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Kein Ersatz, aber eine Chance in der Krise

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Praktische Hinweise und Ideen zum Online-Proben mit Chören
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Die Corona-Pandemie hat zu Kontaktbeschränkungen geführt, die das gemeinsame Singen in jeder Art von Chorgruppe schon rein rechtlich auf längere Sicht unmöglich machen. In der Chorszene entstand schnell eine breite Diskussion darüber, ob und mit welchen Mitteln Online-Proben möglich sind. Das Fazit: Sie sind nicht nur die im Augenblick einzige Chance für die Chorarbeit, sie sind auch eine für viele Bedürfnisse sehr gute Möglichkeit. Nein, sie werden „normale“ Chorproben nicht ersetzen, aber wenn Chöre und Chorleiter online alle Möglichkeiten ausloten, werden die Proben nach der Krise im positiven Sinne nicht mehr so sein wie vorher und Online-Proben werden auch nicht mit dem Virus verschwinden. Nachfolgend einige praktische Hinweise und Ideen:

Welche Ausstattung braucht man?

  • Bereits mit der integrierten Kamera und dem Mikrofon eines Laptops, Tablets oder Smartphones lässt sich eine gute und unterrichtstaugliche Übertragung von Audio- und Videosignalen erreichen. Selbstverständlich kann man diese durch Erweiterung um externe Kamera, externes Mikrofon, Audio-Interface und die Übertragung etwa eines Keyboards via Mischpult noch einmal deutlich steigern. Die Praxis zeigt aber, dass dies nicht zwingend nötig ist. Die bes­ten Erfahrungen hat der Autor dieser Zeilen als Leitender konkret mit einem hochwertigen Tablet gemacht, auf Seiten der Chorsänger*innen genügt ein Handy mit ordentlichen Kopfhörern – wer alle Teilnehmer oder eingeblendete Noten komfortabel sehen möchte, braucht einen größeren Bildschirm.
  • Da bei Online-Proben der akustischen Stützung des Chores oder einzelner Stimmen eine maßgebliche Bedeutung zukommt, ist ein Keyboard, E-Piano oder Klavier für die Arbeit mit Laien oder noch nicht völlig sicheren Sänger*innen und vor allem in jeder Mehrstimmigkeit beinahe zwingend nötig.

Weder auf Seiten der Chorleitung noch auf Sänger*innenseite sind dies hohe technische oder nicht finanzierbare Ansprüche, die Grundausstattung dürfte meist bereits vorhanden sein. Allerdings gibt es bei älteren Chormitgliedern hier große Unterschiede: während die eine Oma souverän mit der Tochter in Neuseeland skypt und eine Whatsappgruppe mit ihren Enkeln pflegt, hat der andere Opa weder Smartphone noch PC und schon gar keine Lust, sich mit derlei Dingen auseinanderzusetzen. Es wird sich bei Online-Proben also eine Schere auftun zwischen technikaffinen und nicht technisierten Sänger*innen.

Welches Medium ist geeignet?

Die Threads zu den technischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten bezüglich Online-Musikunterricht und Online-Proben sind seit Mitte März zahlreich und lang. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf unser Thema sagen:

  • Es gibt bislang kein bezahlbares Forum, keine bezahlbare App, keine bezahlbare technische Ausrüstung, die gemeinsames Musizieren von größeren Gruppen an verschiedenen Orten ohne die so genannte Latenz, also die unterschiedlich verzögerte Übertragung von Audio- und Videosignalen ermöglicht (siehe allerdings den Artikel auf Seite 3 dieser Ausgabe). Deshalb wird gemeinsames Singen online verbunden auf absehbare Zeit nicht synchron sein und dieser Umstand ist beim Chorsingen höchst irritierend.
  • Die gebräuchlichsten Apps und Plattformen sind Skype und Zoom, auch Jitsi und andere Videokonferenzplattformen werden ausprobiert. Zoom steht zwar aktuell nicht ohne Grund im Verdacht, datenschutzrechtlich zweifelhaft zu sein, setzt sich aber aufgrund der besten erreichbaren Audioqualität mehr und mehr durch. Zoom ermöglicht in der kostenlosen Variante zeitlich unbegrenzte Sitzungen mit zwei Teilnehmer*innen, mit mehr als zwei sind maximal 40 Minuten möglich (was aber durch Einrichten weiterer Sitzungen umgangen werden kann). Die Bezahlvariante ist weder in Bezug auf Dauer noch auf Teilnehmerzahl eingeschränkt und bietet mehr Möglichkeiten, die Audio­einstellungen zu optimieren. Die bereits erwähnte Latenz gibt es bei jeder Plattform und jeder Variante.

Was funktioniert nicht und welche gängigen Probenmethoden scheiden dadurch aus?

Der aus den genannten Faktoren resultierende Knackpunkt: Während der Chor („Chor“ im Sinne von „mehrere Personen singen gleichzeitig“, also auch Stimmgruppen) metrisch oder rhythmisch gebundene Passagen singt, muss die Chorleitung die Teilnehmer*innen (oder die sich selbst) grundsätzlich stumm schalten, bleibt selber aber „auf Sendung“. Diese „Einbahnstraße“ hat einige Nachteile, allerdings auch einzelne Vorteile. Die Hörsituation der Akteure stellt sich konkret wie folgt dar:

  • Die Chormitglieder hören sich im Moment des metrisch oder rhythmisch gebundenen Singens nicht gegenseitig, jede/jeder hört nur sich selbst und das Audiosignal der Chorleitung.
  • Auch die Chorleitung hört im Moment des gemeinsamen oder besser gleichzeitigen Singens keines der Chormitglieder.

Deshalb funktionieren folgende Dinge nicht:

  • Jedes Aufeinanderhören der Teil­neh­mer*innen innerhalb der Stimmgruppe
  • Jedes Abnehmen von Tönen oder Einsatztönen aus anderen Stimmgruppen
  • Jede Arbeit am Chorklang
  • Jede Reaktion der Chorleitung auf das Singen des Chores
  • Jede interaktiv koordinierende Rhythmusübung
  • Am Ende: beinahe jede Kontrolle der Ergebnisse durch die Chorleitung

Diese Liste ist lang und die Defizite sind gravierend. Aber die beiden folgenden Listen sind länger und sie zeigen, dass die Vorteile als Argumente bei weitem ausreichen, um sich den neuen Herausforderungen zu stellen.

Was funktioniert und welche gängigen Probenmethoden sind möglich?

  •  Jede Form von Vormachen und Nachmachen
  • Akustische Führung der Sänger*innen durch das Klavier (Chorleitung oder Assistenz)
  • Akustische Führung der Sänger*innen durch die Stimme der Chorleitung (oder einer Assistenz)
  • Optische Führung der Sänger*innen durch das Dirigieren
  • Gleichzeitige akustische und optische Führung durch Klavier, Stimme und Dirigat
  • Zeigen von Partituren, Stimmen, Texten, Übersetzungen etc. via Bildschirm (in Zoom „Bildschirm teilen“, zum Beispiel auf dem iPad per forScore)
  • Optische Rückmeldungen der Singenden entweder via Gestik oder (besser zu sehen) durch Einblendung des gehobenen Daumens oder der klatschenden Hände (Zoom)
  • Abfrage, wer sich wo sicher bzw. unsicher fühlt und was noch einmal geprobt werden soll
  • Aufzeichnung der Probe für nicht Anwesende und zur Nachbereitung der Chorleitung
  • Die einzige Ausnahme von der generellen Stummschaltung aller Chor­sänger*innen während des Singens: Wenn Akkorde oder Einzeltöne länger ausgehalten werden, kann man die Teilnehmer*innen auch laut schalten, da die zeitliche Versetzung keine störende Rolle spielt – die Tonhöhe wird (fast) immer gleich übertragen.

Welche Probenmethoden sind über die gängigen hinaus möglich?

  • Zeigen von Partituren, Stimmen, Texten, Übersetzungen etc. via Bildschirm – dies steht hier noch einmal, weil es in der realen Probe zu selten eingesetzt wird und in der Online-Probe einfacher ist
  • Aufzeichnung der Probe für nicht Anwesende und zur Nachbereitung der Chorleitung – auch dies steht hier noch einmal, weil es in der realen Probe zu selten eingesetzt wird und in der Online-Probe einfacher ist. Zusätzlicher Vorteil: jemand, der die Probe nachverfolgt, singt nicht zum aufgezeichneten Chorklang sondern muss alleine singen, genau wie die in der Online-Probe Anwesenden.
  • Stärkung der Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung der Singenden
  • Proben von einzelnen Stimmen ohne schweigendes Warten der anderen (niemand stört den anderen, Langeweile wird vermieden)
  • Schweigendes Lernen einzelner Singender, ohne sich vor Nachbarn zu blamieren (man darf auch mal einfach nur zuhören)
  • Das Ausblenden des eigenen Videos schafft einen geschützten Raum, in dem ich mich auch optisch nicht bloßgestellt fühle. Besonders befreiend/entlastend kann dies bei Bewegungen in der Stimmbildung sein.

Welche Inhalte und Arbeitsschritte lassen sich online proben/realisieren?

  • Bei nicht zu großen Gruppen und wenn die Meetingräume vor und nach der eigentlichen Probenzeit „geöffnet“ bleiben: soziale Kontakte, die gerade im Moment sehr fehlen
  • Sämtliche Ansagen/Kommunikation auch mit Rückfragemöglichkeiten (Gespräch im eigentlichen Sinne je nach Gruppengröße schwieriger und zeitraubender als real, aber möglich)
  • Einsingen/warm up mit Standard­übungen, die möglichst wenig Kontrolle bedürfen
  • Solmisationsübungen geführt durch Gesten oder nach Notation, kleinschrittig und von den Singenden selbst kontrollierbar
  • Singen nach Noten/Blattsingübungen, kleinschrittig und von den Singenden selbst kontrollierbar
  • Lied/Werkeinführungen und -vorstellungen
  • Erarbeitung des Notentextes
  • Aufteilung des Chores in Stimmproben (breakoutrooms)
  • Absicherung von Liedern/Werken, Repertoirepflege
  • Kontrolle von einzelnen Tönen in Stimmgruppen, indem sich zum Beispiel alle Tenöre auf einem stehenden Akkord laut schalten

Für Proben mit physischer Anwesenheit wie für Online-Proben gilt eines gleichermaßen: Das Gelingen hängt vor allem vom Können der Leitung ab. So muss man ehrlich feststellen, dass spätestens bei Online-Proben Chorleiter*innen ohne zumindest gute Partiturspielfähigkeiten schnell an ihre, noch lange aber nicht an die technischen Grenzen des Machbaren kommen werden. Das methodische Umdenken, die nötige akribische und technisch perfekte Vorbereitung mögen anstrengend sein – hilfreich und lange über Corona hinaus wirksam sind und bleiben sie aber allemal. Chöre: Seid offen! Chorleiter*innen: Macht euch auf diesen vielfach gewinnbringenden Weg!

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