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Adaptionen von Reggae – oft kritisiert als kulturelle Aneignung. Foto: Helmut Bär
Adaptionen von Reggae – oft kritisiert als kulturelle Aneignung. Foto: Helmut Bär
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Kulturelle Aneignung, Musik und Unterricht

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Zur Diskussion aus musikpädagogischer Sicht · Von Tobias Hömberg
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Die künstlerische Adaption vieler nicht-westlicher Musiken steht heute als sogenannte kulturelle Aneignung in der Kritik. Doch auch deren aktives Praktizieren in Schule, Musikschule und Musikvermittlung kann damit in Frage gestellt werden. Die Musikpädagogik muss dazu Einsichten gewinnen, Argumente prüfen und Haltungen finden.

Im zurückliegenden Jahr 2022 erregten zahlreiche medial geführte Debatten um Zensur und vermeintliche ‚Cancel Culture‘ die Öffentlichkeit. Meist ging es um künstlerische Artefakte: Bilder und Filme wurden aufgrund antisemitischer und antiisraelischer Motive von der Documenta 15 entfernt, Winnetou-Bücher wegen klischeehafter und rassistischer Darstellungen aus dem Programm des Ravensburger-Verlags genommen.

Besonders kontroverse Diskussionen lösten erneut Vorwürfe kultureller Aneignung aus. Sie gründen in der Auffassung, die Übernahme kultureller Praxen und Ausdrucksformen stelle eine fortgesetzte Unterdrückung kolonial unterworfener Kulturen durch Angehörige dominanter, westlicher Kulturen dar. Im deutschsprachigen Raum trafen solche Vorwürfe speziell Musiker*innen: Die deutsche Songwriterin Ronja Maltzahn wurde wegen ihrer Dreadlocks von einer Demonstration der Bewegung Fridays for Future ausgeladen. Als Weißer Person[i] wurde ihr vorgehalten, mit der Frisur ein Symbol unterdrückter People of Color zu entwerten. Ähnlich erging es dem österreichischen Gitarristen Mario Parizek, dessen Konzert in einer Zürcher Bar abgesagt wurde. Auch er trägt Rastalocken, was von den Betreiber­*­innen als Ausdruck kultureller Aneignung interpretiert wurde.[ii] Seine Musik indes stand nicht zur Diskussion. Anders im Fall der Schweizer Band Lauwarm: Die Gruppe musste ihren Auftritt in einer Berner Brasserie abbrechen, da Besucher*innen angaben, sich unwohl zu fühlen. Als Grund brachten sie vor, dass die Band jamaikanischen Reggae spielte, versehen mit schwyzerdütsch-mundartlichen Texten.[iii]

Durch Pressemeldungen kolportiert, führten die Stellungnahmen der Beteilig­ten zu Auseinandersetzungen, die vor allem in sozialen Netzwerken ausgetragen wurden und sich dort zu sogenannten Shit Storms aufbauschten. Könnte solche Kritik auch einen schulischen oder außerschulischen Musikunterricht treffen, in dem Schüler*innen sich ein Repertoire verschiedener Musiken aneignen oder verschiedene kulturelle Praxen erproben?

Künstlerische Aneignung von Musiken

Wie die Beispiele zeigen, meint kulturelle Aneignung nicht vorrangig die reale Entwendung materieller Güter, sondern vor allem die Vereinnahmung immaterieller Werte. In einer verbreiteten Definition von Cultural Appropriation nennt die US-amerikanische Juristin Susan Scafidi neben Wissensbeständen explizit den Gebrauch kultureller Ausdrucksformen und Artefakte – darunter zuerst Tanz und Musik, aber auch das äußere Erscheinungsbild: „Taking intellectual property, traditional knowledge, cultural expressions, or artifacts from someone else’s culture with­out permission. […] This can include unauthorized use of another culture’s dance, dress, music, language, folklore, cuisine, traditional medicine, religious symbols, etc.“[iv] Entscheidender Umstand ist demnach die fehlende Autorisierung durch Angehörige der Ursprungskultur. Die Aneignung wirke sich vor allem dann schädigend aus, wenn es sich um eine ohnehin unterdrückte und ausgebeutete kulturelle Gemeinschaft handle: „It’s most likely to be harmful when the source community is a minority group that has been oppressed or exploited in other ways“[v]. In einer Haltung fortgesetzter Überlegenheit über unterworfene Subkulturen, so Scafidi in ihrer Schrift „Who Owns Culture“, würden Mitglieder öffentlicher Mehrheitsgesellschaften sich selten mit der Anerkennung kultureller Errungenschaften begnügen: „Instead, members of the public copy and transform cultural products to suit their own tastes, express their own creative individuality, or simply make a profit“[vi]. Ein wesentlicher Antrieb für die Übernahme kultureller Elemente mag demnach Eigennutz sein, wenn es um die Befriedigung privaten Geschmacks, um kreativen Selbstausdruck oder schlicht um persönlichen Profit geht.

Im Sinne Scafidis wird Kritik an kultureller Aneignung im internationalen Musikbusiness bereits seit einigen Jahren laut. Auch hier beziehen sich zahlreiche Anschuldigungen auf das Styling von Künstler*innen mit tradierten Frisuren und Kleidungen, rituellen Tattoos oder anderen kulturellen Symbolen. Deutlich länger reichen Vorwürfe zurück, die die künstlerische Adaption von Musiken betreffen. In den populären Stilistiken wird etwa Elvis Presley, Eric Clapton und den Rolling Stones angelastet, durch ihre Aneignungen des Blues und des Rock’n’Roll eine ökonomische Ausbeutung musikalischer Kulturen betrieben zu haben bzw. zu betreiben, die auf Kosten der Schwarzen Urheber‘innen geht: „Whitemen stole the Blues“, so die pointierte Anklage. Ähnliches gilt für Weiße Jazzkünstler wie Frank Sinatra oder den reggaeaffinen Bassisten Sting. Auch Weiße Hip-Hopper wie Eminem werden heute bisweilen bezichtigt, von der Musik einer Schwarzen Subkultur zu profitieren, die nicht ihre ureigene sei.

Bei Kunstmusik hebt Kritik an kultureller Aneignung weniger auf die kommerzielle Verwertung angeeigneter Stile ab, sondern vielmehr auf die kreative Verarbeitung traditioneller musikalischer Elemente. Sie richtet sich im historischen Rückblick auf Claude Debussys Anleihen bei javanischer Gamelan-Musik ebenso wie auf Steve Reichs Aufgreifen ghanaischer Polyrhythmik in den Inherent Patterns seiner Minimal Music. In der Gegenwart setzt sich jede musikalische Bricolage oder Performance, die sich musikkultureller Versatzstücke bedient, potenziell dem Verdacht kultureller Aneignung aus: Jedes Verfahren, mit dem eine Musik aus ihrem kulturellen Zusammenhang gelöst und in neue Beziehungen gesetzt wird, kann als Aneignungsakt kritisiert werden – sofern sie einer (post-)kolonial unterdrückten Kultur entstammt. Paradigmatisch für dieses Verständnis ist eine andere Definition kultureller Aneignung, formuliert von der deutschen Autorin und Künstlerin Noah Sow: Es handle sich um den „Vorgang der einseitigen ‚Übernahme‘ von Kulturfragmenten und ‑elementen durch Angehörige einer Dominanzkultur, wodurch ursprüngliche Bedeutungsgebungen, Symbolgehalte und inhaltliche Bezugnahmen der vereinnahm­ten/annektierten Kultur verflacht, verfälscht oder verzerrt werden, was bis zu kulturellen und als ‚eigen‘ deklarierten Neuschreibungen (in Weißen/westlichen Kontexten) führen kann.“[vii] Klingende Zitate, Samples, Stilmischungen, musikalisches Crossover bedeuten Sow zufolge dann womöglich eine unzulässige Sinnentstellung und Profanisierung. Neben einer ökonomischen Ausbeutung besteht demnach eine ideelle, wenn Musiken außerhalb ihrer Ursprungskulturen gebraucht und ihre Symbolfunktionen dadurch abgewertet werden mögen.

Vorwürfe kultureller Aneignung stützen sich somit auf vielfältige und verschiedenartige Argumente, die sich gegen eine Vielzahl musikalischer Adaptionen wenden können. Grundlage aller Anschuldigungen ist das Machtgefälle, das zwischen den beteiligten Kulturen besteht. Weiter wird deutlich, dass derartige Kritik unabhängig von der jeweiligen Intention geübt werden mag: Ob die Absicht darin besteht, Profit und Popularität zu mehren, einer (Musik-)Kultur Tribut zu zollen oder ihr kreative Inspiration abzugewinnen, gilt offenbar als nachrangig. Aus alledem folgt, dass auch die musikpädagogische Verwendung vieler Musiken in Deutschland und Europa vor einer solchen Kritik keineswegs gefeit ist.

Musiken der Welt im Unterricht

Seit gut vier Jahrzehnten hat sich die schulische Musikpädagogik für vielfältige Musiken der Welt geöffnet. Neben die ‚klassische‘ europäisch-westliche Kunstmusik sind im Musikunterricht vor allem Stile der Rock- und Popmusik getreten, ebenso folkloristische wie auch artifizielle Musiken aus unterschiedlichen Regionen und Kontinenten. Die Betrachtung der Entstehung, Entwicklung und Durchmischung von Musikkulturen und musikalischen Praxen bietet heute zahlreiche interessante Unterrichtsthemen. Speziell das Singen, Spielen, Tanzen von und zu verschiedensten Musiken aber verspricht für Schüler*innen bereichernde Erfahrungen und soll zum Erwerb musikalischer Fähigkeiten sowie interkultureller Kompetenz beitragen. Auch die außerschulische Musikpädagogik erweitert angesichts musikalischer Globalisierung und gesellschaftlicher kultureller Diversität ihren Fokus: Musikschulen etablieren neue Fächer wie Bağlama oder Capoeira und ini­tiieren transkulturelle Ensembles, Musikvermittler*innen und Community Musicians beziehen ein teils weites Spektrum an Musiken in ihre Projekte ein. Die Kritik an kultureller Aneignung betrifft damit ein wesentliches musikpädagogisches Handlungsfeld, nämlich das aktive Praktizieren vielfältiger Musiken.

Viele der in Rede stehenden musikalischen Praxen gehören heute gewissermaßen zum Kanon schulischer Unterrichtsgestaltung sowie Ensemblearbeit und prägen ebenso außerschulische Lern- und Freizeitangebote: sei es Gospelgesang, Bluesimprovisation, Sambatrommeln oder Klezmertanz. Auch hier können Reggae-Tunes mit ihrem charakteristischen Feeling ein attraktiver Sound auf der Schulbühne wie im Bandraum sein. Um verschiedene Musiken mit ihrem sozialen Kontext erfahrbar zu machen, wird im Unterricht unter anderem auf das Konzept der Szenischen Interpretation von Musik zurückgegriffen. Das Musizieren oder Tanzen ist hier eingebettet in thematische Spielszenen, bei denen Schüler*innen in exemplarischen Rollen agieren.

Die Ziele einer interkulturell orientierten Musikpädagogik bewegen sich zwischen der Erschließung von Musikkulturen, der Entwicklung von Toleranz und Respekt und dem Abbau von Diskriminierung. Durch die intensive Beschäftigung mit vielfältigen Musiken sollen Vorbehalte verringert und Qualitäten musikalischer Diversität wertgeschätzt werden. Grenzen von als eigen oder fremd empfundenen Musiken werden, so das pädagogische Anliegen, dabei durchlässig. In einem aktuellen Handbuch für die schulische Musikdidaktik heißt es: „Unterschiedliche musikalische Praxen sollen erfahren, reflektiert und als Angebote verstanden werden, sie zur Bereicherung der eigenen musikalischen Praxis anzueignen.“[viii]

Steht jedoch mit der oben wiedergegebenen Definition Scafidis zur Cultural Appropriation womöglich schon die lernende Aneignung von Wissen über musikalische Praxen in Frage, mag deren Aneignung zur persönlichen Lebensgestaltung in besonderem Maße als problematisch gelten. Selbst wenn der Versuch unternommen wird, etwa durch szenisches Spiel die kulturellen Ursprünge und Zusammenhänge von Musiken erfahrbar zu machen, dürfte das Praktizieren von Musiken in ihren genuinen Kontexten damit keineswegs eingeholt werden. Vielmehr geht mit dem Musizieren oft vereinfachter Arrangements im Unterricht oder in Projekten eine Transformation einher, die mit der Definition von Sow – ungeachtet der jeweiligen pädagogischen Absicht – als ästhetisch und symbolisch entstellend kritisiert werden könnte.

Die Kritik an kultureller Aneignung von Musiken basiert wesentlich auf einer ungleichen Verteilung von Privilegien und Macht zwischen Musiker­*­innen westlicher und nicht-westlicher Kulturen. Unstrittig dürfte sein, dass diese ebenso zwischen Musiklehrenden bzw. -lernenden in Europa und Angehörigen vieler Kulturen aus anderen Regionen der Welt besteht. Das Bewusstsein für solche Ungleichheitsverhältnisse und deren Problematisierung verbreitet sich – ausgehend speziell von den angelsächsischen Postcolonial und Cultural Studies – seit einigen Jahren zusehends an europäischen Universitäten. Wie deutsche Hochschullehrende erleben und berichten, zeigt sich nunmehr auch bei Studierenden der Musikpädagogik eine verstärkte Achtsamkeit, aber ebenso Unsicherheit, wenn es um die Auswahl von Musiken für den Unterricht geht. Die Selbstverständlichkeit, mit der viele Musiken der Welt in Schule oder Musikschule praktiziert werden, wird zunehmend in Frage gestellt.

Damit ist die Diskussion um kulturelle Aneignung von Musiken nicht allein Angelegenheit praktischer musikpädagogischer (wie künstlerischer) Tätigkeiten, sondern fordert zur eingehenden theoretischen Auseinandersetzung innerhalb des Fachs auf.

Musikpädagogische Argumente und Haltungen

In einem aktuellen, ausführlichen Grundlagenbeitrag zu kultureller Aneignung wird versucht, aus musikpädagogischer Sicht denkbare Argumente und Haltungen zum Thema zu skizzieren.9[ix] Auf dialektische Weise werden dabei fünf teils kontroverse, teils kompatible Optionen vorgeschlagen. Die ersten beiden betreffen die Erörterung von Konzepten, die der Kritik an kultureller Aneignung von Musiken zugrunde liegen: Sie zielen auf (1) Dekonstruktion des Kulturkonzepts sowie (2) Hinterfragung des Musikkonzepts. (3) Postkoloniale Selbstkritik besteht demgegenüber in einer kritischen Reflexion der eigenen Position. Eine (4) Differenzierung des Aneignungsbegriffs sowie (5) Sensibilität und Rücksichtnahme im Umgang mit Musiken verschiedener Kulturen sind vermittelnde Argumentationen und Verhaltensweisen zwischen Kritik an kultureller Aneignung und Zielen interkulturell orientierter Musikpädagogik.

Das Kulturkonzept, auf dem alle Vorwürfe kultureller Aneignung beruhen, zeichnet sich bereits im Begriff selbst ab: Kulturen werden – Körperschaften im rechtlichen Sinne vergleichbar – als Eigentümerinnen kultureller Wissensbestände, Ausdrucksformen, Artefakte und Symbole aufgefasst. Die Regelung kultureller Besitzverhältnisse erfordert klar abgrenzbare Kulturen und eindeutige Mitgliedschaften. Sie werden nach dieser Vorstellung speziell durch geografische sowie gesellschaftliche Herkunft erworben: Als Ausweis gelten vermeintlich essenzielle biologische und soziale Merkmale wie Hautfarbe und Sprache. Kultur wird hier weitgehend mit Ethnie gleichgesetzt. So dekonstruiert, wird sichtbar, dass dieses Kulturkonzept dazu tendiert, starre rassis­tische Stereotype aufrechtzuerhalten. Die interkulturell orientierte Musikpädagogik dagegen konzipiert Kulturen in einer globalisierten Welt als dynamisch und durchlässig. Mitglieder von Kulturen vereint dann, dass sie kulturelle Wissensordnungen und Praxen teilen, die in gewissem Maße wählbar sind. Damit öffnen sich Wege zu individueller kultureller Verortung.

Auch das Musikkonzept, mit dem die Aneignung musikalischer Praxen kritisiert wird, kann argumentativ hinterfragt werden. Wie in Vergangenheit und Gegenwart belegt, sind Musiken in kontinuierlicher Entwicklung begriffen. Der durch die Kritik implizierte Gedanke von Urheberschaft und Authentizität mag damit als irreführend verworfen werden. Gerade populäre Genres gingen aus vielfältigen, teils wechselseitigen Verschmelzungen hervor: Jamaikanischer Reggae wurzelt in afroamerikanischem Blues und Jazz. Dessen Ausprägungen von Swing über Latin bis zu Free Jazz wiederum sind selbst Ergebnis stilistischer Fusionen, auch zwischen ehemals Weißen und Schwarzen Musiken. Hip-Hop ist – mitsamt dem aus Reggae erwachsenen Rap – heute weltweit und vielsprachig adaptiertes Ausdrucksmittel in Subkulturen wie Mainstream. Auch für Kunstmusiken kann beansprucht werden, dass stil- und kulturübergreifende Anleihen für kreative Innovationen unverzichtbar sind. Die von Sow problematisierten Neuschreibungen durch Aneignung sind dann vielmehr notwendig, um Musikkulturen aktuell und damit lebendig zu halten. Die Musikpädagogik folgt dieser Ansicht, wenn sie Menschen darin bestärkt, sich frei von ihrer Herkunft vielfältige Musiken zu eigen zu machen.

Eine deutlich andere Perspektive eröffnet sich, wenn die Diskussion um kulturelle Aneignung zu einer postkolonialen Selbstkritik anregt. Im Verständnis postkolonialer Theorien gilt es dabei, die verinnerlichte hegemoniale Einstellung Weißer, westlicher Gesellschaften gegenüber vielen Regionen und Kulturen der Welt zu reflektieren und zu verändern. Der selbstverständliche Gebrauch verschiedenster Musiken wird als Sinnbild für eine materielle Ausbeutung betrachtet, die ehemals kolonisierte Ethnien und Nationen, aber auch benachteiligte Musiker*innen real erfahren haben. Wenn Musikpädagog*innen und ihre Schüler*innen sich im aktiven Musizieren bedenkenlos beliebiger Musikkulturen bedienen, bleibt eine Mentalität der Überlegenheit und kulturellen Dominanz unterstellbar. Selbst bei größtem Respekt vor musikkulturellen Errungenschaften sind deutsche und europäische Pädagog*innen wie Musiker*innen unlösbar in postkoloniale Machtverhältnisse verstrickt. Mit dem Bewusstsein für die eigene privilegierte Position und deren Hintergründe kann das Praktizieren mancher Musiken der Welt fraglich werden.

Um zwischen der postkolonial begründeten Kritik und musikpädagogischen Zielen zu vermitteln, besteht die Möglichkeit, den Aneignungsbegriff aus pädagogischer Sicht zu differenzieren. Das große Bedeutungsspektrum, das sich in Vorwürfen des Diebstahls, der Ausbeutung, Verzerrung oder Entwertung artikuliert und in den Definitionen von Scafidi und Sow anklingt, scheint nicht zuletzt sprachlich begründet. In der deutschen Übersetzung von Appropriation als Aneignung deckt der Begriff sich vor allem missverständlich mit dem gängigsten Synonym von Lernen. Durch begriffliche Differenzierung könnten sich ästhetische Bildung, der Erwerb von musikalischen Fähigkeiten oder interkultureller Kompetenz im Umgang mit verschiedenen Musiken womöglich der Kritik an kultureller Aneignung ein Stück weit entziehen.

Wenn nun Musiken wie Reggae, Blues oder Hip-Hop auch künftig im Unterricht wie auf der Bühne gesungen, gespielt oder getanzt werden mögen, scheint zumindest eine Haltung verstärk­ter Sensibilität und Rücksichtnahme kaum verzichtbar. Mit einem durchlässigen Kulturkonzept ist diese Haltung allerdings nicht nur gegenüber den womöglich unterdrückten Ursprungskulturen geboten, sondern gegenüber allen Menschen, die sich heute mit ihnen identifizieren. In pädagogischen Zusammenhängen können dies nicht zuletzt Schüler*innen sein, die in einer bestimmten Kultur sozialisiert worden sind oder vielleicht einer spezifischen Jugend- bzw. Subkultur und ihrer Musik anhängen: beispielsweise Reggae. Für Lehrende heißt das, zunächst in Erfahrung zu bringen, welche Beziehung die Mitglieder einer Klasse zu dieser Musik haben. Nach dem Eintauchen in den kulturellen Kontext der Rastafari auf Jamaika, ihrer Geschichte britischer Versklavung und Kolonialisierung kann die Gruppe sich darauf verständigen, traditionellen Roots-Reggae selbst zu spielen – oder bewusst dagegen entscheiden. Doch auch Künstler*innen kommen schwer umhin, sich immer aufs Neue in ihr Publikum einzufühlen: Für Reggae wie für andere Musiken gilt dann, ein ums andere Mal auszuhandeln, welche Musik an welchem Ort gemeinsam praktiziert und gelebt werden soll.


Anmerkungen


[i] In diesem Beitrag werden die Attribute ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ groß geschrieben, um ihre Funktion konstruierender Zuschreibungen zu verdeutlichen. Die Schreibweisen folgen Empfehlungen zu einer diskriminierungssensiblen Sprache. Vgl. https://www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-s….

[iv] Susan Scafidi, zitiert nach Katie J. M. Baker: A Much-Needed Primer on Cultural Appropriation. In: Jezebel, 13.11.2012. Verfügbar unter www.jezebel.com/a-muchneeded-primer-on-cultural-appropriation-30768539 (zuletzt aufgerufen am 01.11.2022).

[v] Ebd.

[vi] Susan Scafidi: Who Owns Culture? Appropriation and Authenticity in American Law. New Brunswick 2005: Rutgers University Press, S. 9.

[vii] Noah Sow: Kulturelle Aneignung. In: Susan Arndt & Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster 2015: Unrast, S. 417.

[viii] Dorothee Barth & Wolfgang Martin Stroh: Musik(en) der Welt im Musikunterricht. In: Werner Jank (Hg.), Musik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 9., komplett überarbeitete Auflage. Berlin 2021: Cornelsen, S. 196.

[ix] Tobias Hömberg: Interkulturelles Musizieren als kulturelle Aneignung? Musikpädagogische Argumentationen zur Kritik an Cultural Appropriation. In: Heike Henning & Kai Koch (Hg.), Vielfalt. Musikgeragogik und interkulturelles Musizieren. Münster 2022: Waxmann, S. 181–205. Verfügbar unter www.waxmann.com/buch4475.– Für weitere Grundlagen, detaillierte Ausführungen der Argumentationen sowie Quellen siehe dort.

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