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Wenn zu Liberté auch noch Diversité kommt, dann ist Bizets Oper „Carmen“ wieder einmal in der Gegenwart angekommen. Unser Bild zeigt Chor und Bundesjugend­orchester im Schloss Weikersheim. Foto: JMD
Wenn zu Liberté auch noch Diversité kommt, dann ist Bizets Oper „Carmen“ wieder einmal in der Gegenwart angekommen. Unser Bild zeigt Chor und Bundesjugend­orchester im Schloss Weikersheim. Foto: JMD
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Liberté und Diversité

Untertitel
Bizets „Carmen“ bei der Jungen Oper Schloss Weikersheim
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Zu Beginn dieser „Carmen“ im Weikersheimer Schlosshof kommt die Titelfigur ganz allein auf die Bühne und singt a capella ein arabisches Schlaflied, bevor das Orchester einsetzt: eine berührende und innige Szene. Sie trägt einen Rucksack, scheinbar ist sie auf dem Weg und will nicht bleiben. Oder ist sie auf der Flucht? „Liberté“ sprüht sie als Graffito an eine Holzwand und gibt dem Geschehen, das nun folgt, damit schon einmal die zentrale Überschrift. Ihre Freiheit ist ihr zuletzt wichtiger als das Leben.

Die zarte junge Frau (an diesem Ab­end spielt Julia Werner) hat wenig von der verführerischen Aura, die wir laut Libretto und Kenntnis anderer Inszenierungen erwarten dürfen. Sie wirkt über weite Teile des Geschehens fast unnahbar, scheint selbst überrascht von der Wirkung, die sie auf die sie begehrenden Männer ausübt, wirkt aber auf diese unerwartete Weise stimmig. Häufig wendet sie sich von den Männern, die sie doch zu lieben behauptet, ab. Eine innige körperliche Berührung findet allenfalls mit anderen Frauen, (nur?) Freundinnen statt. Immerhin geht es in dieser Inszenierung von Björn Reinke neben „liberté“ sehr deutlich auch um „diversité“. Die Schmuggler sind – laut Programmheft – gar keine solchen, sondern künstlerische Aktivisten. Diversität wird von diesen per Transparent gefordert, Regenbogenfarben schmücken das eine oder andere Kostüm, die „Nicht-Schmuggler“ Dancaïro und Remendado sind deutlich erkennbar schwul. So weit, so gut.

Leider wirkt die Inszenierung über weite Teile statisch. Der internationale Projektchor, bestehend aus jungen Musikstudierenden und Chorsänger/-innen, bewegt sich zu Beginn kaum, spielt sich allerdings langsam warm und hat gegen Ende der Aufführung mehr und mehr Spaß am Szenischen. Aus der insgesamt vorherrschenden Unbewegtheit sticht das Quartett aus Dancaïro (Gideon Henska), Remendado (Kyoungloul Kim), Mercédès (Magdalena Hinz) und Frasquita (Lisa Gaiselmann) hervor, das seine Szenen mit großer Spielfreude, gleichzeitig musikalisch gelungen, gestaltet und Frische in diese Aufführung bringt. Insgesamt aber hätten die jungen Sängerinnen und Sänger, die hier in Weikersheim die Gelegenheit bekommen, eine große Oper auf hohem Niveau zu erarbeiten und aufzuführen, sicher das Potenzial, mehr von dem zu zeigen, was auch schauspielerisch in ihnen steckt – und geweckt hätte werden wollen. Die Ideen, die Reinke im Programmheft zur Grundlage seiner Regiearbeit erklärt und die vor allem auf Werken des Streetartkünstlers Banksy beruhen, setzen sich auf der Bühne nicht wirklich erkennbar um. Schade!

Umso größer der Genuss der musikalischen Seite des Abends. Wenn das Bundesjugendorchester in Weikersheim spielt, darf man sich immer auf hohe Qualität freuen: so sensibel (trotz sicher nicht ganz einfacher akustischer Gegebenheiten im Schlosshof), so dynamisch differenziert, so engagiert spielen diese jungen Musiker unter der Leitung von Elias Grandy, dass es eine Freude ist. Die Solist/-innen singen fast durchgehend auf sehr hohem Niveau: Julia Werner gibt die Carmen zart, aber mit höchst ausdrucksvoller Stimme; großartig auch Leo Jaewon Jung als Don José, der in seiner Blumenarie so innig wird, dass man ihm trotz darstellerischer Schwächen seine Gefühle für Carmen glaubt. Eine absolute Wucht ist Silvia Sequeira als Micaela. Sie verzaubert an diesem Abend die Herzen der Zuschauer. Als vielleicht einzige Figur, die in dieser Oper wirklich und dauerhaft liebt, kommt sie zunächst – in rosa Kleid und altmodischer Handtasche – eher „tümelnd“ daher, entwickelt aber musikalisch so viel Ausdruckskraft und Innigkeit, dass sie der eigentliche Star des Abends ist. Einzig Hao Wen als Escamillo fällt im Vergleich dazu ein wenig ab. Die spielerische Starrheit überträgt sich hier auch auf die Musik. Sehr gelungen ist die Lichtregie, die mit der zunehmenden Dunkelheit, mit Schatten an den Schlosswänden und Beleuchtung unter der Bühne spielt.

Trotz aller Unwägbarkeiten und zusätzlichem organisatorischen Aufwand hat die Jeunesses Musicales an der Realisierung des diesjährigen Opernprojektes festgehalten: Alle zwei Jahre werden junge Sängerinnen und Sänger, am Ende ihres Studiums oder im ersten Engagement eingeladen, intensiv mit einem ganzen Team aus erfahrenen Musiktheater-Profis ein Werk zu erarbeiten. In der besonderen Atmosphäre des Hohenlohischen Schlosshofes haben schon viele Menschen unvergessliche Opernabende erlebt. In diesem Jahr waren es pandemiebedingt weniger; der Schlussapplaus allerdings ließ volle Ränge vermuten. Dass Musikgenuss (derzeit) wieder möglich ist – und dann in solcher Kulisse und so anspruchsvoll, ist per se ein Gewinn. Glückwunsch an die Beteiligten und an die Jeunesses Musicales Deutschland, dass sie durchgehalten und den Menschen diesen Abend geschenkt haben.

 

 

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