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Das SWR Vokalensemble und die Neuen Vocalsolisten Stuttgart erhielten im Rahmen des Eclat-Festivals den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik 2014. Foto: Lohner
Das SWR Vokalensemble und die Neuen Vocalsolisten Stuttgart erhielten im Rahmen des Eclat-Festivals den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik 2014. Foto: Lohner
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Gibt es ein Leben außerhalb der Neuen Musik?

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Das Eclat Festival Neue Musik Stuttgart 2015 zwischen Trends und Traditionen
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Anstatt zu sagen, er macht gute Musik, muss man bei dem Komponisten Johannes Kreidler eher sagen, er denkt gute Musik. Der Compositeur provocant wurde seiner Rolle als Konzeptkünstler auch beim jüngsten Festival für Neue Musik Eclat Anfang Februar in Stuttgart gerecht. Er hatte sich Ravels „Bolero“ vorgeknöpft und einfach die beiden eingängigen Melodien weggelassen. Übrig blieb ein Bolero-Skelett mit dem bekannt-markanten Rhythmus sowie dem unnachahmlichen Crescendo, im Unhörbaren begonnen und ins Brachiale gesteigert vom SWR Sinfonieorchester Stuttgart unter Rupert Huber. Die gewaltige Wirkung beruhte auch darauf, dass Kreidler den Rhythmus für die sonst arbeitslos gebliebenen Bläser neu arrangiert hatte. Kreidler hatte Ravels Konzept sozusagen auf die Spitze getrieben – ob sein „Bolero“ durch dieses Raffinement zu Neuer Musik geworden war, darüber war sich das (Fach-)Publikum nicht einig. Kreidler gelang nicht nur ein interessanter Blick auf Vorbilder aus der Musikgeschichte, sondern auch ein Affront gegenüber der Neuen Musik: Kann ein Arrangement eines Klassik-Hits Neue Musik sein?

Mit den Ritualen des Konzertbetriebs der Neuen Musik setzten sich auch etliche der anderen eingeladenen Komponisten auseinander. Benedict Mason hatte dem für seine Virtuosität bekannten Posaunisten Michael Svoboda per Spielanweisung gar jegliche Virtuosität „verboten“: „Play it cold“. In seinem „Sackbutt Concerto“ ließ er die meisten Aspekte des barocken Konzerts, das Wettstreiten, die Virtuosität und die Dramatik weg. Er habe, so schreibt Mason in seinem Werkkommentar, jede Form von „Angeberei“ ausgespart und Virtuosität als eine versteckte, akustisch-abstrakte Kategorie angelegt. 21 Solostreicher gestalteten im 6-fachen Piano das zarte Klangbett auf dem Svoboda seine von Mason ausgeklügelten Sackbutt-Sounds platzierte. Zwei Konzerte als Beispiele dafür, was das Eclat-Festival 2015 zu einem besonderen Festival-Jahrgang machte. Im zweiten Jahr ihrer Verantwortung war es den beiden künstlerischen Leitern Christine Fischer und Björn Gottstein gelungen, an die Traditionen des renommierten Stuttgarter Festivals anzuknüpfen, aber auch neue, eigene Akzente zu setzen.

Offensichtlich lagen diese in der richtigen Mixtur von Klassikern der Moderne wie Nicolaus A. Huber, Georges Aperghis, Benedict Mason oder Philippe Manoury mit einer jüngeren Generation von Komponisten wie Simon Steen-Andersen, Erik Bünger, Johannes Kreidler, Brigitta Muntendorf, Stefan Prins, Oxana Omelchuk oder Mauro Lanza.

Im Zentrum lag das wachsende Interesse der Komponisten am eigenen Verhältnis zur Tradition, auch zum aktuellen Meisterwerk-Diskurs sowie zu einer Haltung zur direkten Vätergeneration. Traditionslinien wurden aufgegriffen, aber auch starke ästhetische Brüche traten hervor. Vielleicht war sogar ein bisschen Mode mit im Spiel? In diesem Zusammenhang sei nur an die Schlagwörter von einer neuen „Diesseitigkeit“ der zeitgenössischen Musik respektive eines „Neuen Konzeptualismus“ erinnert.

Mit zwei großen Werken stand der dänische Komponist Simon Steen-Andersen im Zentrum des Geschehens: Sein dadaistisch-dekonstruktivistisches Stück für Dirigent, mikrofonierte Puppenbühne, Ensemble Modern und Live-Zuspielvideo war ein halbstündiges Spektakel überbordender Einfälle, voll von witzigem Spiel mit Musik übers Musikmachen und gespickt mit Überwältigungsszenarien, die unterhielten, ohne nur Entertainment zu bleiben.

Steen-Andersen steckte die Hände des Dirigenten in eine „Black Box Music“ – so der Titel des Stücks –, wo sie einen chaplinesken Tanz mit Zeichen, Gesten und Gegenständen aufführten. Jede noch so kleine Bewegung der Hände wurde von den exzellent agierenden und reagierenden Solisten des Ensemble Modern in stupende Klänge umgesetzt. Eine Musikgroteske, die zugleich Konzert, Film, Kabarett, Installation, Performance und intelligente Selbstreflexion „zeitgenössischen Musizierens“ war.

Simon Steen-Andersen hatte am Donnerstag und Freitag zuvor bereits mit einer weiteren Groteske zur Leichtigkeit des Stuttgarter Festivals beigetragen: Sein Musiktheater in fünf Szenen „Buenos Aires“ begann mit einer unerwartet vergnüglichen Kabarettnummer der Neuen Vocalsolisten, bei der einem das Lachen schlagartig im Halse stecken blieb, als Krankenwärter der Protagonistin Johanna Zimmer im Stile von Terry Gilliams schwarzer Filmkomödie „Brazil“ mitten in der Studioaufnahme für einen Popmusik-Jingle einen Sack über den Kopf zogen und sie im Rollstuhl zu einem peinsamen Verhör in einer Welt zwischen Science-Fiction und kafkaeskem Grauen gebracht wurde. Ein schwarzes Theater, voller Gewalt und Angstzuständen, bei dem sich musikalische und szenische Einfälle gegenseitig überboten, und die zeigten, wie selbstbewusst Komponisten heute zwischen Komplexismus, Konzept und Popkultur leben und arbeiten.

In diesem Zusammenhang muss auch Brigitta Muntendorf erwähnt werden, die aus dem Spannungsfeld zwischen akademischem Komponieren und hedonistischem Clubleben Anregungen für eine Musik schöpft, die hochartifiziell ist und gleichzeitig in ihrer Klanglichkeit, ihrem Bewegungsgestus direkt und unmittelbar. Ihr Klavierstück „The key of presence“ ist große Musik für kleine Besetzung: Das Klavierduo GrauSchumacher bediente zwei erweiterte Flügel und ihre mikrofonierten Körper virtuos.

Auch die Musik der jungen Preisträger des 1955 erstmals vergebenen Kompositionspreises der Stadt Stuttgart, der damit der älteste Preis dieser Art in Deutschland ist, waren symptomatisch für die stilistische Offenheit und Unangestrengtheit des Stuttgarter Festivals. Die Italienerin Clara Iannotta hatte, inspiriert vom Geläut des Freiburger Münsters, das Ensemble-Stück „Clangs“ in drei Teilen geschaffen, das mit dem Ausklang der Glocken beginnt und ohne jede illustrative Anbiederung eine Struktur schafft, die – obwohl fast durchgängig im pianissimo-Gestus gehalten – einen großen Spannungsbogen erzeugte.

Vitalistisch zupackend dagegen der zweite Preisträger Daniel Moreira, der mit „Emergency Procedures“ für großes Ensemble, vier Solisten und Elektronik einen Beinahe-Flugzeugabsturz vertont hatte. Eine Musik für eine Lichtspielszene im Comic-Stil mit viel Quietsch, Boing, Polter und Jaul – zwölf Minuten atemlose Musik.

Institutionen der Neuen Musik standen im Blickfeld der jungen Künstlergeneration. Damit war neben den Rundfunkanstalten, den Veranstaltern, den Ensembles, den Gattungen und Ritualen auch eine Persönlichkeit gemeint, die längst als Institution gilt: Helmut Lachenmann, der am 27. November dieses Jahres seinen 80. Geburtstag begeht. Ihm widmen Musik der Jahrhunderte, das Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR, das Staatsorchester Stuttgart sowie die Stuttgarter Musikhochschule ein großes Festival vom 7. November bis 7. Dezember 2015 unter dem Titel „Lachenmann Perspektiven“. Im Rahmen dieser Veranstaltung sollen zwischen Januar 2015 und Januar 2017 europaweit exemplarische Aufführungen sämtlicher Orchesterwerke Lachenmanns stattfinden. Beim Eclat-Festival gab es als Appetithäppchen zunächst eine Podiumsdiskussion „Der ästhetische Apparat“, bei der die „Institution Lachenmann“ sich im überfüllten Saal mit dem Moderator Rainer Pöllmann, dem Komponisten Sebastian Claren, dem Philosophen Christian Grüny sowie den beiden mit Werken auf dem Festival vertretenen Komponisten Brigitta Muntendorf und Hannes Seidl austauschte.

Im Zentrum standen Lachenmannsche Schlüsselbegriffe wie „ästhetischer Apparat“, „Verweigerung“, „Aura“ und „musicque concrete instrumental“. Lachenmann bezeichnete sein Metier als „Das Klingende“ und sich selber vor allem als „auditiven Menschen“. Auch wenn er mit seinem Werk die Musikwelt, den ästhetischen Apparat verändert habe, und obwohl er politische Sujets wie etwa bei seinem Musiktheater „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ benutzt habe, vertrete er den Standpunkt, dass Musik an und für sich keine politische Botschaft habe.

„Das wird nur Entertainment“, behauptete Lachenmann und weiter: So wie Karl Kraus die Sprache vor den Nazis in Sicherheit bringen wollte, so sei das Höchste, was der Künstler tun könne, die Musik vor den Medien, vor der Kulturindustrie in Sicherheit zu bringen.“ Lachenmanns These: „Musik ist nicht dazu da etwas zu sagen. Das kann Bob Dylan besser, da funktioniert das.“

Widerspruch aus der Runde war vorprogrammiert. Brigitta Muntendorf war dabei am deutlichsten: Man müsse den Finger in die Wunde legen, gerade auch in die der Neuen Musik. Sie postulierte: „Es gibt ein Leben außerhalb der Neuen Musik.“ Sebastian Claren schloss sich an und brach eine Lanze für den Pop und für eine etwas weniger eurozentrische Sichtweise auf die Musik der Gegenwart. „Pop erzählt uns“, so Claren, „von unserem Leben, unserer Welt, unserer Zeit.“ Inwieweit Musik sich von Außermusikalischem inspirieren lassen kann, wurde auch im Werk „Mirror Box (Flesh + Prosthesis #3)“ von Stefan Prins offensichtlich. Ein Gerät aus der Amputationschirurgie – die Mirror Box – hatte ihn zu einem höchst eindrücklichen Kammermusikstück inspiriert. So wie die Mirror Box einem durch Spiegel ein fehlendes Körperteil vorgaukelt,  es den Patienten als „body extension“ empfinden lässt, so arbeitet Prins bei seinem ästhetischen Apparat mit „musical hybrid extensions“. Im Studio von Musikern des „Trio Accanto“ vorproduzierte Klänge wurden von denselben beim Konzert angetriggert und live verändert. Prins weitet den Begriff „erweitertes Instrument“ aus zur „erweiterten Komposition“.

Exzellente Chorkonzerte mit dem SWR-Vokalensemble, Experimentelles für Sprech-, Sing- und Experimental-Stimme mit den Neuen Vocalsolisten und aktuelles Musiktheater standen wie in früheren Ausgaben im Zentrum des Stuttgarter Festivals. Es war also kein Zufall, dass die beiden Zentralensembles des Festivals, ohne die Eclat nicht Eclat wäre, dort mit dem Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurden. Der SWR-Vokalensemble und die Neuen Vocalsolisten erhielten ihn für die Einspielung der Wölfli-Kantata von Georges Aperghis auf Cyprès Records unter Marcus Creed. Die Laudatio über die in der Kategorie „Zeitgenössische Musik“ ausgezeichnete Aufnahme hielt die Journalistin Susanne Benda als Mitglied der Jury.

Dass das SWR Vokalensemble die Auszeichnung zurecht erhalten hatte, zeigte das Chorkonzert am Tag zwei des Festivals. „Geistliche Dämmerung“ für Kammerchor auf Gedichte von Georg Trakl von Philippe Manoury war ein Kompositionsauftrag des SWR und ein Stück eindringlicher Vokalmusik, das seine Stärke aus der Thematik von Trakls expressiven Texten aus der Zeit des 1. Weltkriegs bezog, aber auch auch aus der Kompetenz Manourys, mit Chorstimmen zu agieren. Oxana Omelchuks darauf folgende „Gaunerlieder“ für gemischten Chor waren nicht ganz auf derselben gestalterischen Höhe, überraschten aber durch die Frische des Sujets – und beim langsamen Satz durch eine Klangsinnlichkeit, die das SWR Vokalensemble bestens in Szene setzte.

Uraufführungsmitschnitte der Werke von Philippe Manoury und Oxana Omelchuk unter der Leitung von Stephen Layton unter www.nmzmedia.de.

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