderne scheiterten. Die letzte „geniale“ Musikphilosophie war die von Hegel, und sie hätte mit Impressionismus, Momentform, Konzeptkunst und dergleichen ihre liebe Not gehabt.

Das geformte Material ist nicht einfach der Klang, es ist der musikalische Klang, der mit Klängen an sich nicht identisch ist. Und genau hier liegt eine definitorische Schwierigkeit, bei der nur von der Philosophie Abhilfe zu erwarten ist, wollen und müssen wir beispielsweise Alltagsklänge im Alltag und Alltagsklänge im musikalischen Kunstwerk, so in der musique concrète, unterscheiden. Eine nächste Schwierigkeit ist die Identifizierbarkeit von Klängen, zumal wenn sie von Aufführung zu Aufführung, mitunter von Instrument zu Instrument differieren. Philosophie heißt für Hindrichs, die Probleme auf den Punkt zu bringen, die Fragen richtig zu stellen, dann aber daraus für den Fortgang der Explikation die richtigen Schlüsse zu ziehen (vor allem, wenn es gilt, voreilige und halbgare Lösungen abzuwehren – darin ist sein Buch auch eine Kritik an zahlreichen bisherigen Versuchen). So besteht seine Schrift aus 252 Paragraphen, je einer für einen Gedanken, Argumentationsschritt oder eine Exemplifizierung. Den weiteren Verlauf seiner Gedankenführung – etwa zum musikalischen Sinn – überlasse ich dem Leser.

Am Ende wird eine hochspekulative Fassung des musikalischen Gedankens stehen. Sie bietet, was nur Philosophie bieten kann: Man versteht es nicht ganz und ist doch fasziniert; man spürt die Plausibilität und vermag sie nicht zu reproduzieren; man blickt in den Abgrund und sieht doch die Weite des Alls. Insofern ist Hindrichs auch über die Musik hinaus ein emphatischer Philosoph, ein selten mutiger Vertreter seines Fachs in dieser intellektuell so emsigen, aber keinesfalls kreativen Zeit.

Hindrichs kennt seine Grenzen. Außereuropäische oder nicht-autonome Musik wird nicht behandelt. Insofern ist sein Buch keines über Musik überhaupt, sondern über das autonome Kunstwerk europäischen (westlichen) Zuschnitts, für dessen Besonderheiten uns so häufig die Sprache und Denkkategorien zu fehlen scheinen. Wer ihm Begrenzung vorwirft, möge auf gleichem Niveau einen Gegenentwurf anbieten. Allein, dieses Buch ist ein Anfang, besser die Grundlegung für die Klärung extrem schwieriger, aber notwendiger Fragen: die nach der musikalischen Bedeutung und inwiefern Musik einen virtuell offenen Supertext von inferentiellen Verweisungen (ähnlich der Wortsprache) bildet. Hierüber eröffneten sich nämlich Fragen nach dem Hören und dem Subjekt, das hört. Hindrichs streift sie zwar, belässt sie aber an der Seite. Freilich sind diese beiden Desiderate so komplex, dass man nicht päpstlicher als der Papst reagieren sollte. Nun sind andere gefragt – oder auch Hindrichs selbst.

Ich wüsste niemanden, der dieses Buch nicht lesen sollte, aber vor allem sollte sich die Musikwissenschaft mit ihrem notorischen Philosophiedefizit in einer Zeit, da die Max-Planck-Gesellschaft den erstaunlichen Schritt eines Ästhetikinstituts mit Schwerpunkt Musik unternimmt, seiner gründlich annehmen. Die Lektüre ist nicht einfach; es ist kein Buch zum Konsumieren, sondern zum Studieren, zum Durcharbeiten. Aber das ist bei Klassikern nun einmal nicht anders zu erwarten.

Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik. Suhrkamp, Berlin 2013, 272 S., € 17,00, ISBN 978-3-518-29687-5

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