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Durch den Wald der Systeme. Foto: Hufner
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Im Wald der Töne

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Absolute Beginners
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Die Tätigkeit eines Komponisten ist ähnlichen psychischen Herausforderungen ausgesetzt wie andere künstlerische Berufe auch. Dazu gehört auch die Angst vor dem leeren Blatt – oder die vorm leeren Computerbildschirm. Komponieren ist kreatives Ausfüllen von klingender Zeit, aber wenn dieses Ausfüllen mit Angst besetzt ist (ist das der richtige Ton? Kann es nicht auch ein anderer sein?), kann diese eigentlich freudvolle Beschäftigung zu schrecklicher Qual werden.

Hierbei gilt folgende Formel: x ist die zur Verfügung stehende Zeit, y ist die Zahl der zur Verfügung stehenden Einfälle. Wenn x größer als y ist, entsteht ein Deadlock, und es kann nichts zu Papier gebracht werden. Erst wenn es mehr Einfälle gibt als eigentlich noch in einer bestimmten Zeit aufgeschrieben werden können, funktioniert das Komponieren wieder. Das erklärt auch, warum Komponisten zu 95% ihre Stücke erst NACH dem Abgabetermin abliefern, manche sogar so spät, dass die Aufführung dann schon vorbei ist.

Das heißt im Umkehrschluss: viel zur Verfügung stehende Zeit = weniger effektives Komponieren. Studenten haben meistens viel mehr Zeit als sie je später haben werden, daher erleiden sie auch die allerschrecklichsten Krisen (zu denen man später als zum Beispiel Familienvater keinerlei Zeit mehr hat). Sehr oft fragen mich meine Studenten, wie man diese oder jene Krise überwinden kann, und ich gebe dann immer allerlei Tipps aus meiner eigenen Erfahrung der Studentenzeit (die natürlich aus einer Krise nach der anderen bestand). Ob ich denn gar keine eigenen Krisen mehr kenne, fragen sie mich oft, mit einer Spur von Neid. Doch, doch, versichere ich, natürlich kenne ich auch Krisen, nur habe ich einfach viel zu wenig Zeit dazu, diese auszukosten. Eben weil y größer als x ist. Gerne erinnere ich mich dann an einen Spruch meines Lehrers Killmayer, der einst zu mir sagte: „Seien Sie froh, dass Sie noch Krisen haben“. Und das sagte er auch mit einer Spur von Neid.

Aber wie kann ich den Studenten helfen, den Weg durch diesen gigantischen Irrgarten, diesen immensen Wald der Töne zu finden? Schließlich steht man bei jeder Komposition in jedem Takt vor immer neuen Entscheidungen, jeder Pfad führt woanders hin, und die Angst davor, dass manche dieser Pfade ins Verderben (oder die Peinlichkeit) führen, ist groß. Daher sehnen sich Komponisten immer wieder nach Systemen, die ihnen diese Arbeit abnehmen. Früher waren das bestimmte Standardkadenzen, auf die immer Verlass war, obligatorische Triller und Abschlussformeln, Sonatenhauptsatzformen. Doch das war den Komponisten immer noch zu viel Freiheit, daher erfanden sie die 12-Ton-Technik, dann den Serialismus, dann die Komponistenverbände. Aber das ist eine andere Geschichte.

All dies nur um nicht ständig fragen zu müssen: Wie geht es weiter?

Ich erzähle dann immer gerne die Geschichte von der Wanderung im Wald: Wenn ich von A nach B will und dazwischen ist ein Wald, muss ich in den Wald hinein. Dort gibt es zahllose Wege, manche führen hierhin, manche dorthin. Solange ich mich in eine generelle Richtung bewege ist es letztlich gleich, ob ich an bestimmten Stellen nach rechts gehe, oder nach links gehe, oder einen kleinen Schlenker mache. Am Ende komme ich bei B an, und dann bin ich durch den Wald gegangen. Und es wird dann keine Rolle spielen, wie genau ich gegangen bin, da ich am Ziel angekommen bin.

So ist es auch mit der von uns so bewunderten Musik der Vergangenheit. Bei jeder Live-Aufführung eines so genannten „Meisterwerkes“ (bei dem angeblich jeder Ton so sein muss wie er dasteht) wird es kleine Unschärfen geben, Musiker verspielen sich, das Tempo schwankt, hier und dort ist eine Dynamik vergessen worden, aus Dur wird Moll, etcetra Dennoch würden wir alle diese Stücke immer noch wiedererkennen. Ich behaupte Mal, dass man erstaunlich viel an zum Beispiel einer berühmten Beethovensonate verändern könnte, ohne dass man das Stück komplett zerstört. Hier eine kleine andere Modulation, die Melodie ein wenig verändert, ein Staccatopunkt wo vorher keiner war? Kein Problem - Es gibt ohnehin keine 100% perfekte Interpretation, warum reiben wir Komponisten uns dann so oft an Details auf? Solange die Richtung stimmt, wird das Stück intakt sein.

Dies soll jetzt nicht als Anleitung zur Schlamperei verstanden werden – tatsächlich muss bei all dieser Lässigkeit gegenüber den Einzelentscheidungen (die letztlich oft trivial sind) eines nicht vergessen werden: Man muss die Richtung kennen, die man durch den Wald nehmen will.

Und das ist dann doch gar nicht so einfach. Fast könnte man deswegen eine Krise bekommen.

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