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BPOC Musiker*innen unter sich: das String Archestra. Foto: Sarah Martin
BPOC Musiker*innen unter sich: das String Archestra. Foto: Sarah Martin
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International ist nicht automatisch divers

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Hat der klassische Orchesterbetrieb ein Rassismusproblem? · Von Eva Morlang
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Vielfalt und Weltoffenheit ist erklärtes Ziel vieler Kulturinstitutionen. Auch zahlreiche Orchester und Konzerthäuser haben in den letzten Jahren als Reaktion auf erstarkende rechtsextreme und antidemokratische Kräfte die „Erklärung der Vielen“ unterschrieben. Wer sich von Nazis und Rechtsextremen abgrenzt, wiegt sich in Sicherheit, nicht rassistisch zu sein. Dass diese Vorstellung zu kurz greift, ist im Jahr 2020 allmählich in den öffentlichen Diskurs eingezogen. Alltagsrassismus und Diskriminierung durch Behörden wurden lange mit den USA assoziiert. Nun entsteht ein Bewusstsein dafür, dass es Rassismus auch in Deutschland gibt, und zwar nicht nur in Form vereinzelter Nazis, sondern strukturell.

Rassismus ist ein System, das über Jahrhunderte gewachsen ist und das sich oft in kleinen unbedachten Handlungen äußert, die nicht mit böser Absicht geschehen, schreibt Alice Hasters, deren Buch über Rassismus bereits 2019 erschien, aber nach den weltweiten Black Lives Matter Protesten im letzten Sommer zum Verkaufsschlager wurde. Sie stellt klar: Wir können in unserer Gesellschaft gar nicht anders, als rassistische Denkmuster zu entwickeln. Doch die Muster und Strukturen können demontiert und verlernt werden, wenn man sich aktiv damit auseinandersetzt. Erste Institutionen, Medienhäuser und Unternehmen haben begonnen, ihre eigenen Strukturen daraufhin zu überprüfen.

In den Berufsorchestern scheint das Thema jedoch noch nicht angekommen zu sein. Auf die Anfrage, ob man sich in der eigenen Institution mit Rassismus auseinandersetze, kommen Antworten, die die strukturelle Ebene offensichtlich verkennen. Von der Pressestelle der Berliner Philharmoniker kommt die Aussage, man habe 28 Nationen im Orchester, daher sei die Problematik in der Institution „nicht so richtig vorhanden“. „Wir sind doch so eine bunte Zusammensetzung an Hautfarben“ heißt es, und dann nach kurzem Zögern „naja, nicht so richtig bunt“. Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, schreibt auf Nachfrage, die deutschen Berufsorchester seien insgesamt international aufgestellt. Im Durchschnitt stammten rund 25 Prozent aller Orches­termitglieder aus dem Ausland. „Diese Mischung und Durchmischung von Musikerinnen und Musikern, die in einem Orchester aus über 20 Ländern stammen können, führt nach unserer Beobachtung zu einer erhöhten Toleranz gegenüber Menschen nicht-deutscher Herkunft. So gesehen sind Orches­ter (und Theater) lebendige Beispiele praktizierter kultureller Vielfalt“.

Ursachenforschung

International mit divers gleichzusetzen, findet die Musikerin und Musikwissenschaftlerin Daniele Daude problematisch. „Das macht Leute, die nicht weiß sind, aber deutsch, unsichtbar“. Der Verweis auf Internationalität verschiebe den Fokus. „Es ist eine nationale Angelegenheit wenn sich eine weiße Mehrheitsgesellschaft weigert, zu sehen, was schon da ist. Wir sind da, ob ihr das wollt oder nicht“, sagt sie, und meint damit Schwarze und People of Colour. Sie sind mitten in der deutschen Gesellschaft, aber selten in Berufsorchestern.

Die Suche nach den Gründen führt über die Musikhochschulen, Vorspiele und Bewerbungsprozesse. Und sie erfordert Geduld und Vorsicht. Beim Thema Rassismus läuten sofort die Alarmglocken: Weiße Menschen fühlen sich angegriffen und von Rassismus Betroffene haben teilweise Angst, sich zu äußern und konkrete Namen zu nennen. Es ist sicher kein Zufall, dass sich in großen deutschen Medien bisher vor allem schwarze Dirigenten zum Thema Rassismus in der Klassik geäußert haben – Männer in einer Machtposition, die weniger zu befürchten haben als etwa eine Geigerin in der Probezeit.

Die Schlagzeugerin Linda-Philomène (Philo) Tsoungui, geboren in Sachsen, studierte zunächst klassisches Schlagzeug, dann Jazz. Inzwischen tourt sie mit großen Namen im Pop und HipHop wie Fatoni und Mine. Im Klassikstudium sei ihr oft gesagt worden: „Du spielst schon toll, aber wir sehen einfach keine schwarze Frau in einer Schlagzeuggruppe eines deutschen Orchesters“. An Sprüche wie „spiel mal nicht so afrikanisch, spiel mal gerader“, musste sie sich gewöhnen. „Man wird verletzt, versucht es ein, zwei mal anzusprechen. Es trifft auf keine Resonanz. Also gewöhnt man sich dran, es zu schlucken“, sagt sie.

Im Jazzstudium nahm zwar die Musik schwarzer Künstler*innen mehr Raum ein, jedoch immer nur aus der Perspektive von Weißen: „Wenn ich da in Jazzgeschichte sitze und ein alter weißer Mann sagt mir: ‚das war der Ausdruck dieses Schmerzes‘, ist das mehr als grotesk. Er hat es akademisiert, aber er weiß nicht, was es heißt, marginalisiert und ausgebeutet zu sein“, sagt sie.

Automatisches Gefälle

Die Perspektive bestimmt das, was als gut, wichtig und lehrenswert angesehen wird und manifestiert sich besonders in der Klassik in einem starren Kanon: „Der Kanon der klassischen Musik gilt als das Non plus ultra des kulturellen Ausflusses dieser Gesellschaft. Das macht automatisch ein Gefälle auf zu anderen Kulturen, derer sich bedient wird“, sagt Philo. Gerade im Schlagzeug sei das offensichtlich: „Man holt sich eine Taiko-Trommel aus dem Lager, aber hat nicht die leiseste Ahnung, welchen Wert das Instrument in anderen Teilen der Welt hat. Nach dem Motto: Die machen da Kult, wir machen Kultur draus“.

Diesen Eindruck teilt der Komponist Fabien Lévy, der an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig lehrt. Er beschäftigt sich viel mit den Musikkulturen anderer Länder und Kontinente. Den Begriff „klassische Musik“ findet er aus dieser Erfahrung heraus fragwürdig. Von einem Aufenthalt in Kamerun erzählt er: „Als ich sagte, ich mache klassische Musik, kam die Nachfrage, was das sei. Als ich erklärte: Mozart, Haydn, Orchester und so, sagten sie: Ah, deutsche Musik!“ Lévy bezeichnet die Welt der E-Musik in Deutschland als „zentrifugal“. Sie geht von sich aus und überträgt das auf andere. In anderen Künsten sei es viel üblicher, ganz im Gegenteil, Einflüsse von außen bewusst zu suchen. „Wenn ein Architekt sich mit der Architektur in Togo auskennt, ist das völlig normal, dann steckt ihn niemand in eine Ethno-Ecke“. Diese auf sich selbst bezogene Haltung, findet Lévy rückschrittig. Seit dem Tod von Beethoven werde die sogenannte E-Musik fetischisiert, bis heute. „Immer noch schreiben die Komponist*innen Streichquartette“, sagt er. „Als Mozart sein Klarinettenkonzert schrieb, war die Klarinette wenige Jahre alt, und wir schreiben heute noch für die gleichen Instrumente. Wir leben total in der Vergangenheit“, sagt er. Durch den starren Kanon und ästhetische Vorstellungen musealisiere die Musik ihr Fach. Lévy sieht strukturellen Rassismus darin, wenn Musiken abseits der mitteleuropäischen Kunstmusik abgewertet werden, und findet es wenig verwunderlich, dass in diesem Umfeld auch die Personalpolitik eine konservative ist, sei es in der Besetzung von Professuren oder Orchesterstellen.

Kleinen und weniger hierarchischen Institutionen sollte es leichter fallen, diese Strukturen aufzubrechen. Die junge norddeutsche philharmonie (jnp) ist sich der Problematik von strukturellem Rassismus bewusst, steht aber auch noch am Anfang der Auseinandersetzung. „Uns ist total klar, dass wir noch nicht das an Diversität erfüllen, was wir in Zukunft gern haben würden. Aber es hat sich ein Bewusstsein eingestellt, dass das ein Thema ist und dass wir da ran müssen“, sagt Marlene Schleicher, Dramaturgin bei der jnp. Das beinhaltet für sie „sowohl wen man anspricht, als auch was man spielt, wie man das reflektiert, was man spielt, welche Dirigentinnen man einlädt und für was für ein Publikum man spielt“. Bisher sei das vor allem eine interne Diskussion im Team, sagt der Geschäftsführer Konstantin Udert: „Wie können wir als legitimer Absender in so eine Debatte eingreifen? Nach dem Tod von George Floyd sitzt man da mit einer weißen akademischen Gruppe, macht seine Musik und kommt sich unheimlich behämmert und nutzlos vor, dass die mitteleuropäische Kunstmusik unsere einzige Ausdrucksform ist“, sagt er. „Dann fällt einem auf: Wir haben damit nichts zu tun, aber indem wir uns nicht dazu verhalten, konservieren wir genau diesen Zustand“. Vom Ziel eines divers besetzten Orchesters ist die jnp, die 2020 den Würth-Preis der Jeunesses Musicales Deutschland erhielt, noch weit entfernt. „Wir schöpfen aus einem rein weißen Bewerber*inenpool“, sagt Udert. „Wir hatten drei schwarze Mitglieder in zehn Jahren.“ Am Bewerbungsprozess liege es seiner Meinung nach nicht: Die Bewerbungen seien ohne Foto, ein Vorspiel gebe es gar nicht. Das Orchester sei aber auch nicht repräsentativ für die deutschen Musikhochschulen, an denen viele Asiat*innen studieren. Das liege vor allem daran, dass das Bewerbungsverfahren darauf aufbaut, dass Bewerber*innen über ihre Persönlichkeit erzählen. Damit entsteht eine Sprachbarriere für manche, die musikalisch qualifiziert wären. Eine wichtige Rolle spielt auch das Netzwerk: Bislang haben die meisten über Freundinnen und Bekannte ihren Weg in das Nachwuchsorchester gefunden.

Zu viele asiatische Namen

Das Vorspiel für Orchesterstellen wird immer wieder als Barriere genannt, sei es in Bezug auf Geschlecht oder Hautfarbe. Wie zuletzt ein Artikel in der ZEIT aufzeigte, ist auch durch die „blind auditions“ nicht unbedingt mehr Chancengleichheit gegeben. Um aber überhaupt zum Vorspiel eingeladen zu werden, müssen bereits einige Hürden genommen werden. Xizi Wang ist seit einem Jahr Solo-Paukistin beim Gerhardt-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau. Der Weg zu ihrer ersten festen Stelle war lang. Die Chinesin studierte in Wien und half bereits als Studienanfängerin an der Wiener Staatsoper aus. Auch eine Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern konnte sie bald vorweisen – eigentlich beste Voraussetzungen, um sich auf deutsche Orchesterstellen zu bewerben. Ihre europäischen Kommiliton*innen wurden eingeladen, sie nicht. Nach vielen erfolglosen Bewerbungen schaffte sie es in die Akademien der Nürnberger Symphoniker und des Gewandhausorchesters.

In beiden Orchestern zeigten sich ihre Kollegen verwundert: Mit ihrem Lebenslauf hätte sie doch für die festen Stellen eingeladen werden müssen. Ihre Bewerbung sei wohl schon früh aussortiert worden – die Kollegen vermuteten: „Wahrscheinlich weil so viele asiatische Namen dabei waren, die so ähnlich sind. Dann wird nicht so genau gelesen“. Wann immer Xizi Wang zum Vorspiel eingeladen wurde, machte sie positive Erfahrungen, aber bis dahin musste sie sich deutlich öfter bewerben als Musiker*innen mit europäischen Namen.

Struktureller Rassismus, wie etwa im musikalischen Kanon oder im Zugang zu bestimmten Positionen, steht mit Alltagsrassismus in Verbindung. Diesen wiederum kann man teilweise erst richtig erkennen, wenn man sich auch der strukturellen Hintergründe bewusst ist.

„Warum stört es Dich jetzt?“

Lorna Hartling spielt seit 1992 Bratsche im Deutschen Symphonie-Orches­ter Berlin. Die einzige Schwarze im Orchester zu sein, war sie bereits aus ihrer musikalischen Ausbildung in den USA gewöhnt. An welchen Stellen sie Rassismus erlebt hat, wird ihr teilweise auch erst im Rückblick bewusst. Die massiven Proteste nach dem Tod von George Floyd hätten auch sie dazu bewegt, das Buch von Alice Hasters zu lesen und sich mehr mit der Struktur von Rassismus auseinanderzusetzen. „Ich scheue mich selber, an die Substanz zu gehen“, sagt sie, „denn dann muss ich auch lernen zu erkennen: Welche Mückenstiche gibt es jeden Tag, die ich seit Jahren dulde, und so lange dulde, dass ich dafür eigentlich gar nicht mehr aufnahmefähig bin? Möchte ich mich so sensibilisieren, dass diese Mückenstiche wieder weh tun?“. Ihre Haare seien zum Beispiel immer ein Thema gewesen. „Wenn ich die Haare offen habe, greift garantiert eine Hand rein. Und wenn ich irritiert gucke, wird gesagt: Die Haare sind so schön. Viele erkennen nicht die Ursprünge von diesen Aktionen“. Die Haare von Schwarzen zu exotisieren geht zurück auf Zeiten, in denen in Deutschland Menschen aus Afrika in sogenannten „Kolonialschauen“ oder „Menschenzoos“ in Käfigen ausgestellt wurden. Lange habe sie geduldet, dass Menschen in ihrem Umfeld ihre Haare thematisieren. „Wenn ich das nach dreißig Jahren ändere, sagen die Leute: Das hat dich nie gestört, warum stört es dich jetzt?“ Weil sie sich jetzt damit beschäftigt hat, die Ursprünge erkennt. Hartling will ihr eigenes Verhalten ändern, weil sie überzeugt ist, dass jede und jeder einzelne mit daran arbeiten muss, Rassismus abzubauen. Dass die Strukturen aufrecht erhalten bleiben, sei auch Unwissen auf allen Seiten geschuldet. Diverser können Orchester ihrer Meinung nach nur werden, wenn schon bei der frühen musikalischen Förderung angesetzt wird. „Die jungen Leute, egal woher sie kommen oder welche Hautfarbe sie haben, müssen Vorbilder finden“. Dass sie einen Platz in der klassischen Musik hat, zeigte ihr ihre Mutter, eine Opernsängerin.

Mehr Sichtbarkeit, nicht nur auf der Bühne sondern auch in der Geschichtsschreibung und auf dem Spielplan, ist das Anliegen von Daniele Daude. Sie erinnert sich an einen Schlüsselmoment, als ihr als Jugendlicher am Pariser Konservatorium ein Pianist von Chevalier de Saint-Georges erzählte: „Ein schwarzer Komponist zu Zeiten von Mozart? Ich konnte das nicht fassen“, sagt sie. Inzwischen rückt Daude selbst marginalisierte Komponist*innen in den Fokus, in ihrer Lehre als Musikwissenschaftlerin und als Leiterin des String Archestra. Aus der Müdigkeit, die einzige Schwarze in Orchestern zu sein und der Begegnung mit einer anderen schwarzen Musikerin entstand die Idee eines Ensembles, das nur aus BPOC Musiker*innen (Black/People of Colour) besteht. Zunächst dachten sie an ein Quartett, doch auf ihren ersten Aufruf hin meldeten sich zahlreiche Musiker*innen aus der ganzen Bundesrepublik. „Gegen ein strukturelles Problem anzukämpfen war mir zu anstrengend. Ich habe lieber mein eigenes Ding gemacht, und das war die beste Entscheidung“, sagt sie. Inzwischen hat das Ensemble ein Stammpublikum, das ebenfalls diverser ist als das der gro­ßen Konzerthäuser. „Wir spielen an Community-Orten in Kreuzberg und Neukölln. Da kommen BPOC, queere Leute. Da sind wir willkommen“, sagt sie. Es sei eine neue Erfahrung gewesen, ein so wohlwollendes Publikum zu haben. „Wir haben eine sehr direkte Verbindung. Wir sind den Menschen nah, reden nach dem Konzert mit ihnen.“ Auf die Frage, ob das Ensemble inzwischen auch Anerkennung von den etablierten Institutionen bekomme, antwortet sie nur: „Mir ist die Anerkennung von Menschen, die meine Menschlichkeit in Frage stellen, total Wurst.“

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