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Kadenzierender Sog ins Unauslöschliche

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Zur Gesamtausgabe der Symphonien Carl Nielsens bei der Edition Wilhelm Hansen
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Obwohl einer der eminentesten Symphoniker nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern überhaupt der Geschichte, ist Dänemarks bedeutendster Komponist Carl Nielsen bis heute nicht wirklich heimisch in deutschen Konzertsälen geworden.

Obwohl einer der eminentesten Symphoniker nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern überhaupt der Geschichte, ist Dänemarks bedeutendster Komponist Carl Nielsen bis heute nicht wirklich heimisch in deutschen Konzertsälen geworden. I m skandinavischen Raum sind seine bekanntesten Werke Standardrepertoire, auch in der angelsächsischen Welt ist sein Ruf, nicht zuletzt dank der immensen Parteinahme des wichtigen britischen Symphonikers und BBC-Produzenten Robert Simpson, ein gefestigter. Umso mehr muss es verwundern, dass die Dänen erst vor wenigen Jahren das Projekt einer Gesamtausgabe angingen, die von seinem Hauptverleger, der Edition Wilhelm Hansen, betreut wird und auf 33 Bände in den Abteilungen Bühnenmusik (wir stellten hier seine Oper „Maskarade“ vor), Instrumentalmusik und Vokalmusik angelegt ist. Dafür wird das lange Versäumte nun mit beeindruckendem Tempo nachgeholt.

 

Nielsen hat, wie beispielsweise auch sein nordischer Gegenpol Sibelius oder Leos Janácek, eine ganz eigene Stellung innerhalb der neueren Musikgeschichte. Zu einer Zeit, als im Gefolge des Tristan und der impressionistischen Welle die Tonalität chromatisch und enharmonisch ausgehebelt wurde und in ein Auflösungsstadium geriet, der Herrschaft von Rhythmus, Farbe und atonalem Kontrapunkt weichen musste, fand er gerade in den Gesetzen der Tonalität, in den modulatorischen Zusammenhängen weit gespannter Harmonik ein Feld, in dem die Wirkung seiner Musik primär begründet ist.

Nirgends ist der kadenzierende Sog hin zur Dominante intensiver, weiter getrieben als in Werken wie Nielsens zwischen 1914 und 1916 komponierter Vierter Symphonie (bemerkenswerterweise sehr zeitnah zu Sibelius’ bedrohlich dunkler, freitonaler Vierter Symphonie), seiner meistgespielten, betitelt „Das Unauslöschliche“, deren ganzer Kopfsatz letztlich eine einzige weit ausgreifende Kadenz bildet, deren zwischengelagerte Entspannungsmomente allesamt kaum Ruhe einkehren lassen – alles drängt auf dieses Ende zu. Was ist dieses „Unauslöschliche“, ist es ein verstecktes Programm? Die Symphonie hat, so Nielsen 1914, „kein Programm, aber sie drückt aus, was wir unter Lebensdrang oder Lebensausdruck verstehen – also alles, was sich bewegt, was den Willen zum Leben hat, was weder gut noch schlecht, weder hoch noch tief, weder groß noch klein genannt werden kann, sondern einfach ‚das, was Leben ist’ oder ‚was den Willen hat, zu leben’.“ Der späte Nielsen jedoch ist ein anderes, noch unzureichend erforschtes Gebiet. In der sechsten Symphonie, den Konzerten für Klarinette beziehungsweise Flöte, dem gewaltigen Orgelwerk „Commotio“ ging er völlig andere Pfade. Schon in der Fünften Symphonie bewegte er sich, nachdem er in der Vierten das kadenzierende Potenzial in einem extremen Kraftakt ausgeschöpft hatte, mit verändertem Impetus — die Dissonanz nimmt formbildenderen Raum ein, eine Trommel eskaliert in einer gegen das Kollektiv gerichteten Improvisation, in großflächigem Kontrastmaximum ersteht der zweite Satz, das Kontrapunktische hat weit reichendere Konsequenzen. Die Sechste schließlich, sein irreführend als „Sinfonia semplice“ betitelter letzter Gattungsbeitrag, ist voll kapriziöser, ironischer, allusiv verwobener und verschlüsselter Elemente, eine ungemein lebendige Debatte zwischen instrumentalen Protagonisten, und vor allem im Kopfsatz ist der bezwingende Zusammenhang (der bisher so unstreitig war) eine höchst diffizile gestalterische Herausforderung.

Nielsen ist von Anfang an ein eigentümlicher Meister, die Anklänge an Brahms oder Nordisches sind nur Marginalie, und seine überschwängliche Erste Symphonie zeigt eine unverwechselbare Handschrift, die in der Zweiten („Die vier Temperamente“), Dritten („Espansiva“) und Vierten zu immer gesteigerterer Darlegung findet.

Die Partituren (in noblem, empfindlichem Dunkelblau) sind, wie man es heute erwarten sollte, sehr überblicksfreundlich gesetzt, das heißt, das Druckbild ist nicht zu sehr in die Breite gezogen, ohne zusammengedrängt zu wirken. Die Einleitungstexte sind unbedingt lesenswert (leider in den deutschen Zitaten fehlerhaft!), umschließen die zugänglichen von Nielsen selbst stammenden Werkkommentare, beinhalten Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte zu seinen Lebzeiten. Dass die Schnelllebigkeit ihren Preis hat, musste man auf schmerzliche Weise feststellen, als kurz nach Drucklegung der neuen Partitur zur Dritten Symphonie das seit Erstellung des Erstdrucks durch den Leipziger Verleger Kahnt nicht mehr eingesehene und in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs verloren geglaubte Partitur-Autograf wieder auftauchte – zu spät, um als Quelle der Neuausgabe dienen zu können. Glücklicherweise sind die Differenzen anscheinend unerheblich, doch ein Einlege-Appendix bleibt für die Subskribienten nachzureichen. Man hat bei den zuletzt herausgegebenen Symphonien Nr. 1 und 6 aus der Kritik an den zuerst erschienenen Ausgaben (zumal die Symphonien Nr. 4 und 5) gelernt und die Editionspraxis schon einleitend transparenter gemacht. Die kritischen Berichte sind detailliert und umfangreich unter gewissenhafter Heranziehung der erreichbaren relevanten Quellen. Beim späten Nielsen ist allerdings oft nicht klar, ob Verbesserungen und andere Änderungen auf seine Veranlassung hin, mit seiner Duldung oder auch ohne eingehende Rücksprache mit ihm vorgenommen wurden. In der Fünften Symphonie tun sich zwischen den recht zahlreichen Quellen besonders bezüglich der dynamischen Angaben gewichtige Unterschiede auf. Auch über die strittige Paukenpassage im zweiten Satz der Fünften (Takt 122) ist entschieden: gegen die Paukenstimme, die sich bei Nielsen nur in der früheren Skizze findet, nicht aber in der gültigen Reinschrift. Wer es – mit unbestrittenem Effekt – dennoch machen will, muss sich am Kritischen Bericht orientieren (siehe Michael Schønwandt, der hier in seiner Neueinspielung die herausgeberischen Bedenken nicht teilt). Wirklich lohnend ist es, endlich den Hinweis zur Aufstellung des zweiten Paukenpaares in der Vierten Symphonie ernstzunehmen: Gegenüber dem anderen Paukisten, „nahe am Publikum“ – also nicht als Rechts-links-Stereoeffekt, sondern im Nah-fern-Kontrast vorne-hinten. Die Voraussetzungen sind besser denn je, um Nielsen zu entdecken, was längst überfällig ist.

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