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Titelseite der nmz 2020/12-2021/01
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Kunst und Kultur – ein Sonderfall ?

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Historisch begründete Gedanken zur aktuellen Situation · Von Moritz Eggert
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In diesen verrückten Zeiten, die in einem bisher nicht gekannten Maße von Verschwörungsglauben und Hys­terie geprägt sind, muss man sich ab und zu mal kneifen und wie ein Mantra wiederholen: Erstens: Es ist nicht die erste Pandemie in der Weltgeschichte, und zweitens: Es ist nicht das erste Mal, dass man Quarantänen wie die jetzigen benutzt, um diese einzudämmen.

Tatsächlich ähneln die momentanen weltweiten Maßnahmen sehr denen vergangener Pandemien, und zwar deswegen, weil man aus den Erfolgen gegen diese Pandemien gelernt hat. Zu Zeiten der sogenannten „Spanischen Grippe“ Anfang des letzten Jahrhunderts gab es weltweit ebenfalls Sperrstunden, Schließungen von Theatern und Konzertsälen sowie ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen die Infektionsgefahr erhöhen. Es gab Maskenpflichten oder dringende Empfehlungen, Masken zu tragen und man verlegte notwendige Versammlungen und sogar Gerichtsverhandlungen nach draußen. Und auch damals gab es Aufschreie, Verharmlosungen, wilde Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien sowie dringende Appelle der Unterhaltungsindustrie, doch bitte Kinos, Tanzpaläste (die damaligen „Clubs“) und Theater beziehungsweise Konzertsäle offen zu lassen. Ein interessantes Beispiel ist daher die Stadt New York, die direkt vor der Spanischen Grippe eine Tuberkulose-Epidemie erlebt hatte und daher sehr schnell und entschieden reagierte. New York konnte mit sehr früh einsetzenden Quarantänemaßnahmen verhindern, dass die Todeszahlen wie in anderen amerikanischen Städten in die Höhe stiegen, allerdings hagelte es während der gesamten Zeit an Kritik, man möge doch bitte alles wieder öffnen. Im Rückblick kann man sagen, dass der Bürgermeister von New York umsichtig und weise gehandelt hat, nicht auf alle diese Forderungen einzugehen, denn er rettete unzählige Leben damit.

Um das Ganze in eine Perspektive zu bringen: Damals starben 452 Menschen pro 100.000 Einwohner in New York an der Spanischen Grippe in einem Zeitraum von 6 Monaten, heute sind es 287 pro 100.000 Einwohner, die bisher im selben Zeitraum an Covid-19 starben (Stand 15.11.2020). Auch wenn immer wieder behauptet wird, dass Corona wesentlich ungefährlicher sei als die Spanische Grippe, so unähnlich sind sich die Pandemien angesichts dieser Zahlen nicht, vor allem nicht in ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Die Kulturförderung von staatlicher Seite war wesentlich weniger umfassend als sie es heute ist, am allerwenigsten in den USA. Aber auch in Europa gab es im Vergleich zu heute fast keine Stipendien, Fördergelder oder städtische Kulturtöpfe, als die Spanische Grippe wütete. Man hätte also damals wesentlich begründeter als heute die Behauptung aufstellen können, dass nun ein Kahlschlag der Kultur, ja gar deren Abschaffung drohte. Das Gegenteil war der Fall – mit dem Aufatmen nach der doppelten Katastrophe des Ersten Weltkriegs und der Spanischen Grippe begannen die bis heute legendären „Goldenen Zwanziger“, eine Zeit unglaublicher Kreativität vor allem in den Künsten, die bis heute ausstrahlt und Staunen macht. Kulturverbot oder -vernichtung fand also definitiv nicht statt, obwohl die Theater genau wie heute zeitweise schließen mussten und KünstlerInnen hungerten und sehr schwierige Zeiten erlebten. Letzteres gilt es heute zu verhindern, und wir haben auch die Mittel dazu, die jetzt möglichst gerecht verteilt werden müssen.

„Jede Zeit muss sich selbst erlösen, weil sie an sich allein nur leidet“ schrieb Kurt Schwitters weise im Jahre 1926, und selbstverständlich müssen sich alle Vergleiche an veränderten Realitäten messen. Aber der Blick in die Vergangenheit macht auch Hoffnung darauf, dass sich ein Großteil der momentanen Panik im Rückblick als übertrieben erweisen wird, denn die Kultur ist wesentlich überlebensfähiger und gar nicht so jämmerlich schwach und von staatlicher Gnade abhängig, wie wir sie momentan darstellen.

Wenn es darum geht, die momentan dringend notwendigen Hilfsmaßnahmen zum Beispiel für freischaffende Musiker*innen zu diskutieren, kommt es tatsächlich darauf an, dass man in der Argumentation vernünftig und vor allem genau bleibt. Leider ist dem nicht immer so – sehr oft geraten diejenigen, die momentan unzählige Aufrufe zur Rettung von Kultur in die Welt setzen, in eine Art vorauseilende Defensivhaltung. So argumentiert ein Till Brönner in seinem vielfach geteilten Video einerseits durchaus richtig, dass nicht nur Musiker*innen von der Krise betroffen sind, sondern auch die Menschen, die generell in der Musikbranche arbeiten, also zum Beispiel Veranstalter, Tonmeister und Roadies. Aber gleichzeitig benutzt auch er wie viele andere Klischees wie das vom Land der „Dichter und Denker“, um die Kunst als etwas Übergeordnetes, besonders Wichtiges und besonders Förderungswürdiges zu definieren. Andere Mahner wiederum sind beleidigt, dass Kultur in Aufzählungen als „Freizeit“ bezeichnet und gemeinsam mit Bordellen und Fitnessstudios aufgelistet wird.

Natürlich sind wir uns alle einig: Kultur IST förderungswürdig. Das kann man jederzeit unterschreiben. Aber ist Kultur etwas von der Gesellschaft Abgetrenntes, das man besonders ehrfürchtig behandeln und von den „Niederungen“ des alltäglichen Lebens absetzen muss? Ist Kunst nicht im Gegenteil erst dann besonders stark, wenn das Leben nicht nur in ihr vorkommt, sondern sie sich mitten darin befindet, nicht etwa nur in dezidierten Festivals, Museen und Akademien, sondern auch im Alltag?

Wir sind in diesem Land schon so lange daran gewöhnt, dass Kunst als etwas „Besonderes“ gefördert wird, dass eine Art Betriebsblindheit eingesetzt hat, die meint, dass Kunst mit dem normalen Leben nichts zu tun hat. Vieles von dem, was wir heute aus vergangenen Epochen im Museum bewundern, war aber genau dies: Teil des Alltags. Bachs großartige Musik begriff sich keineswegs allein als abgehobene Spezialmusik für Kenner, sie war Teil einer Lebenswirklichkeit, die jeder und jedem zugänglich war, der eine Kirche betrat – damals die Orte, an denen das öffentliche Leben zum größten Teil stattfand.

Wer sich also heute über eine Aufzählung gemeinsam mit Fitnessstudios mokiert, sollte sich bewusst machen, dass ein Großteil der wunderbaren Kunst des antiken Griechenlands zum Beispiel sich ganz besonders der Schönheit und ja, auch der Fitness des menschlichen Körpers widmete. Die größten Dichter der Antike besangen in wunderbaren Oden Olympioniken und deren Erfolge, verewigten schöne menschliche Körper in zahllosen Statuen, über deren Raffinesse wir heute noch staunen. Eine Sappho hätte sich sehr darüber gewundert, dass die älteren grauhaarigen Herren zum Beispiel einer Bayerischen Akademie der Schönen Künste das Gefühl haben, sie müssten sich von Fitnessstudios distanzieren, stattdessen hätte sie in diesen Studios Motive für ihre geniale Dichtung gefunden.

Ebenso Bordelle: Man muss sexuelle Ausbeutung und kriminellen Menschenhandel kritisch sehen, aber gibt es nicht auch selbstbewusste und eigenständige Sexarbeiter*innen, die man nicht in denselben Topf werfen darf und um deren Gesellschaft man sich nicht schämen muss? Und was die Kunst angeht: Ohne Bordelle hätte Toulouse-Lautrec nicht seine großartigsten Modelle gefunden, hätte Baudelaire nichts über die Menschen zu erzählen gehabt, hätten Henry Miller und Charles Bukowski nicht die skurrilen Typen gefunden, die sie in ihren Romanen schildern. Und Scott Joplin hätte den Ragtime nicht zu einem his­torisch einflussreichen, den Jazz prägenden musikalischen Stil entwickeln können, wenn er ihn nicht täglich in Bordellen gespielt hätte. Ohne Bordelle kein Jazz und kein Till Brönner. Und wahrscheinlich tragen Bordelle auch heute noch mehr zu großer Kunst bei  als die akademisch trockenen Jahrbücher der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Es ist daher schwierig, die Kultur gesondert zu betrachten, wenn sie aus allem schöpft und mit allem zusammenhängt. Was ist eigentlich Kultur? Wo beginnt, wo endet sie? Wenn ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Opernbesuch fahre, ist nicht auch die Busfahrerin essenzieller Teil dieses Erlebnisses? Und wenn ich mit meinen Freunden nach der Vorstellung ein Restaurant besuche und bei einem guten Glas Wein über die Vorzüge der gesehenen Inszenierung diskutiere, sind dann nicht ebendieses Restaurant, der Kellner und die Garderobenhilfen auch Teil der Kulturerfahrung? Zusammen mit den Platzanweisern, Bühnenarbeiterinnen und Catering-Angestellten des Opernhauses? Man wird Shakespeare nicht mit seinem Theaterpersonal verwechseln, aber eben dieses Personal hielt seinen Laden auch am Laufen, brachte seine Kunst unter die Menschen.

Wir machen uns schwach, wenn wir uns mit Argumenten auf einen Sockel stellen, der mit diesen Menschen nichts zu tun haben will. Ganz im Gegenteil: Wir sind MITTEN im Leben, wir sind Bestandteil auch von Freizeit, Erlebnis und Abendunterhaltung, und davor sollten wir uns nicht fürchten, nein, wir sollten stolz darauf sein und wie selbstverständlich unsere Stimme erheben, ohne uns erst legitimieren zu müssen. Gerade weil wir wichtiger Bestandteil des öffentlichen Lebens sind, sollten wir gemeinsam mit diesem öffentlichen Leben zusammenstehen. Wenn wir nicht als „Extrawurst“ bezeichnet werden wollen, sollten wir nicht ständig betonen, wie „extra“ wir sind. Dann müssen wir auch nach der Corona-Krise nicht demütig um kulturerhaltende Almosen betteln, sondern können diese mit einer großen Selbstverständlichkeit fordern, wie andere Freiberufler auch.

Und darauf wird es ganz sicher ankommen.


Die auf Seite 1 genannte Todeszahl von 287 pro 100.000 Einwohner, die bisher im selben Zeitraum an Covid-19 starben (Stand 15.11.2020) errechnet sich auf der Basis von 24.124 Toten auf 8.399.000 Einwohner, bezogen aus folgenden Quellen: www.nationalgeographic.com/history/2020/03/how-cities-flattened-curve-1… und www.bbc.com/news/in-pictures-

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