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Mit Musik lernen, unsere Welt (wieder) zu verstehen

Untertitel
Zur gegenwärtigen Situation des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen · Von Jürgen Oberschmidt
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„Leere Herzen“ heißt der Roman von Juli Zeh, in dem sie bereits 2017 eine Social-Distance-Gesellschaft beschreibt, eine pragmatisch und nüchtern handelnde Gesellschaft einer nahenden Zukunft, die nicht erst in unseren ansteckenden Zeiten zur Gegenwart geworden ist. Wir verdursten an innerer Leere, vor allem jene, die feststellen, dass sich die Würde des Menschen nicht nur über Frisörbesuche definieren oder wiederherstellen lässt. Leer sind die Herzen, seit die Gesundheitsgefahren des Singens hinaufbeschworen wurden, leer sind die Herzen, weil es auf all den kleinen und großen Bühnen des Lebens still geworden ist.

Natürlich fehlt uns auch in den Schulen das Live-Erlebnis des gemeinsamen Singens und Musizierens, im Unterricht wie in den schulischen Ensembles; es fehlt uns die direkte Begegnung mit Gleichgesinnten und ein lebendiger Austausch mit Andersdenkenden, Sinn des Sozialen und Zweck aller Bildung. Doch der Musikunterricht an den Schulen lebt, wenn wir ihn denn leben lassen. Natürlich ist er in manchen Dingen ärmer, in vielen aber auch reicher geworden: Wir erleben ihn als Präsenzunterricht unter Berücksichtigung der jeweils geltenden Abstands- und Hygieneregeln, erfahren ihn mit fantasievollen Aufgabenstellungen in digitalen und hybriden Lernformen, wie in kreativen Aufgabenformaten, die auch zu Hause eigenverantwortlich gelöst werden können. Für manche von uns bedeutet dies ein Neudenken, aber das gilt wohl für die Kolleginnen und Kollegen aller Fächer.

Insgesamt erscheint uns die Situation in den Schulen unbefriedigend. Liegt es einzig an einer uns fehlenden leibhaftigen Auseinandersetzung im Unterricht, wenn in manchen Fächern der Unterricht zum stupiden Päckchenrechnen und stumpfen Abarbeiten der Wochenaufgaben verkommt? Die Schuld soll hier nicht bei jenen gesucht werden, die ihren Amtseid darauf geschworen haben, sich getreu in ein Schulsystem eines solchen Standardisierens und industriellen Normierens einzufinden. Diese Erkenntnis ist nicht neu: In der Schule werden Kinder zu kleinen Erwachsenen dressiert, abgerichtet für eine Zukunft, wie wir sie uns gestern vorgestellt haben. Eltern, die ihre Kinder nun im gemeinsamen Homeoffice begegnen, vermuten diese auf dem Weg der Erkenntnis und müssen erleben, wie sie sich nun in diesen zweifelhaften Routinearbeiten verstricken. Deutlich wird, wie Schule hier Probleme hervorbringt, die sie eigentlich zu überwinden glaubte. Und blicken wir über den Tellerrand der Schule hinaus, sollten wir alle längst gemerkt haben, dass unsere augenblickliche pandemische Krise auch längst eine Krise des Geistes ist!

Neustart Schule?

Inzwischen sind die Wegmarken für ein schulisches Reset klar gesetzt. Es gilt, möglichst schnell zurückzukehren in den alten Kosmos der ausgemachten Dinge: Zurück in den Präsenzunterricht des alten Lageplans, erst halbe und dann ganze Klassen. Den Fahrplan geben uns die sich berufen fühlenden Bildungsforscher bereits vor: „Die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik sind prägend und zentral für die berufliche Karriere. Und dann muss man in dieser besonderen Zeit auch mal die Kröte schlucken, dass man auf einzelne Fächer verzichtet.“ (Prof. Dr. Olaf Köller auf www.zdf.de vom 30.01.2021) Erläutert und präzisiert wird dieser Weg zurück in einem Interview der „Welt“ (03.01.2021). Hier wendet Olaf Köller ein, dass man auf Fächer wie Musik, Religion oder Sachunterricht verzichten müsse. Heiligt der Zweck nun alle Mittel? Wer hier nun beschwichtigen und um Geduld bitten möchte, und dabei so tut, als ginge es hier lediglich um eine pandemiebedingte Fas­tenzeit zur Vorbereitung eines irgendwann wiederkehrenden musikalischen Hochamts, der verkennt, wie diese Vorgaben mit ihren ökonomischen Imperativen uns in den letzten zwei Jahrzehnten bereits begleitet haben. Wir sprechen zwar von Bildung (und manche beschwören gar noch den humboldtschen Bildungsbegriff), meinen aber eine Ausbildung, die unsere Kinder kompetenzorientiert und eben methodenkonzentriert auf ein festgelegtes Ziel abrichtet: Das heißt, unsere Kinder wissen im Vorhinein, wie sie dieses auferlegte Ziel ohne Umwege erreichen können, sonst wären sie schließlich nicht kompetent. Als he­ranzuziehende Wissenschaftler stellen diese dann später Forschungsfragen mit vorgemeißelten Hypothesen und benutzen dabei den stets mitzuliefernden Methodenkoffer. In pandemiebedingten Zeiten müssen wir nun lernen, dass die komplexen Zusammenhänge unserer Welt nicht so einfach funktionieren. Wir fühlen uns von solch einer Wissenschaft im Stich gelassen, suchen nach Wahrheiten, finden nur Meinungen und haben in einem mühsamen Prozess wieder neu lernen müssen, dass manch ein Zweifel heiliger sein kann als die Wahrheit. Wenn wir sehen, wie Experten sich reiben, fangen wir auch an, untereinander zu streiten – und viele von uns glauben recht zu haben, bevor sie dabei zu denken beginnen.

Es scheint, als wolle Olaf Köller uns mit seinen Aussagen zum Ursprung der von ihm bemühten Redensart über den Verzehr von Froschlurchen zurückführen: „Wenn man durchs Leben kommen will, müsste man eigentlich jeden Morgen eine Kröte schlucken. Dann kann man einigermaßen sicher sein, dass einem tagsüber nichts Ekelhafteres mehr über die Zunge läuft“, so heißt es im Theaterstück „Die Morgenkröte“ von Viktor Dyk. Den Ernst des Lebens gilt es bereits in der Schule zu erfahren, oder anders gesprochen: In der Schule gilt es eine Kröte zu schlucken, um so vor allen Widerfährnissen des öden Seins gewappnet zu sein.

Warum Musikunterricht?

Die Legitimation des Musikunterrichts begnügt sich nicht in den hier bereits angedeuteten monokausalen Erklärungen, etwa dem nachgewiesenen Einfluss auf kognitive Fähigkeiten. Sie beschränkt sich nicht auf bauartbedingte Wirkmechanismen, die mit jeder Ode an die Freude auch alle Menschen zu Brüdern werden lassen. Genauso wenig ließe sich Religionsunterricht durch einen erhofften Rückgang der Kaufhausdiebstähle rechtfertigen. Gerade unsere augenblicklichen Zwänge erfordern eine gründliche Besinnung auf die jeweiligen Nöte und einen sorgsamen Umgang mit den daraus resultierenden Notwendigkeiten. Wer monokausal denkt, der mag Verzicht üben, um sich die Musik für bessere Zeiten aufzuheben. Musik ist aber kein solches Luxusgut, auf das schöngeistige Seelen wie auf einen Mallorcaurlaub verzichten können, um sie dann zu gegebener Zeit aus ihrem Versteck hervorholen zu können. Musik ist kein Genussmittel, Musik ist lebens- und gesellschaftsrelevant – und damit in jedem Fall ein „Kernfach“!

Niklas Luhmann definiert Kunst als „Ergebnis gezielter menschlicher Tätigkeit, die nicht eindeutig nach Funktionen festgelegt ist“. Das ist ein klarer Hinweis, dass Kunst für das hier beschriebene System der Zweckbestimmungen nicht relevant ist und auch nicht sein möchte. Und die Wissensgesellschaft, die wir in unserer Welt automatisierter Dienstleistungen brauchen, ist längst eine andere, erfordert ein anderes System. Um diese Ansicht zu vertreten, wollen wir nun nicht die Musen als Lobbyisten der Künste sprechen lassen. Die Suche nach Erkenntnis soll uns zum chinesischen Multimilliardär Jack Ma, dem Gründer der weltgrößten Onlineplattform Ali Baba, führen, der dieses Problem in seiner eindrucksvollen Rede auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2018 deutlich benannt hat: „Wir Menschen müssen uns von Maschinen unterscheiden: Wir müssen uns weiterentwickeln. Was wir dazu brauchen ist die Kunst, die Musik, der Sport. Alles was Maschinen mittlerweile besser können, sollten wir ihnen überlassen.“ Jack Mas Eltern waren übrigens Musiker und Geschichtenerzähler, die das traditionelle Tinkpan praktizierten, eine sprechende und singende Kunst, um sich selbst und anderen die Welt zu erklären. Diesen Weltzugang haben sie mit Erfolg an ihren Sohn weitergegeben. Wenn wir zukunftsfähig bleiben wollen brauchen wir solche kreativen Querdenker – und zwar im besten Sinne des Wortes. Denn wer einen Stock durch eine Tür tragen möchte, der muss ihn zu drehen wissen!

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat 2019 auf ihrer Konferenz in Vancouver einen Lernkompass 2030 als neues Rahmenkonzept des Lernens vorgestellt, das diese Aussagen bestätigt: „Es werden unsere Vorstellungskraft, unser Bewusstsein und unser Verantwortungsgefühl sein, die uns helfen werden, Technologien zu nutzen, um die Welt zum Besseren zu gestalten. Erfolg in der Bildung heißt heute nicht nur Sprache, Mathematik oder Geschichte, sondern ebenso Identität, Handlungsfähigkeit und Sinnhaftigkeit. Es geht darum, Neugier und Wissensdurst zu wecken, den Intellekt für Neues zu öffnen. Es geht um Mitgefühl, darum, die Herzen zu öffnen. Es geht um Mut, um die Fähigkeit, unsere kognitiven Ressourcen zu mobilisieren. Das werden auch die besten Mittel gegen die Bedrohungen unserer Zeit sein: die Ignoranz – der verschlossene Verstand, der Hass – das verschlossene Herz – und die Angst – der Feind der Handlungsfähigkeit.“ Es wäre schön, wenn diese Botschaft in der Schule angekommen wäre, und von jenen gelesen würde, die meinen, ihre vorhandenen Konzepte der Beschulung des zukünftigen Humankapitals neu zuschneiden zu müssen. Ihnen sei die Conclusio des OECD Lernkompass 2030 noch einmal ans Herz gelegt: „Bis heute kennt die Forschung nichts, das die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern in vergleichbarer Weise fördert wie der Musik- und Kunstunterricht.“

Kunst ist ein Mutationserlebnis!

In der Kunst kennt man keine stromlinienförmigen Prozesse. Kunst legt die Welt nicht nach vorgegebenen Mustern ab, sondern stellt sich diesen in gebotener Weise entgegen: Jedes Werk Ludwig van Beethovens ist eine neue Mutante eines vorgängigen Formkonzeptes, etwas Neues mit abweichenden Merkmalausprägungen. Mit solchen Evaluationsfaktoren fasziniert uns diese Musik bis heute! Beethovens Klaviersonate op. 111 begleitete Dietrich Bonhoeffer in seinen dunkelsten Stunden, sein schriftliches Zeugnis berichtet davon, wie diese Musik in der Gefängniszelle in seiner inneren Vorstellung erklingen konnte. Bonhoeffer hat seine Gedanken in Versform gebracht, die nach seinem Tod in Musik gefasst wurden. Hier schenken sie uns bis heute Hoffnung und Zuversicht. Solch einen inneren Besitz aus jenen musikalischen Praxen anzulegen, die unsere Kinder und Jugendlichen heute berühren oder von denen sie sich berühren lassen, ist eine zentrale Bildungsaufgabe der Schule!

„Aisthesis“ nannten die Griechen dieses zu bildende Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen, ohne Musik wäre ein solches gar nicht möglich, wäre alles Leben kein Leben, sondern frei nach Nietzsche ein Irrtum. Beginnen tut das, was das Leben erst lebenswert macht, bereits im Säuglingsalter und es festigt sich in allen weiteren Lebensphasen. Dies gilt gerade auch für den Umgang mit Menschen, die eine uns fremde Sprache sprechen, weil wir sie in unserem Land erst noch willkommen heißen. Musik begleitet uns bis ins hohe Alter, und wenn sich Demenzkranke langsam in ein ewiges Dunkel verabschieden, bleibt das Singen ihrer Kinder- und Jugenderinnerungen ihr einzig verbleibender Zugang zu unserer Welt. Musik ist für uns alle unverzichtbar, weil uns ohne ein Artikulieren der Künste jedes Hören und Sehen vergeht. Nur in der Musik erreichen wir solch eine humanisierende und kommunizierende Tiefe, in der wir als ganze Menschen wurzeln. Musik rührt, erschüttert, wandelt, bildet.

Unseren Kindern und Jugendlichen mussten wir in den letzten Monaten viel zumuten. Viele fühlten sich allein gelassen, sie verkümmerten ohne die gewohnten sozialen Kontakte, verzichteten auf alles, was außerhalb der oft nicht einmal vorhandenen eigenen vier Wände das Leben für sie erst lebenswert macht. Die Musik dürfen wir ihnen jetzt nicht auch noch wegnehmen. Wir brauchen den Musikunterricht, wir brauchen die schulische Ensemblearbeit, wir brauchen die Künste für die Herausbildung ihrer Persönlichkeit. Wir brauchen die Kunst für die Herstellung einer Welt, in der es zu leben lohnt!

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