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Keiner gängigen Strömung zuzu­ordnen: Charles Koechlin (1867–1950)
Keiner gängigen Strömung zuzu­ordnen: Charles Koechlin (1867–1950)
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Kein schneller Konsum, kein bequemes Schlagwort

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Hörhinweise zum 150. Geburtstag des großen Klangzauberers Charles Koechlin
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Wer sich einen Überblick über das ­Koechlin’sche Œuvre verschaffen möchte, ist für so manches symphonische Hauptwerk auf die Segnungen des Internets angewiesen. Dort sticht gerade im Vergleich zu vielen „moderneren“ Tonsetzern ins Auge, wie wenige gefilmte Aufführungen etwa auf YouTube hochgeladen wurden – was die geringe Repräsentation Koechlins im internationalen Musikleben widerspiegelt. Dafür muss es Ursachen geben, die weiter zurückreichen.

Koechlin ernährte sich und seine Familie zeitlebens vom Schreiben; in Frankreich kannte man ihn als erfolg- und einflussreichen Musikschriftsteller und -erzieher, außerdem vertrauten ältere Kollegen wie sein Lehrer Fauré („Pelléas et Mélisande“) oder auch Debussy („Khamma“) auf seine Künste als Orchestrator.

Auf Langspielplatten, die nach seinem Tod 1950 in Umlauf kamen, war er als Komponist stets nur sporadisch vertreten, während das Gesamtwerk des älteren Debussy und des jüngeren Ravel schon gegen Ende der Mono-Ära immer neu aufgenommen wurde – man denke nur an Pianisten wie Casadesus, Gieseking und Haas. Koechlins Werkverzeichnis erreicht ohne qualitative Schwankungen größeren Umfang wie jenes der beiden (allerdings kurzlebigeren) Impressionisten zusammengenommen, nämlich 225 oft vielfach unterteilte Opusnummern. Nicht bloß verweigert sich Koechlins Musik dem schnellen Konsum, auch sein Stil lässt sich auf kein bequemes Schlagwort reduzieren – was er sich auch verbeten hätte.

Von jeher fand er nur vereinzelte Fürsprecher, obwohl er Aufführungen wichtiger Stücke tatkräftig förderte oder zumindest herbeisehnte. Vielleicht lag es daran, dass er (zu) früh systematisch Bi- und Polytonalität einsetzte, wofür sein ähnlich fleißiger Anhänger Milhaud dann die Lorbeeren erntete. Jedenfalls hat Koechlin im Laufe von sechzig Jahren schöpferischer Tätigkeit ein für alle praktizierenden Musiker zweifellos anspruchsvolles, aber wirklich dankbares Repertoire bereitgestellt, das so idiomatisch wirkt, als hätte er alle Instrumente selbst beherrscht oder wäre doch zumindest mit etlichen Virtuosen in regem Austausch gestanden. Dies jedoch traf mitnichten zu: Rein intuitiv fühlte er sich in alle Instrumente, deren Möglichkeiten und Grenzen ein, vor allem aber erfand er ganz neuartige Klangfarben durch die raffinierte Mischung der Timbres verschiedener Klangerzeuger. Diese seltene Fähigkeit mündete in einer posthum erschienenen, mehrbändigen Instrumentationslehre, die immer noch verwendet wird. Nebenbei überwand er mit der mehrjährigen Arbeit daran ein zeitweises Verstummen als Komponist, welches der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei ihm angerichtet hatte.

Schaffensphasen

Wie später Alban Berg beschränkt sich der am 27. November 1867 in Paris Geborene zunächst auf die Komposition von Kunstliedern, deren Klavierpart er später oft zu orchestraler Klangfülle ausweitet. Hinzu treten faszinierende Chorwerke, weil er zunächst nicht glaubt, ohne die Inspiration durch einen dichterischen Vorwurf auszukommen. Erst als Mittvierziger traut sich Koechlin an absolute Musik heran: Es entstehen in rascher Folge rund ein Dutzend Duosonaten für Klavier und diverse Streicher und Bläser. Als hätte er sich hierdurch freigeschrieben, erprobt er ab jetzt immer neue Kombinationen von Spielern, wobei er eine auffallende Vorliebe für die Querflöte und alle Rohrblattinstrumente entwickelt. Manche seiner großen Orchesterwerke verlangen sogar – noch vor Messiaen – Ondes Martenot. Aber auch herkömmlich besetzte Kammermusiken und große Klavierzyklen, allen voran „Les heures persanes“, fließen aus seiner Feder. Nur um die Oper macht er einen Bogen – für einen Franzosen fast unverzeihlich, und das, obwohl er bei Massenet studiert hatte!

Dafür lässt er sich in den Dreißigerjahren vom frühen Tonfilm, insbesondere weiblichen Stars wie Lilian Harvey, Greta Garbo und Marlene Dietrich, zu einer Reihe seiner originellsten Schöpfungen inspirieren („Seven Stars Symphony“). Seine letzten, noch einmal fast explosionsartig fruchtbaren Lebensjahre kennzeichnen zwei gegensätzliche Tendenzen: Vor Ideen nur so strotzende, umfängliche Sammlungen von Monodien für solistische Bläser stehen komplexen polyphonen Orchesterwerken („Offrande musicale sur le nom de BACH“) gegenüber. Ins Repertoire ist davon schon deshalb nichts eingegangen, weil sich Koechlins Schöpfungen spätestens ab 1910 keiner gängigen Strömung mehr zuordnen lassen: Sie lassen die Spätromantik hinter sich, bleiben auch frei von modischen Jazzeinflüssen, pflegen weder einen Im- noch einen Expressionismus, eifern keinem neobarocken oder neoklassischen Ideal nach, sind aber erst recht nicht atonal oder gar zwölftönig konzipiert. Nein – Koechlins Musik pfeift, wie ihr Schöpfer, auf Ismen und Dogmen und beharrt auf ihrer Freiheit und Einzigartigkeit. Wie echte Poesie bewahrt sie ihr Geheimnis: Wir müssen sie nicht vollkommen verstehen, um sie zu genießen.

CD-Produktionen

SWR Classic ist das einzige Plattenlabel, welches auf das Jubiläum in größerem Umfang reagiert hat – und dies auch konnte, weil sich der Sender seit langem für Koechlin einsetzt. Die Edition enthält nicht bloß alle zuvor auf Hänssler vorgelegten, inzwischen teils vergriffenen Einzel-CDs, es wurden auch noch einige Sonaten aus dem SWR-Archiv ausgegraben. Trotzdem wirken beide Boxen bei näherem Hinsehen seltsam fragmentarisch: Bei den durchgehend von Heinz Holliger dirigierten Orchesterwerken, darunter sogar eine mit wichtigen Orchestrationen von Werken anderer, fehlen bloß zwei kürzere Stücke, die den abendfüllenden Zyklus der von Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ inspirierten Kompositionen vollendet hätten, von den drei Symphonien ganz zu schweigen; und bei Michael Korsticks Engagement fürs Klavierwerk vermisse ich die im Beiheft zur dritten Folge angekündigte vierte und abschließende. Hier scheinen dem SWR in der Zielgerade seines Koechlin-Projekts die finanziellen Mittel ausgegangen zu sein. Trotzdem ist die auch preislich ansprechende Edition wegen ihres Repertoirewerts, der Höhe der Interpretationen und aufgrund der reichen Begleitmaterialien unverzichtbar. Zur Abrundung und Ergänzung oder zum Einstieg kann ich auch die übrigen Titel neueren Datums wärms­tens empfehlen.

Diskografie

  • Edition Charles Koechlin: Orchesterwerke und Vokalmusik. Juliane Banse, Sopran; SWR Vokalensemble Stuttgart; Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Heinz Holliger. SWR Classic (7 CDs)
  • Edition Charles Koechlin: Kammermusik und Klavierwerke. u.a. Tatjana Ruhland, Flöte; Dirk Altmann, Klarinette; Peter Bruns, Violoncello; Yaara Tal, Florian Henschel, Michael Korstick, Klavier. SWR Classic (7 CDs) Kammermusik für Oboe. Stefan Schilli, Oboe; Oliver Triendl, Klavier u.v.a. OehmsClassics
  • Sämtliche Werke für Saxophon. u.a. David Brutti, Sopran, Alt- und Tenorsaxophon. Brilliant Classics (3 CDs) Chœurs et mélodies. Anaïk Morel, Mezzosopran; Julien Behr, Tenor; Nicholas Jouve, Klavier; Frauenchor Calliope – Régine Théodoresco. Timpani

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