Hauptbild
Für seine Sache entflammter Komponist und Wissenschaftler: Robert Simpson (1921–1997). Foto: Tom Ang
Für seine Sache entflammter Komponist und Wissenschaftler: Robert Simpson (1921–1997). Foto: Tom Ang
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Leidenschaftlicher symphonischer Architekt

Untertitel
Zum 100. Geburtstag des Komponisten und Musikvermittlers Robert Simpson
Publikationsdatum
Body

Zu einer Zeit, als der kreative Krieg der 1920er-Jahre zwischen Avantgarde und Tradition zu einem Kalten Krieg der Ideologen erstarrt war, taten sich jene Komponisten bei den öffentlichen Meinungsbildnern schwer, die sich nicht klar abgrenzten von überlieferten Werten. Noch in seinem letzten Lebensjahr sagte mir Günter Bialas, nichts sei gefährlicher als „der Beifall von der falschen Seite“. (Interessant ist hier natürlich auch der aktuelle politische Bezug.) Jene Epoche der radikalen Ausgrenzung der vorgeblich Rückständigen aus dem ästhetischen Diskurs wurde in den 1950er-Jahren eingeläutet und ver­lief sich ab den 1990er Jahren in einem nicht enden wollenden Decrescendo – für viele Komponisten, die sich dem seriell-fragmentarischen Zeitgeist nicht beugen wollten, zu spät.

Der vor hundert Jahren, am 2. März 1921, geborene Engländer schottischer Abstammung Robert Simpson war 1951 der Musikabteilung der BBC beigetreten und galt vielen Hörern als der bedeutendste Musikvermittler nach dem legendären Donald Francis Tovey. Simpson schrieb die angelsächsischen Standardwerke über Anton Bruckner („The Essence of Bruckner“) und Carl Nielsen („Carl Nielsen – Symphonist“), wurde von dem großen Mahler-Dirigenten Jascha Horenstein hochgeschätzt und mit der ersten Einspielung eines symphonischen Werks (der 3. Symphonie) geehrt, und Simpson verdanken wir auch brillante Studien über die Musik Beet­hovens, Haydns und Sibelius’. Und er setzte sich als Produzent selbstlos für seine Kollegen ein: der greise Havergal Brian hätte wohl seine letzten 24 (von 32) Symphonien nicht mehr geschrieben ohne Simpsons Aufführungsgarantie. Zwar stimmt es, dass er im United Kingdom für die Durchsetzung der Musik Bruckners und Nielsens eine wenigs­tens so zentrale Rolle spielte wie sein geschätzter Kollege Derryck Cooke für diejenige Gustav Mahlers, doch anders als Cooke im Falle von Mahlers Zehnter sah sich Simpson zwar die vorhandenen Skizzen zum Finale von Bruckners Neunter genau an, lehnte jedoch die Anfrage wegen Vollendung kategorisch ab. Kompromisslos war Simpson nicht nur als Komponist und Musikgelehrter, sondern auch in weltanschaulichen und politischen Fragen. Aus Protest gegen den massiven Kulturabbau in der BBC trat er 1981 von seinem Posten zurück – wenige Monate vor seiner Pensionierung, damit gravierende finanzielle Einbußen in Kauf nehmend. 1980 gründete sich die Robert Simpson Society, die bis heute substanzielle Arbeit leistet. 1982 heiratete Robert Simpson, nach dem Tode seiner ersten Frau Bessie, Angela Musgrave, der er 1986 sein Hauptwerk, die Neunte Symphonie, widmete. In jenem Jahr übersiedelte er aus Protest gegen den Thatcherism nach Irland. Die katastrophale Kriegspolitik Tony Blairs von seiner geliebten Labour Party musste er nicht mehr erleben, denn nach einem Schlaganfall im Jahre 1992 – er vollendete danach nur noch 1995 sein 2. Streichquintett – starb er nach leidvollen Jahren am 21. November 1997 im irischen Tralee.

Robert Simpson war, ähnlich wie sein unbestechlicher Landsmann Frank Merrick – dessen Vollendung von Schuberts „Unvollendeter“ er als ein seltenes Beispiel gelungener Ergänzung eines klassischen Meisterwerks erkannte –, ein leidenschaftlicher Pazifist, der die Schuld an der Zuspitzung zum Kalten Krieg in Europa ebenso auf Seiten der NATO-Mächte fand wie bei der stalinistischen Sowjetunion. Als Komponist steht Simpson einmalig im historischen Kontext da. Seine Musik ist so unverkennbar, dass, wer ein paar Stücke von ihm gehört hat, wohl allenfalls einige Sekunden braucht, um zweifelsfrei zu hören, ob es sich bei einem unbekannten Werk um Simpson handelt oder nicht. Keine Musik steht dem Sentimentalen ferner als diejenige Simpsons: Weder ergibt sie sich je dem Sog stehen zu bleiben, also in einem gewonnenen Zustand zu verharren, noch geht sie der Tonschönheit, die vorkommt, aber nicht den Ausschlag gibt, auf den Leim. Es ist zwar alles immer tonal, ganz bewusst tonal in dem Sinne, dass die Intervalle und Hand in Hand damit die harmonischen Fortschreitungen unmissverständlich an menschliche Affekte gekoppelt sind, dass aus den zugrundeliegenden Quintbezügen Richtung und Entfernung des Spannungsverlaufs erlebbar sind, also nach heutiger Definition wohl am ehesten „freitonal“ (in der orthodoxen Definition wird diese Art von der klaren Dur-Moll-Verortung abweichende Tonalität nach wie vor oft als „atonal“ bezeichnet). Doch zugleich ist Simpsons Musik von kraftvollen Dissonanzen durchtränkt, die reine Konsonanz ist die Ausnahme, was der Musik meist eine schwebende, die ersehnten Auflösungen weit hinauszögernde Qualität verleiht.

Robert Simpson schreibt Musik wie ein leidenschaftlich für seine Sache entflammter Wissenschaftler. Nichts geschieht zufällig, jede Wendung ist bis ins Kleinste ausgehört und zugleich nichts weiter als eine Funktion in der übergeordneten Kette des gro­ßen Ganzen. Wie ein Architekt konstruierte er seine großen Formen, und in diesen beschenkte er die Musikwelt vor allem mit zwei großen Zyklen: mit 11 Symphonien (1951–90) und 15 Streichquartetten (1951–91). Außerdem schrieb er Konzerte für Violine, Klavier, Flöte und Cello, große Variationszyklen über Themen von Haydn (für Streichquartett bzw. Klavier), Beethoven (Klavier), Carl Nielsen (Orchester) und über die Sarabande aus der 5. Cello-Solo-Suite von Johann Sebastian Bach für Streichorchester. Gerade in letzterem Werk lässt sich die überragende Kunstfertigkeit und der unfehlbare Geschmack Simpsons exemplarisch studieren, in der Art, wie er das sich an den Grenzen tonaler Fasslichkeit bewegende Bach’sche Thema bruchlos in eine moderne Tonsprache transformiert und mit einer Fuge bekrönt, die staunen macht angesichts der linearen Spannkraft, die er der vorklassischen Form im Gefolge des späten Beethoven und seiner Nachfolger einzuhauchen vermochte. An weiterer Kammermusik hinterließ Simpson unterschiedlichst besetzte Werke vom Duo bis zum Quintett (darunter ein herrliches Horntrio in der Brahms’schen Besetzung), auch schrieb er einiges für Brass Band, und lediglich die Vokalmusik bedachte er mit nur zwei Werken: „Media morte in vita sumus“ (in Umkehrung von „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – denselben Text hat später der wunderbare schwedische Komponist Håkan Larsson noch einmal vertont) und das humoristische „Tempi“ – und diese beiden Werke sind eigentlich auch eher instrumental erdacht. Simpsons alles andere als plakativer Humor kommt auch in seinem Klavierkonzert für John Ogdon zum Ausdruck, das den Hütern des Avantgarde-Grals 1967 wohl wie offen wohlklingender Spott vorgekommen sein muss – was auch in Simpsons Schaffen eine brillante Extremposition markierte.

Die Ausdrucksbreite der Musik Robert Simpsons ist sehr umfassend, sie reicht von intimster Zärtlichkeit (nie auch nur ansatzweise heimelig oder kitschig) bis zu schroffster Gewaltentfesselung (doch wenn auch noch so harsch und heftig: nie außer Kontrolle!), und er verstand es wie nur ganz wenige, aus einem Minimum an Material gigantische Klangkathedralen zu errichten, weiträumige Steigerungen in der Nachfolge Bruckners aufzubauen, die in Clashs aufgipfeln, die an tektonische Plattenverschiebungen gemahnen. Simpson liebte die Astronomie und die damit verbundenen unantastbaren Gesetzmäßigkeiten, die er auch in der Musik fand. Als Höhepunkt seines eigenen Schaffens betrachtete er seine 1986 vollendete, konsequent quintabwärts modulierende Neunte Symphonie, die in einem einzigen 50-minütigen Satz die Abfolge langsam-schnell-langsam in durch keinen Wechsel der Binnengeschwindigkeit unterbrochener, durchgehender Bewegung umschließt, der einleitende Teil eine Art Bach-Hommage in Form eines gigantischen Choralvorspiels, der zweite Teil ein wild herausfahrendes Scherzo mit Beethoven-Elementen, das Finale ein palindromisches Variieren mit einer Bruckner heraufbeschwörenden, unaufhaltsam anwachsenden Steigerung. Ähnlich in der Form, nur weit knapper, ist das gleichfalls einsätzige Siebte Streichquartett von 1977. Aber es lohnt sich hier wirklich, alles anzuhören! Doch wie? Alle CD-Einspielungen (die kompletten Symphonien und Streichquartette sowie Weiteres) bei Hyperion sind vergriffen und nur noch als Download verfügbar (hyperion-records.co.uk). Nur das späte Cellokonzert und historische Mitschnitte der 5. und 6. Symphonie sind derzeit bei Lyrita (Vertrieb: Naxos) erhältlich. Und zum Glück gibt es noch einiges, was der Ersteinspielung harrt und reizvolle Aufgaben bereithält, so etwa das Flötenkonzert (1989), das Klaviertrio (1988–89) oder das Trio für Klarinette, Cello und Klavier (1967). Also nichts wie ran …

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!