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Frankfurter und Weltbürger: Albert Mangelsdorff. Foto: Ssirus W. Pakzad
Frankfurter und Weltbürger: Albert Mangelsdorff. Foto: Ssirus W. Pakzad
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Frankfurt Sound und Weltmusik

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Zum Tod des Posaunisten und Komponisten Albert Mangelsdorff · Von Andreas Kolb
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Wie der französische Komponist Olivier Messiaen war auch Albert Mangelsdorff leidenschaftlicher Ornithologe. Die Parallelität zwischen ihm und Messiaen sei zufällig, betonte Albert Mangelsdorff, doch wie für diesen waren auch für Albert Mangelsdorff die vielfältigen Rufe und Klänge der Vögel Fundgrube und Inspiration. Sobald es die ersten tragbaren Tonbandgeräte gab, lag Albert Mangelsdorff auf der Lauer in der Natur oder vor den Volieren der Zoos. „Vieles hat mich inspiriert. Aus dem Unterbewusstsein sind Dinge erschienen, die von dort kamen.” Seine Riesensammlung an Vogelrufen konnte er nicht mehr auswerten, doch allein das Hören, Aufnehmen, Nachsingen und -spielen war eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für ihn. Vielleicht ist darin das Geheimnis der einzigartigen Klangrede des am 25. Juli nach schwerer Krankheit verstorbenen Posaunisten zu suchen.

Wie Messiaens Werk nimmt auch Mangelsdorffs Musik eine singuläre Stellung ein. Sein Spiel, seine Kompositionen tragen eine Handschrift, die sich augenblicklich – nach den ersten zwei, drei Takten – ihrem Urheber zuordnen lässt. Mangelsdorff gehörte gewiss nicht zu denen, die sich ihr Leben lang mit Standards beschäftigen. Dennoch zählte er – ähnlich wie Dave Holland oder Steve Lacy – noch zu der Generation von Musikern, die tief in den Jazztraditionen verwurzelt waren. Schon in den vierziger und dann in den frühen fünfziger Jahren arbeitete sich Mangelsdorff durch das Dixie-, Swing- und Bebop-Repertoire des Jazz. Nur auf dieser Grundlage ist das Schaffen des späteren Avantgarde-Musikers zu verstehen. Weder verzichtete Mangelsdorff auf den jazztypischen Swing, noch auf eine harmonische Grundierung. Selbst sein freies Spiel scheint immer einen Bezugspunkt in der Tradition zu haben. Als Improvisator war er ein Meister der ad-hoc-Komposition: Derart dramaturgisch ausgefeilte Improvisationen wie bei Mangelsdorff hört man selten.

Albert Mangelsdorff war der Botschafter des deutschen Jazz in der Welt: In den USA, dem Geburtsland des Jazz, war er jahrzehntelang der einzige europäische Jazzmusiker, der dort überhaupt wahrgenommen wurde. Der amerikanische Pianist John Lewis titulierte ihn bereits 1964 als den „wichtigsten Innovator des Posaunenspiels“. Und der Prophet galt auch im eigenen Landes etwas: Albert Mangelsdorff war Namensgeber des wichtigsten Deutschen Jazzpreises, des „Albert-Mangelsdorff Jazzpreises“ (seit 1994). Er war 1958 Gründungsmitglied des Jazzensembles des Hessischen Rundfunks und schrieb mit diesem Ensemble Jazzgeschichte.

Obwohl der Weltmusiker Mangelsdorff immer wieder betonte, dass es „so etwas wie den deutschen Jazz nicht gibt“, den „Frankfurt Sound“, zu dessen Klangfarben er Maßgebliches beisteuert, gab es fraglos. Bis zuletzt gehörte er zum Stadtbild, wenn er täglich mit seinem Instrument in den Frankfurter Jazzkeller ging. Tägliches Üben war auch für den Ausnahmeposaunisten die Grundlage seines Könnens und seiner Virtuosität.

In Frankfurt hatte alles begonnen – nicht erst in den Clubs der amerikanischen Befreier und Besatzer, schon längst vorher – mitten in den letzten Kriegsjahren – hatte sich Albert Mangelsdorff für den Jazz als seine ureigenste künstlerische Ausdrucksform entschieden. Vor der eigenen Karriere standen die „Vorbilder“. Dazu zählten in den frühen Jahren nicht etwa bekannte Posaunisten, sondern der Bruder Emil Mangelsdorff und dessen Clique. Die Frankfurter Jazzszene, darunter Carlo Bohländer, Horst Lippmann, Paul Martin oder Hans Otto Jung, gehörten zu den frühen Einflüssen, die Albert Mangelsdorffs spätere Karriere formten.

Etwa ab 1941 nahm Emil Mangelsdorff seinen drei Jahre jüngeren Bruder in die Rokoko-Diele an der Kaiserstraße mit, dem Domizil der Frankfurter Hot Jazz Szene. Damit er älter aussah, steckte er den 13-Jährigen in einen Anzug. Emil und Albert Mangelsdorff lebten in diesen Jahren, geprägt auch durch das sozialdemokratische Elternhaus, in bewusster Opposition zum NS-Staat. Mit dem vitalen Jazz begehrte man gegen die Konformität der NS-Kunst auf. Doch bald begann die Gestapo sich für das Treiben der Frankfurter Swing-Freunde zu interessieren, die Bedingungen wurden schwieriger, man traf sich immer mehr privat. Die Gestapo war es auch, die die Aufhebung einer Zurückstellung von Emil Mangelsdorff vom Arbeits- und Wehrdienst aufhob – mit schlimmen Folgen: 1944 wurde Emil Mangelsdorff zur Wehrmacht beordert und konnte seine Karriere erst 1949 fortsetzen, als er aus russischer Gefangenschaft zurückkehrte. Albert war glücklicherweise zu jung für die Front. Erst als er kurz vor Kriegsende zum Volkssturm eingezogen werden sollte, mussten er und vier seiner Freunde sich für einige Wochen im Taunus verstecken.

Mangelsdorff, der 1941 noch allein mit der Stimme zu den Platten seines Bruders improvisierte – ein Instrument besaß er damals nämlich noch nicht – nahm ab 1947 Posaunenunterricht bei Fritz Stähr, dem Soloposaunisten der Frankfurter Oper. Autodidaktisch brachte er sich das Gitarre spielen bei, außerdem lernte er bei seinem Onkel in Pforzheim Violine und Harmonielehre. Das war sein gesamtes „Musikstudium“ – seine Profikarriere begann er 1947 als Rhythmusgitarrist in der Otto-Laufner-Bigband, mit der er in Clubs der US-Armee spielte. Dieser Start verhalf ihm sicher auch zu dem, was heute unter jungen Musikern eine Rarität ist: stilistische Vielseitigkeit bei gleichzeitiger früher Ausprägung eines markanten eigenen Stils.

So gab es schon vor dem mehrstimmigen Spiel auf der Posaune – dem späteren Markenzeichen Mangelsdorffs – einen typischen Mangelsdorff-Sound, den Volker Kriegel in seiner Laudatio zum 70. Geburtstag von Albert Mangelsdorff so treffend beschrieb, dass er hier zitiert werden soll: „Wir möchten noch einmal darauf hinweisen, dass Albert einen eigenständigen musikalischen Dialekt entwickelt hat. Neuartige und ungewöhnliche Melodiewendungen jenseits aller Skalenroutinen gehören dazu, eine Vorliebe für überraschende, weite Intervallsprünge, für trickreich verzinkte und gekonnt angetäuschte Rhythmusfiguren, für mehrdeutige Akkorde und für eigenwillige Akkordfortschreitungen.“ Fünf Jahre vor seinem eigenen frühen Tod erinnerte der viel jüngere Kriegel in dieser Rede auch an den für seine eigene Karriere so wichtigen Zuruf Albert Mangelsdorffs im Frankfurter Jazzkeller: „Komm spiel bissje mit“.

Jazz aus Europa

Mangelsdorff war bereits Mitte zwanzig, als die endgültige Entscheidung für sein Instrument, die Posaune, fiel. 1953 ging der Posaunist zur Hans-Koller-Band, 1955 wechselte er für zwei Jahre zum Radio-Tanzorchester des Hessischen Rundfunks. Danach übernahm er die Leitung des hr-Jazzensembles, einer Idee des Frankfurter Jazzpioniers Horst Lippmann. Die Mitglieder der Gruppe hatten und haben keine kommerzielle Aufgabe: Die Idee war es, Jazz frei von allen Zwängen des Marktes zu erfinden und zu spielen. Die Positionen Emil und Albert Mangelsdorffs sowie Joki Freund waren über Jahrzehnte gleich besetzt, die Gästeliste dagegen ist internationale Jazzgeschichte. Mit dem hr-Jazzensemble aber auch mit dem Albert Mangelsdorff Quintett mit Günter Kronberg, Heinz Sauer, Günter Lenz und Ralf Hübner war der Frankfurter einer der wichtigen Vorkämpfer des europäischen Jazz.

Beschreibt man Albert Mangelsdorffs Entwicklung, dann braucht es keine Stilkunde, sondern nur eine Liste der Namen seiner Mitspieler. Der Titel seiner Duo-LP „Albert Mangelsdorff and friends“ ist Konzept. Wenn Albert Mangelsdorff mit Kollegen spielte, dann ließ er sich auf diese niemals nur musikalisch ein. Duos spielte Albert Mangelsdorff mit Don Cherry, Attila Zoller, Wolfgang Dauner, Lee Konitz, Elvin Jones, Karl Berger und vielen mehr. Dabei interessierte sich der Posaunist weniger für die spezifischen Klangmöglichkeiten diverser Duokombinationen. „Es kommt weniger auf die Instrumente an, als auf die Personen“, war seine Auffassung.

Sound, Interaktion, Groove: Es gibt eine weitere Besetzung, die Albert Mangelsdorffs Wünschen als Improvisator, Komponist und Interpret schon immer ideal entgegenkam. Das Trio mit Posaune, Bass und Schlagzeug. Legendäre Aufnahmen sind „The Wide Point“ (1975) mit Palle Danielsson (b) und Elvin Jones (dr), „Trilogue“ (1976) mit Jaco Pastorius (el-b), Alphonse Mouzon sowie „Albert Live in Montreux“ (1980) mit dem kürzlich verstorbenen Jean Francois Jenny-Clark (b) und Ronald Shannon Jackson (dr). Dass die beiden letztgenannten Aufnahmen Live-Mitschnitte sind, passt zum Konzept Mangelsdorffs: Er war ein großer Improvisator, der in seinen Gruppen darauf achtete, dass trotz aller Freiheit, die Kontrolle über den musikalischen Prozess nie verloren ging. Erst wenige Wochen vor dem Tod Mangelsdorffs hatte Michael Naura eine Aufnahme vom „144th NDR Jazzworkshop“ aus dem Jahr 1979 erstmals veröffentlichte und damit die Mangelsdorff-Trio-Aufnahmen um ein Kleinod erweitert. Der Frankfurter Posaunist traf 1979 in Hamburg mit dem Norweger Arild Anderson (b) und Schweizer Pierre Favre (dr) zusammen. Es entstanden inspirierte Einspielungen verschiedener Mangelsdorff-Stücke, ergänzt um zwei Andersen-Beiträge.

Der Solist und die Big Band

Der Posaunist war sich trotz seiner Soloerfolge nie zu schade, im Satz einer Big Band mitzuspielen. Wichtige Stationen waren im Freejazz das Globe Unity Orchestra Alexander von Schlippenbachs, beinahe zur gleichen Zeit war er Gründungsmitglied der Fusion Band United Jazz & Rockensemble. Wichtige Produktionen kamen mit Big Bands von NDR und WDR zustande. Er war Chef des deutsch-französischen Jugendjazzorchesters und Präsident des Landesjugend-Jazzorchesters Hessen (LJJO). Der Solist vergaß niemals die Heimat seines Instruments, die Big Band, und legte großen Wert darauf, Big-Band-Kultur weiter in die Zukunft zu entwickeln. Sein letztes Programm fürs Jazzfest Berlin im Herbst 2000 war folgerichtig auch eine Leistungsschau der großen Jazzensembles wie dem Danish Radio Orchestra, dem Klaus König Orchester oder dem finnischen UMO Jazz Orchestra.

Grenzüberschreitungen reizten ihn: Mangelsdorff spielte Freie Musik mit Friedrich Gulda, Free Jazz mit Peter Brötzmann, Rockjazz mit Volker Kriegel, er gab einen musikalischen Kommentar auf Wolf Biermanns LP „Trotz alledem“ ab und absolvierte ein Gastspiel in der Rockband von Klaus Lage. Häufig arbeitete er mit Perkussionsensembles zusammen, etwa Peter Gigers Family of Percussion. Das konnte swingen oder eher motorisch daherkommen, er fühlte sich auch zu Hause in den komplexen rhythmischen Strukturen indischer Musik, ja selbst im Feuer der Elektrobeats von Reto Weber.

Das wichtigste Alleinstellungsmerkmal des Posaunisten soll auch in dieser Würdigung des Posaunenmeisters nicht unterschlagen werden, sein Solospiel: 1972, im Olympiadorf in München, gab er sein erstes Solokonzert und wurde quasi über Nacht „Weltmeister“ auf der Posaune. Bis zu diesem Auftritt hatte er zwei Jahre Arbeit in sein mehrstimmiges Spiel investiert und „bis zum Abend davor noch im Frankfurter Jazzkeller geübt“. Es wurde ein sensationeller Erfolg. Seine Technik, die er bei den Hornisten abgeschaut hatte, bestand im Anblasen eines Tons und gleichzeitigem Singen ins Mundstück. Durch Differenztonbildung von unterschiedlich gespielten und gesungenen Tönen entstehen Obertöne, die wie Akkorde klingen. Heute kann das jeder Posaunist, angefangen bei Robin Eubanks über Ray Anderson bis hin zu Nils Wogram. Aber keiner von ihnen hat so intensiv und systematisch an einer Akkordlehre der Posaune gearbeitet wie Albert Mangelsdorff.

Die Mehrstimmigkeit wurde Mangelsdorffs Markenzeichen – und ein wenig auch seine Manie. Vielleicht ist diese ganz spezielle Färbung seiner Stücke der Grund, dass sie wenig im Repertoire der Kollegen zu finden sind? Oder ist es der Respekt vor dem Übervater der Jazzposaune? Albert Mangelsdorff hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn zukünftige Cover-Versionen seiner Musik nicht von Posaunisten, sondern von Gitarristen, Pianisten, Saxophonisten, Sängern oder anderen gespielt würden. Denn: „Es kommt weniger auf die Instrumente an, als auf die Personen.“

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